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Am nächsten Nachmittag hatten sich einige Verwandte im Weltsödener Gartensaal zum Tee eingefunden, als Graf und Gräfin Helmstedt gemeldet wurden. Und wie Ilse die Gräfin nun wirklich eintreten sah, hatte sie das Gefühl: dies ist ein Erlebnis. Sie empfand für sie sofort jene mit Scheu gemischte Bewunderung, die ganz junge Mädchen gerade für ältere Frauen bisweilen hegen. An die Jahre, die Gräfin Helmstedt zählen mochte, dachte freilich niemand bei ihrem Anblick. Sie war wie jemand, der vielleicht nie sehr jung gewesen und sicher nie sehr alt erscheinen würde. Ihr volles duftiges Haar schimmerte bisweilen grau, doch konnte man es ebensogut für ein unbestimmtes Blond halten, und neben den bunten Waschblusen und derben Sergeröcken der anderen Damen schien, was sie trug, kein wirkliches Kleid zu sein. »Gewänder« war das Wort, das Ilse einfiel. Und auch darin hatte sie etwas Zeitloses.
Die langstielige Lorgnette vor die Augen haltend, die zwischen lang bewimperten, halb geschlossenen Lidern blinzelten, kam sie von weitem auf Ilse zu. Doch wie sie nun, vor ihr stehend, die Augen plötzlich aufschlug, waren diese so klar und leuchtend, daß die Lorgnette nur noch ein Spielzeug der weißen Hände mit den Perlenringen schien.
»Also nun seh ich Sie endlich,« sagte die Gräfin, »Wolf Walden hat mich nämlich ganz begierig gemacht, er schrieb so viel von Ihnen.«
»Von mir?« fragte Ilse erstaunt, »aber er hat mich ja kaum gesehen. Meinen Mann freilich kennt er schon lange.«
»Ja, das kömmt vor, daß man den Mann lange kennt und doch mehr über die Frau schreibt,« antwortete die Gräfin mit einem leicht perlenden Lachen, das den Eindruck machte, als glitte es mit verständnisvoller Nachsicht über alle Vorkommnisse des Lebens dahin. »Er fragte in seinem letzten Briefe, ob ich Sie kennen gelernt hätte – ja, und nun möcht ich Sie wirklich kennen lernen.«
Die Gräfin hatte in allem, was sie tat, die selbstverständliche Souveränität von Frauen, die viel gefeiert worden sind. Als sich bald darauf die ganze Gesellschaft vom Saal in den Garten begab, um die ersten Tulpen zu sehen, schritt sie neben Ilse durch die mit Buchsbaum eingefaßten Kieswege. Und Ilse wußte nicht recht, wie es zuging, aber sie hatte dieser fremden Frau bald all die Einzelheiten ihres Daseins anvertraut, während sie sprach, empfand sie, welche Wohltat es war, so reden zu können, und daß sie sich solche Aussprache wohl schon längst gewünscht haben mußte. Sogar von den Büchern droben in der Bodenkammer erzählte sie. Die Gräfin kannte all die Werke, die Ilse nannte; sie hörte mit nachsichtigem Lächeln ihre glühende Schilderung der allen Hindernissen zum Trotz glücksuchenden Heldinnen Georges Sands, und dann sagte sie milde: »Ja, ja, davon träumen einmal wohl alle armen Kettenträger – und wen die Götter lieben, dem erfüllen sie den Traum – aber sie lassen auch manchen dran zugrunde gehen.« Dann brach sie ab und sagte mit plötzlicher Lebhaftigkeit: »Aber nun erzählen Sie mir vor allem von Ihrer Musik – denn Sie, eine Enkelin von Ingeborg Thor Hacken müssen ja ein ganz besonders begnadetes Menschenkind sein! Sie singen doch natürlich?«
Ilse errötete, sie wußte ja nun längst, daß die Zehrens ihr diese Großmutter nie verziehen hatten, diese längst verstorbene Großmutter, die sich ein kunst- und schönheitsbegeisterter Sprosse fürstlichen Geblüts als einzige »Tat« seines Lebens mit der linken Hand von der Oper fortgeholt hatte. Es war seltsam, nun plötzlich eine so andere Bewertung kennen zu lernen, zu erleben, daß der Name dieser Großmutter, der von den Zehrens behandelt wurde, wie ein unvertilgbarer Rostfleck auf einem Tischtuch, den man durch Blumen oder Konfektschalen scheu verbirgt, von der Gräfin laut gerühmt wurde, als gäbe er der Enkelin ein Anrecht, zu den besonders Begünstigten des Lebens zu gehören! Und Ilse antwortete: »Als Kind habe ich sehr viel Klavier gespielt und auch immerzu gesungen, so ganz von selbst – und Papa sagte, wenn ich erst alt genug sei, solle ich auch Gesangunterricht erhalten – aber – da hab ich mich ja verheiratet.«
Es klang so herzbrechend traurig, als ob ein armes Mäuschen piepste: da fiel die Fallentür hinter mir zu, dachte die Gräfin. Und sie sagte eifrig: »Das ist aber doch kein Grund, nicht jetzt mit dem Singen anzufangen. Ich bin ja ganz sicher, es steckt Talent in Ihnen. Wir werden es probieren und ausbilden. Kaliwoda ist jetzt für einige Zeit bei uns, und Lydia Neuland, die sollen Ihnen Unterricht geben. Sie müssen recht viel zu mir kommen.«
