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Ich war der einzige von uns dreien, der späterhin noch mehrere Male in die Schwitzkammer auf dem Buschinselchen zurückkehrte und mit wechselndem Erfolge von da aus Vögel aufnahm; meine anderthalb Jahre in den Athi River Plains schienen eine excellente Trainingszeit auch für die wahnsinnigsten Temperaturen gewesen zu sein. – Penna war ehrlich genug, zuzugeben, daß er eher bereit sei, sich drei gesunde Backzähne ziehen zu lassen, als noch einmal dort hineinzukriechen, er wäre noch niemals einem Hitzschlag so nahe gewesen wie an jenem Morgen. Ruth unternahm an einem sehr windigen und relativ kühlen Spätnachmittag noch einen Versuch, sie kam aber bald mit der Erklärung zurück, daß sie es vor höllischer Hitze keine zehn Minuten darin ausgehalten und außerdem ein Loch in dem Gebüsch entdeckt hätte, das buchstäblich voll von jungen Skorpionen gewesen wäre.
Sie beschrieb mir genau, wo das Loch war; mit einem Knüppel und der immerhin angebrachten Vorsicht bewaffnet, denn der Biß auch von jungen Skorpionen der tropischen Arten ist ziemlich schmerzhaft, und der von ausgewachsenen Exemplaren kann, je nach der betroffenen Körperstelle, von tödlicher Wirkung sein, ging ich daran, das Gelände vom Feind zu säubern. Doch ich fand das Nest leer und bei allen meinen Besuchen des kleinen Eilandes überhaupt nicht mehr Skorpione vor, als man dortzulande allerwärts antrifft.
Wie fast alle Anfänger, war auch der Doktor der Ansicht, daß Güte und Reiz einer Aufnahme von der Großartigkeit des gewählten Gegenstandes abhingen; er wollte zwar ums Leben gern eindrucksvolle Bilder mit seiner Filmkamera machen lernen, aber er brachte weder Interesse noch Fleiß und Geduld genug auf, solche vorerst an einfachen Objekten zu versuchen. Wie alle Bewohner des tropischen Brasiliens war eben auch mein Freund im Grunde eine träge Natur und manchen Dingen gegenüber von einer Indolenz, die mir immer unfaßbar geblieben ist.
Ein Musterbeispiel dieser Gleichgültigkeit offenbarte sich aus der Tatsache, daß auf dem Herrentisch dieser Großviehfarm keine Frischmilch erschien; es gab ausschließlich Büchsenmilch und Büchsenrahm nordamerikanischer und Schweizer Herkunft. Wir beide rieten eine Zeitlang hin und her, wo in aller Welt denn die Milch von den Hunderten oder Tausenden von Kühen hinkam, die bei dem hiesigen Gesamtviehbestand doch vorhanden sein mußte. Allgemach erstreckte sich das Rätselraten auch auf den Aufenthaltsort dieser Milchkühe, denn in dem geräumigen Korral gegenüber dem Haupthause befanden sich neben zahlreichen Pferdestuten und Füllen kaum ein Dutzend Kühe, die Kälber hatten oder trächtig gingen, und von der Existenz einer weiteren Viehhürde in erreichbarer Nähe hatte ich bis dahin nie etwas gesehen oder vernommen. Da wir überdies niemals bemerkten, daß die wenigen sichtbaren Kühe überhaupt gemolken wurden, befragte Ruth den Doktor einmal bei unserm milchlosen Frühstück über diesen Punkt. Die Antwort, die sie darauf erhielt, war erstaunlich und in mancherlei Hinsicht recht aufschlußreich.
Wie er sagte, wäre er schon froh, wenn seine Kühe nur so viel Milch produzierten, wie zur Ernährung ihrer eigenen Kälber notwendig war. Bei einem sehr erheblichen Teil der Tiere wäre das nämlich nicht der Fall. Neben allgemeinen Degenerationserscheinungen und mannigfaltigen Seuchen hatte diese Erscheinung noch eine andere, schreckliche Ursache, eine, die mir noch vor kurzer Zeit fast unglaubhaft vorgekommen wäre. Die Ursache waren Pyranhas.
