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Gräfin Helmstedt gehörte zu den Menschen, deren Wünsche immer durch äußere Begebenheiten gefördert werden. So erfüllte sich auch ihr Wunsch, Ilse häufig bei sich zu sehen, ganz von selbst. Theophils Mutter, die vielleicht einen ihr allzu intim dünkenden Verkehr verhindert hätte, wurde zu ihrer plötzlich schwer erkrankten Schwester berufen; sie war zwar eine der Frauen, die über dem Verwandtenkreise des Mannes ganz den eigenen vernachlässigen, aber dieser Depesche der Schwester mußte sie folgen. Nach eindringlichen Ermahnungen an die alte erfahrene Mamsell, nur ja nicht das rechtzeitige Einmachen von grünem Stachelbeermus zu vergessen, und Anweisungen an den langjährigen Gärtner, über die Zeitabstände, in denen Erbsen und Bohnen gelegt werden sollten, und unter völliger Übergehung der Schwiegertochter bei all diesen Anordnungen fuhr sie seufzend ab – im Gefühl, die Weltsödener Wirtschaft allerhand tückischen Gefahren zu überlassen.
Ilse hätte nun eigentlich gern gezeigt, was sie konnte, und vielleicht auch an diesem ersten selbständigen Walten Freude gefunden, aber es gab gar keine Gelegenheiten zum Eingreifen in diesen seit vielen Jahren einer regelmäßigen Routine folgenden Haushalt. Die junge Frau des Besitzers war ein Gast im Hause und nicht mal ein sonderlich hoch bewerteter. Denn wenn auch der Zauber ihrer allzu zarten Schönheit bisweilen auf diesen oder jenen wirkte, und besonders der Gärtner sie oft anschaute, wie eine der fremdländischen Blumen, mit denen er sich so viel mehr Mühe wie mit den landläufigen Pflanzen geben mußte, so wußte man doch längst in Hof und Haus, daß neben der alten Gnädigen die junge nur eine sehr geringe Autorität war. Und all diese überaus einfach und natürlich empfindenden Menschen achteten ja auch in jeder Frau hauptsächlich nur die Mutter.
Vielleicht hätten Theophil und Ilse nun in dieser ersten Zeit längeren, ungestörten Zusammenseins den Weg zueinander noch zurückfinden können, aber dieser Weg war doch wohl schon allzu weit geworden, und gar zu viel trennende Hindernisse lagen darauf. Ganz zu Anfang, wenn Theophil Ansichten aussprach, die Ilses Überzeugungen entgegengingen, hatte sie pochenden Herzens, aber mit einer seltsamen Tapferkeit widersprochen: nicht aus Rechthaberei, sondern weil sie noch den Wunsch und die Hoffnung hegte, mit ihm zur Verständigung zu kommen. Da hatte sie Theophil aber kopfschüttelnd angesehen und dozierend gesagt: »Du erstaunst mich, liebes Kind, durch dies förmliche Suchen nach eigenen, mir widersprechenden Einwänden. Du solltest dir doch sagen, daß ich nur dein Bestes will, und daß es vom Herrn also gefügt ist, daß du dich wie meinem physischen Schutz so auch meiner geistigen Führung anvertrauen sollst.«
Diesen anfänglichen Wortgefechten trachtete Ilse nun schon längst aus dem Wege zu gehen, und sie war während der letzten Monate sehr still geworden, weil sie einzusehen begann, daß ihre wohlgemeinten Aussprachsversuche doch zu nichts führten. Theophil dagegen, der in diesem neuerlichen Schweigen weniger die der Frau wohl anstehende Selbstauslöschung zu erkennen glaubte, wie vielmehr ein Beharren in verborgenem Trotze, stellte nun oft absichtlich Behauptungen auf, von denen er ahnte, daß sie ihr widerstreben mußten. Es machte ihm denselben Spaß, sie zu Entgegnungen zu reizen, wie junge Hunde zu necken, bis diese zuschnappten, worauf er ihnen dann einen erzieherischen Klaps auf die Schnauze zu versetzen pflegte. Ließ sich Ilse aber wirklich zu einer widersprechenden Äußerung verleiten, so seufzte er gekränkt und sagte verweisend: »Die Insubordination liegt dir offenbar im Blute,« was eine Anspielung auf Ilses fürstlichen Großvater und musikalische Großmutter sein sollte, die sich so eigenwillig einst ihren Lebensweg gebahnt. Theophil strafte Ilse dann, indem er tagelang gar nicht mehr mit ihr sprach, und es konnte dabei vorkommen, daß er überhaupt vergessen hatte, was eigentlich der ursprüngliche Anlaß zu seiner Mißbilligung gewesen war.