Die ganze Gesellschaft war nun bei dem Rondel angelangt, wo um alte Sandsteinfiguren die flammenden Tulpen in großen Beeten blühten. Und Gräfin Helmstedt wandte sich zu Theophil: »Nicht wahr, Sie erlauben mir, Ihnen Ihre Frau diesen Sommer manchmal zu entführen?« und sich an seine Mutter richtend, sagte sie: »Töchterlose Frauen wie ich sind auf Anleihen angewiesen.«
Theophil fühlte sich geschmeichelt, denn wenn man auch über Gräfin Helmstedt gern klatschte, so lag vor allem doch viel Neid in dem, was man über sie vorbrachte. Es ließ sich ja nicht fortleugnen, daß sie eine Frau war, die eine Rolle in der Welt gespielt hatte, die an jedem Hofe bekannt war und mit allen Berühmtheiten in Verkehr stand. Von ihr bemerkt zu werden, war immerhin eine Auszeichnung. Darum verzog auch Mechtild den Mund bittersüß: Es wäre doch natürlicher gewesen, wenn Gräfin Helmstedt bei diesem plötzlichen Wunsch nach töchterlichem Anschluß an eine ihrer neun Mädchen gedacht hätte! Während wiederum Frau von Werbach-Stolfitten, geborene von Zehren, sich sagte, daß von allen jungen Damen der Verwandtschaft für die kunstenthusiastische Gräfin doch nur ihre Gabriele hätte in Betracht kommen können, die die Begebenheiten des Familienlebens in so artige Verse zu bringen wußte. – Allerhand Begierden waren in diesen mütterlichen Herzen wach geworden durch der Gräfin Worte. Sie war bisher keiner der Damen in der möglichen Rolle einer gutmütigen Tante erschienen, in deren Hause die Mädels gratis erstklassige Musikstunden ergattern konnten. Warum aber sollte nun gerade Cousine Ilse solche Vorteile genießen? Cousine Ilse, die ja schon einen Mann hatte, wodurch an sich Musikstunden doch wirklich überflüssig wurden, und die obendrein diesen anfechtbaren Stammbaum besaß und sich nicht einmal beeilte, ihre erste und wichtigste Frauenpflicht zum Fortbestand der Familie zu erfüllen.
Später auf der Rückfahrt nach Frohhausen sprach Gräfin Helmstedt dann mit Lebhaftigkeit über Ilse, während ihr Mann ihr mit derselben liebevollen Bewunderung zuhörte, die er vor zwanzig Jahren für sie empfunden hatte, damals, als sich jener Roman zwischen ihnen Zutrug, über den noch heute die Edeldamen des Kreises Sandhagen sich gerne gruselnd unterhielten.
»Wir müssen diesem armen Kinde beistehen,« sagte die Gräfin.
»Ja, wir müssen,« antwortete er, ihren überzeugten Ton nachahmend, »denn das ist nun einmal deine Spezialität, Gisi! Du hast sicher irgendein Tröpfchen von Don Quichotes Blut in den Adern und erblickst überall Unterdrückte, denen du helfen mußt.«
»Es ist ein Abtragen eigener Glücksschuld, Ludwig,« sagte sie leise, »und diese kleine Ilse tut mir nun mal gar zu leid – sie sieht ja so erschrocken aus wie ein Elfchen, das zwischen lauter Ichthyosauren verirrt wäre.«
»Und das hätte dann doch wenigstens Flügel und könnte davon,« antwortete ihr Mann.
»Ja, die kann ich ihr freilich nicht geben,« sagte die Gräfin, »aber wenigstens soll sie oft zu uns kommen – weißt du, sie erinnerte mich beinahe schmerzlich an mich selbst, wie ich war, damals, ehe ich dich kannte.«
In dem Wagen stahl sich ihre Hand in die seine, als wären sie zwei junge Liebesleute.
»Dann aber wuchsen dir die Flügel,« sagte er.
»Die schenktest du mir ja,« antwortete sie, »daß ich mit dir könnte.«
»Und du hast es nie bereut –? –« Es sollte eine Frage sein, aber er war ihrer Antwort so sicher, daß es mehr wie eine dankbare Behauptung klang.
Sie antwortete auch gar nicht, sondern lachte nur ihr leise perlendes Lachen.
»So wenig bereut,« fragte er nun, »daß du sogar dasselbe Erleben einer anderen wünschen würdest?«
»Ja,« antwortete sie ohne Besinnen, »wenn der andere wie du wäre.«
Sie lachten nun beide, und der Graf sagte, indem er auf die flache nüchterne Gegend wies, aus deren sandigem Boden es spärlich sprießte: »Ich glaube etwas an den Einfluß der Umgebung auf die Erlebnisse – wir beide trafen uns in Griechenland – hier in dieser Gegend muß man sehr sicher sein vor allen befreienden Begebenheiten.«
»Ja, Kummerfelde, Sorgental, und wie die Orte alle heißen – das klingt freilich nicht nach Flügelwachsen! – Wie verschieden, Ludwig, müssen doch deine Vorfahren von den Zehrenschen gewesen sein! Ganz zur selben Zeit, nach dem dreißigjährigen Kriege, bauten sich eure beiden Ahnherren hier wieder an, der eine nannte sein Haus Weltsöden, der andere aber schuf sich unser liebes Frohhausen!«
»Er ahnte vielleicht dein einstmaliges Kommen, Gisi – und all das Beste hier hast doch du geschaffen!«
Der Wagen verließ nun die Landstraße. Durch das weit geöffnete Tor, über dem die alte schmiedeeiserne Laterne hing, fuhr er, vorbei an den beiden niedrigen Pförtnerhäuschen mit den hohen abgesetzten Dächern und bog in die lange Allee uralter Linden. Ganz am Ende, über der ansteigenden Rampe, schimmerte lockend das weiße Schloß.