»Wir treiben demnächst ein paar tausend Stück Rinder in den großen Korral da drüben, um die jüngeren Tiere zu branden und geeignete ältere als Schlachttiere zur Verschiffung nach Fortalezza zu bringen. Dabei haben Sie Gelegenheit, sich durch den Augenschein von der erwähnten Tatsache zu überzeugen«, bemerkte der Doktor auf unsere erstaunten Blicke hin in so gelassenem Tone, als ob er über das Wetter oder ähnliche Unabänderlichkeiten spräche. »Wie Ihnen bekannt ist, führt der Strom alljährlich ungefähr drei Monate lang Hochwasser. Die Erscheinung hängt mit den Regenzeiten am Oberlauf der Nebenflüsse, der Schneeschmelze an den Abhängen der Kordilleren und noch einigen andern Faktoren zusammen. Da nun zum überwiegenden Teil der Boden unserer Insel nur ein paar Meter über dem normalen Wasserstand des Stromes liegt und dazu auf weite Strecken tellerflach ist, wird er bei Hochwasser eben überschwemmt, an manchen Stellen bis zweieinhalb Meter, im Durchschnitt nicht ganz einen Meter hoch. Während dieser Zeit, also mindestens ein paar Wochen lang, steht die Mehrzahl der Tiere dauernd im Wasser, denn die wenigen höhergelegenen Landstriche, wo gar keins hinkommt, bieten natürlich nicht für alle Platz. Abgesehen davon, daß dabei Tausende Stück Vieh aus Nahrungsmangel zugrunde gehen und andere Tausende den massenhaft aus dem Strom hereinkommenden Kaimanen zum Opfer fallen, sind die Herden dann auch den unaufhörlichen Angriffen der Pyranhas ausgesetzt, die natürlich ebenfalls mit den Fluten über das Land geschwemmt werden. In welchem Maße das Wasser von dieser Pest verseucht ist, können Sie sich kaum vorstellen! Und erklärlicherweise sind es dann besonders die leicht verletzlichen und von den Tieren selbst schwer zu schützenden Euter, die von den Bestien attackiert werden.
Sie werden sehen, daß mindestens die Hälfte aller Kühe mehr oder weniger deformierte und reduzierte Euter aufweist und viele überhaupt keine mehr haben. Solche Tiere, die zur Zucht ja nicht mehr in Frage kommen, werden natürlich nach Möglichkeit ausgeschieden, und soweit sie nicht von uns selbst aufgegessen werden, als Schlachtvieh, zum Verkauf gebracht. – Alle diese ungünstigen Umstände haben freilich doch das eine Gute, daß auf diese Weise eine Art naturgegebener Auslese unter dem Vieh stattfindet. Denn die Tiere, die sich auf den höher gelegenen Stellen, wo das Wasser nicht hinkommt, zusammendrängen und da behaupten können und dadurch während der Flutperiode notdürftig Nahrung und gleichzeitig Schutz vor den Kaimanen und Pyranhas finden, sind natürlich die stärksten und vitalsten der Herde. – Aus alledem wird Ihnen nunmehr klar sein, warum ich Ihnen zu meinem Bedauern nicht mit frischer Milch dienen kann«, schloß er.
»So weit gut, dear friend!« erwiderte ich. »Aber warum halten Sie dann nicht wenigstens eine Anzahl Milchkühe hier in der Nähe Ihres Hauses? Ich meine selbstverständlich importiertes hochwertiges Milchvieh.«
»Well, Art«, lächelte er, »derartige Versuche habe nicht nur ich selbst, sondern hat auch schon mein Vater mehrfach unternommen und neben einer immerhin beachtlichen Summe Geld viel Mühe und noch mehr Ärger und Enttäuschungen darangegeben. Bei dem Scheitern all dieser Experimente haben vielerlei Faktoren mitgespielt; außer der Unfähigkeit und Unbelehrbarkeit unserer Leute war es in der Hauptsache einfach unser Klima. Die Tiere vertrugen die Hitze nicht, vertrugen unsere einheimischen Futterpflanzen nicht – solche europäischen und nordamerikanischen Ursprungs, die ich anbaute, wollten nicht gedeihen oder degenerierten rettungslos – und außerdem fielen meine preisgekrönten Milchkühe trotz aller kostspieligen Impfungen, die sie erhalten hatten, bei jedem Hauch von Krankheit um wie die Fliegen. – Ich habe darüber hinaus früher auch eine Anzahl reinrassiger Zuchtbullen zur allgemeinen Aufbesserung unseres Viehschlages eingeführt. Bei ihnen war aber das Ergebnis noch deprimierender. Soweit die Kolosse nicht schon in den ersten Wochen im Korral eingingen, sind sie dann regelmäßig durch die Nachlässigkeit der Vaqueiros, und angelockt durch das Muhen von zehntausend Kühen draußen in der Pampa, entwischt und dann natürlich prompt von einem Jaguar oder Kaiman, von deren Existenz die Fremdlinge ja keine Ahnung hatten, oder aber von den angestammten Herdenbullen erledigt worden.
Würde man Hunderttausende in die Sache hineinstecken, so ließen sich vielleicht trotzdem alle diese Schwierigkeiten nach und nach überwinden. Aber in diesem Falle würde sich das niemals lohnen, denn hier in unserer von Göttern und Menschen verlassenen Ecke der Welt gibt es ja quasi für gar nichts ein Absatzgebiet, und am wenigsten eins für Milch und Rahm. – Ja, so habe ich eben zuletzt den Ehrgeiz, zum mindesten an meinem eigenen Tische selbstproduzierte Milch zu trinken, kleinlaut aufgesteckt. Nun, es geht auch so«, schloß er achselzuckend.