Aus diesen zuerst einzelnen Anlässen ging dann allmählich eine dauernde Wandlung in ihrem Verkehre hervor. Mehr denn je verbrachte Theophil jetzt seine Morgen auf dem Felde, in den Ställen und dem Walde, von dem ererbten Mißtrauen geplagt, daß Rumkehr und Treumann strengster Beaufsichtigung bedürften. Heiß und müde kehrte er heim zum Mittagessen, bei dem er die während seiner Morgenwanderungen eingetroffenen Zeitungen und Briefschaften las.
Nachher zog er sich mit der Zigarre in sein Arbeitszimmer zurück, zu kurzem Schlaf und umständlicher Erledigung der verschiedenen Eingänge; danach ging er wieder aus bis zum Abend. Auch während der von Ilse so sehr gefürchteten Stunden in dem braunen mit Straminstickereien gezierten Zimmer, blieb er jetzt meist kühl und zerstreut – es war, als habe das Erzwingen eigenen Willens allmählich an Reiz verloren. Häufiger als früher benutzte Theophil alle Anlässe, in die Kreisstadt zu fahren, für deren Honoratioren der Besitzer von Weltsöden ein großer Herr war. Und häufiger auch als sonst kehrte er unterwegs bei Mechtild ein – in einen Sessel gestreckt schaute er wohlgefällig zu, wie Fräulein von St. Pierre sich über den Teetisch beugte, zwischen Zuckerdose und Butterbrötchen mit den rundlichen, weißen Händen hantierte und ihm, weichen, wiegenden Ganges, die dampfende Tasse an seinen Platz brachte, als sei es eine symbolische Handlung, die sagen sollte: Hier war eine Frau, die keine eigenen Ansichten gekannt und nur dem Mann gedient hätte.
Theophil bemerkte es kaum, daß währenddessen in Ilses Leben neue Einflüsse traten.
Beinahe täglich war sie jetzt im nahen Frohhausen, und wenn die Gräfin sie nicht im Wagen holen ließ, so legte sie den kurzen Weg zu Fuß zurück.
Als Ilse das erstemal dort eintrat, war sie ganz benommen gewesen von dem Fremden, das sie sah. Aus allen Orten, wohin ihres Mannes Laufbahn sie geführt, hatte Gräfin Helmstedt Andenken mitgebracht. In ihrem Hause konnte man einen Spaziergang durch ihr Leben machen, und da ihr Leben sich in den verschiedensten Ländern abgespielt hatte, war es eigentlich ein Spaziergang durch die ganze Welt. Aber es lag in alledem nichts von der Kühle unbenutzter Sammlungen. – Die persischen, mit seinen Miniaturen geschmückten Bände wurden aufgeschlagen und studiert; die japanischen Vasen dienten wirklich großen Sträußen; und mit den verblaßten chinesischen Sammeten waren alte italienische Möbel bespannt, zu deren abgeriebenen Vergoldungen sie seltsam harmonisch stimmten. Alle Dinge hatten eine tatsächliche Beziehung zu ihren Besitzern. Darum fühlte sich Ilse bald heimisch in Frohhausen – heimisch auch bei dem antiken Eros mit den geschlossenen Augen und tastend ausgestreckten Händen, der auf hohem Sockel im lichten Hausflur stand und den Graf und Gräfin Helmstedt einst aus Griechenland heimgebracht hatten, aus Griechenland, wo sie sich vor zwanzig Jahren zuerst gesehen.
Immer inniger und dankbarer schloß sich die vereinsamte Ilse ihren neuen Freunden an. Sie wurden ihr zu Führern in bisher unbekannten Welten. Denn fremder noch wie die Gegenstände aus fernen Ländern waren die Gedanken und Erzählungen, die Ilse in Frohhausen vernahm. Andächtig lauschte sie, wie da Menschen, die zu den bekanntesten der Erde gehörten, als Freunde, Kollegen, als frühere Mitarbeiter oder Gegner erwähnt und beurteilt wurden. Und es konnte manchmal irgendein zufälliges Wort plötzlich vor ihr enthüllen, wie sehr dem Grafen einst die Begebenheiten der Weltgeschichte nicht Dinge gewesen waren, von denen man überrascht in den Morgenzeitungen liest, sondern an deren Werden er in manch schlafloser Nacht mitgearbeitet hatte.
In dem Zimmer, wo die Besitzer Frohhausens Ilsen also erzählten, blickten von den Wänden die Porträts etlicher Souveräne auf sie herab. Fremde und heimische. Und allerhand andere höchste Huldbeweise waren da aufgespeichert – Dosen, Nippes, kostbar eingerahmte Photographien, Vasen königlicher Manufakturen und was der Dinge mehr sind, durch die Gunst sich äußert und die sie meist überdauern. – »Requisiten der Vergangenheit« nannte die Gräfin all diese Sachen, die den Besuchern aus den Nachbargütern gewaltig imponierten und Graf Helmstedt in ihren Augen ein großes Ansehen verliehen. Er war doch der einzige in der Gegend, der Herrscherbilder besaß und Photographien, auf die allerhöchste Hände in einem Augenblick froher Laune huldvolle Grüße, scherzende Worte hingeschrieben hatten. Worte, die, so nach Jahren gelesen, wie versteinertes Lächeln wirkten, dessen Grund niemand mehr kennt.
Ilse ließ sich von dem Grafen die Episoden erklären, auf die da angespielt wurde. In wieviel Begebenheiten und Charaktere hatte er doch Einblick gehabt! Ihr Herz schlug höher bei dem Gedanken an solch ein Leben, das wirklich Leben gewesen. Und dann wieder schien es ihr unendlich hart, daß das alles hier so endete, und die ungenutzte Kraft dieses Mannes nur noch im Ertragen der weiteren Jahre verbraucht werden sollte. – War denn wirklich Entsagen immer und überall das letzte Wort? In jedem Dasein, auch solchem, das sich mit so stolzem Fluge weit über Durchschnittsmaß erhoben? – Sie wollte nicht zugeben, daß dies ein Allen geltendes Gesetz sein könne. Der Jugend Glaube an Sonderrecht und ihre Zuversicht, Unerreichtes doch zu erreichen, sträubten sich gegen solche Erkenntnis. Sie begriff oft kaum, wie der Graf die ihm jetzt beschiedene ländliche Stille so heiter und gut ertragen konnte.
»Sehnen Sie sich nicht oft ganz schrecklich nach Ihrem früheren Leben zurück?« fragte sie ihn einmal in der ihr eigenen, oft noch ganz kindlichen Art.
Und er antwortete: »Nach dem früheren Leben, wie es in Wirklichkeit war? Oh nein. – Wohl aber nach dem einstmaligen Glauben, so viel im Leben schaffen zu können. – – Im übrigen kann, wer in den Geschäften ist, nie früh genug nach einer schicklichen Gelegenheit spähen, sich aus ihnen zu entfernen, denn keiner noch starb in den Sielen, dem nicht der Nachruf geworden wäre: Er ist zu lang im Dienst geblieben.«
Oft auch malte sich Ilse sehnsüchtig aus, wie das Schicksal der Frau neben dem des Mannes gewesen sein mußte. Mit welcher Begeisterung sie gewiß an allem teilgenommen und geholfen hatte. – Ja, jener waren eben Ziele gewiesen worden, die jeder Hingabe würdig waren! Und Ilse fühlte, wie sich in ihrem eigenen innersten Wesen die Fähigkeit zu unendlicher Aufopferung beinahe stürmisch regte – wenn ihr nur auch Aufgaben geworden wären, die sie mit sich fortgerissen hätten!
Wie sie nun die Gräfin nach jenem früheren Leben einst fragte, antwortete diese mit leisem Lächeln und halb geschlossenen Augen: »Ja, es war erhebend, dies Gefühl, großen Zwecken gemeinschaftlich zu dienen, diese Hoffnung, erreichen zu können, was wir kurzlebige Menschen bleibende Erfolge nennen, und was doch meist nach fünfzig Jahren überholt, verändert, entwertet ist. – Aber das wirklich Schöne, das war doch nur, daß wir beide uns liebten und wußten, daß das, inmitten aller wechselnden Bilder, das Bleibende sei.«
Da mußte sich Ilse sagen, daß nicht nur der äußere Bau ihres Lebens kläglich und dürftig neben dem der neuen Freundin erschien, sondern daß ihm vor allem das gleiche, starke und alles tragende Fundament fehlte. – Und das war etwas, was sich bei einem Bau nicht mehr nachholen läßt. –
Wenn aber solch plötzliches Erkennen gar zu trostlos in Ilses schimmernden Augen zu lesen stand, dann streichelte die Gräfin sie mitleidig, wie ein armes Kind, das im Schlafe beraubt worden ist, und diese sanfte Frauenfreundschaft beschenkte mit so viel, daß Ilse darüber vergaß, wie arm sie eigentlich war.
Doch wie eine Angst überkam sie manchmal der Gedanke, daß dies Zusammensein doch einmal aufhören müsse. »Was soll aus mir werden, wenn Sie erst wieder fort sind?« klagte sie.
» Sie müssen, wenn wir im Winter in Berlin sind, auch eine Zeitlang hinkommen« – antwortete die Gräfin.
»Das ist unmöglich, wir sind hier ja wie eingewurzelt,« seufzte Ilse, deren Jugend alle Zustände noch als Endgültigkeiten erschienen.
»Ach Kindchen,« sagte die ältere Frau, »scheinbare Unmöglichkeiten räumen sich oft ganz von selbst aus dem Wege, so daß man manchmal glauben könnte, im Wünschen läge wirklich eine zwingende Macht.«
Aber Ilses tägliche Besuche vergingen nicht nur in Gesprächen, vor allem sollten sie ja ihrer musikalischen Ausbildung gelten.
Kaliwoda und Lydia Neuland hatten sie geprüft, ihr Klavierspiel, Gehör und Geschmack gelobt und ihrer Stimme eine schöne Entwicklung prophezeit, vom Glauben der Gräfin an die von der Großmutter ererbte Begabung getragen, wähnte nun Ilse, da läge die Zukunft und Möglichkeit, ein allereigenstes Dasein zu führen. Sie begann zu hoffen, ihre Stimme würde sich als so groß und schön erweisen, daß sie es vielleicht erreichen würde, ihrer Ausbildung halber im Winter nach Berlin zu dürfen. Der Gedanke, selbständig etwas leisten zu können, verlieh ihr Flügel. Sie entsann sich, wie sie einst, als ganz kleines Mädchen, ein Feuerwerk gesehen, wie sie den glänzend aufschwirrenden und in tausend Sternen zerstiebenden Raketen nachgeschaut und das bewundernde »ah« – der Menschen vernommen hatte, und wie da der kindische Wunsch in ihr entstand, auch einmal solch ein leuchtendes Etwas sein zu können, das strahlend zu Himmelshöhen steigt und nächtliche Finsternis zu blendendster Helle wandelt. – Und nun glaubte sie, daß dieser kindische Wunsch in Wahrheit ein Vorausahnen der in ihrer Eigenart begründeten Zukunft gewesen, und daß er sich ihr endlich erfüllen solle. Denn in der Kunst, da konnte ja auch eine Frau zu Höchstem gelangen und lichten Glanz über ein sonst dunkles Leben breiten. –
So sang und übte Ilse mit dem ganzen Tatendurst ihrer Seele. Wie stürmende Belagerer steile Höhen erklimmen, wie Schiffbrüchige in leckem Boot zum Ufer rudern, so arbeitete sie. – Leben, mehr als Leben galt es ja.
Nie hatten Kaliwoda oder Lydia Neuland eine derartige Schülerin unterrichtet.
»Mir ist manchmal bang um sie,« sagte der Pianist zu Lydia, »weil ich fürchte, daß sie dran zugrunde gehen würde, wenn etwas ihren Flug unterbräche.«
»Und das könnte leicht geschehen,« antwortete die Sängerin, »denn das eigentliche Stimmmaterial ist doch schwächer in ihr wie die Begeisterung.«
Kaliwoda nickte. »Ja, diese Begeisterung! Als wir ihr zuerst sagten, daß ihre Ausbildung sich lohne, da kam über sie ein erlöster Ausdruck, den ich nur einmal früher gesehen habe. Bei meiner Tournee in Amerika war es, in einer Minenstadt des Westens – da wurden gerade verschüttete Arbeiter aus einem Bergwerk zutage gebracht – die hatten diese selbe verzückte Glückseligkeit, als sie das Licht erblickten.«
Die beiden großen Künstler förderten Ilse mit ihrem ganzen Können. – Zuerst hatten sie es nur aus Gefälligkeit für Gräfin Helmstedt unternommen, die ihnen, den ruhelos wandernden, durch vieles Getrennten, in Frohhausen einen Sommerhafen bot, wo sie, nach des Jahres Anstrengungen und Fahrten, einmal nebeneinander vor Anker gehen konnten; dann waren ihre feinen Künstlernerven von Ilses eigentümlichem Zauber berührt und in Schwingung gebracht worden, und schließlich interessierten sie sich für die Aufgabe selbst. Denn Ilse machte überraschende Fortschritte. Gräfin Helmstedt war bei dem Unterricht oft zugegen. Sie hatte ihr ganzes Leben Künstler um sich versammelt, gehörte zu den Menschen, die in Bayreuth und bei allen Musteraufführungen anzutreffen sind und verbrachte selbst täglich Stunden am Klavier. Ilses künstlerische Erweckung war so recht eine Tat nach ihrem Herzen, das überall impulsiv beglücken und befreien wollte. Ilse, die Unverwöhnte, empfand das. Es kettete sie an die Freundin. »Ich werde Ihnen das Glück meines Lebens verdanken,« sagte sie schwärmerisch.
So verging eine selige Zeit mit unbegrenztem Arbeiten und unbegrenztem Hoffen.
Ilses Vater hatte eigentlich in diesen Wochen seinen längst angesagten Besuch in Weltsöden ausführen wollen, aber dann schrieb Greinchen für ihn ab, weil er wieder von seinen alten Herzbeschwerden geplagt würde. – Statt seiner traf ein schöner Flügel ein, den er Ilse schenkte, nachdem sie ihm von ihren Musikstudien geschrieben hatte. Sie stellte das Instrument in ein Zimmer neben der braunen mit Straminstickerei gezierten Schlafstube. Es war dies ein unbenutzter Raum, wie er von voraussichtigen jungen Paaren für alle etwaigen Vorkommnisse bereit gehalten wird, und der in Weltsöden noch nicht seinen eigentlichen Namen führen konnte, sondern mit einer gewissen vorwurfsvollen Schärfe als »das leere Zimmer« bezeichnet wurde.
Da stand nun der Bechstein, und Stunden konnte Ilse davor verbringen. Denn hier war sie ganz ungestört, niemand lauschte; und neben den von Kaliwoda und Lydia vorgeschriebenen Übungen und Stücken fanden ihre Hände und ihre Stimme allmählich eigene Begleitungen zu eigenen Melodien. Tastend und unbeholfen noch und doch für sie selbst unendlich beglückend. Als ob der Bann der Einsamkeit von ihr genommen würde, war dies Erlebnis, eine Sprache gefunden zu haben, in der sie all das große unklare Sehnen ausdrücken konnte, für das sie Worte nicht wußte. Ihre ganze Persönlichkeit entfaltete und kräftigte sich daran. Die Musik war ihr zur inneren Befreiung geworden.