Gewiß ging es auch so, aber für mich behielt die Vorstellung, daß dieser Mann, der Hunderttausende von Stück Vieh sein eigen nannte, nie einen Tropfen frische Milch zu sehen bekam, etwas Groteskes. Ich konnte das Gewicht der hindernden Umstände, die hier im besondern vorlagen, nicht beurteilen, aber ich hatte immerhin in andern Tropengegenden gesehen, daß Viehwirtschaft auch dort glänzende Resultate zeitigen konnte – wenn sie mit dem nötigen Quantum von Energie und Sorgfalt betrieben wurde.
Als Penna seine Absicht erwähnte, demnächst eine große Herde zusammentreiben zu lassen, war mir parallel zum eigentlichen Thema der Gedanke gekommen, ob sich der Vorgang nicht photographisch auswerten ließe, und wie immer, brauchte ich nur eine dahingehende Andeutung zu machen, um ihn sogleich zu großzügigem Handeln zu veranlassen. Am andern Vormittag sah ich bereits einen Trupp Vaqueiros vom Fluß herkommen, deren Pferde lange Baumstämme an Rohhautriemen nachschleiften. Eine andere Gruppe ging unter Aufsicht des alten Methusalem daran, unweit des Eingangs zum Korral ein etwa zwei Mann hohes Gerüst zu errichten. Sie bauten es klotzig massiv, pflanzten die vier Eckpfosten einen guten Meter tief in den Boden und versteiften sie überdies noch mit schenkeldicken Spreizen. Obenauf kam dann eine kleine Plattform, und die bestand einfach aus der ausgehängten Tür von Pennas Haus. Genagelt oder geschraubt wurde übrigens an der ganzen Konstruktion absolut nichts; die Verbindung der einzelnen Teile wurde ausschließlich mit Rohhautriemen bewerkstelligt, diesem Allerwelts- und Universalmittel jeder Gegend, wo es Großvieh oder Großwild gibt. Ich habe mehr als ein Auto, hauptsächlich bei Buren, gesehen, an dem klapprige Teile, und nicht nur der Karosserie, sondern auch der Maschine, tatsächlich mit Rohhautriemen zusammengebunden waren.
»Von da oben aus sollten wir die ankommende Herde gut, und auch verhältnismäßig sicher aufnehmen können, meinen Sie nicht, Art?« fragte der Doktor, als die Kanzel fertig war. »Ich denke, daß das Gefüge auch in dem Falle halten wird, daß einzelne der Tiere, die durch das Treiben natürlich furchtbar aufgeregt sind, dagegenprallen. Immerhin bin ich aber unbedingt dafür, daß Frau Ruth nicht mit hinaufkommt. Sie kann von den Verandastufen aus sicherlich auch schöne Einzelaufnahmen der in den Korral hereinströmenden Herde machen.«
Auf welche Auslassung hin Frau Ruth sogleich zu einem ungestümen Protest ausholte – sie verschluckte ihn allerdings, als ich sie auf eine besondere, wenn auch sehr selten angewandte Art ansah.
Der Doktor hatte ganz richtig geahnt, denn die Sache nahm tatsächlich einen ziemlich unerwarteten Verlauf. Was sich am frühen Morgen des übernächsten Tages da draußen abspielte, ließ sich am besten mit einem Erdbeben vergleichen. Wir waren schon vor Tagwerden an einem droben angeknüpften Lasso hinaufgeentert; bald nach dem roten Aufleuchten des östlichen Himmels flutete wohl wie immer jähes Tageslicht über die weite Ebene, doch an diesem Morgen folgte ihm kein riesengroßer feurigklarer Sonnenball.
»Schade, daß gerade heute dunstiges Wetter ist«, brummelte ich.
»Es hat nichts mit dem Wetter zu tun«, lächelte der Doktor. »Es sind Staubwolken – die Herde kommt! Horchen Sie!«
Ein dumpfes Murren rollte von fernher über die Pampa, die Dunstschicht am Horizonte hob sich zusehends höher, wurde im Näherkommen immer dichter und dunkler, wuchs zu einer hochaufwirbelnden Wolke empor, die sich über die ganze Ebene ausbreitete und das Tageslicht verschlang, sich donnernd heranwälzte wie die gigantischen Wirbel eines Taifuns. In das Dröhnen vieler Tausende wild dahinrasender Hufe mischte sich ein verschwommenes orkanhaftes Gebrüll; es klang wie ein ins Unermeßliche gesteigertes schmerzvolles Aufstöhnen aller irdischen Kreatur, und die Erschütterung des Bodens pflanzte sich fort bis zu unserm Standplatz herauf; ich spürte, wie das ganze Bauwerk in ein schüttelndes Zittern, ein immer stärkeres Beben und Schwanken geriet. Was sich da heranwälzte, war kein photographisch auswertbarer Vorgang mehr, sondern eine Art von Naturkatastrophe!
Mir wurde ein bißchen unheimlich da oben, und das um so mehr, als unser Dortsein gänzlich zwecklos war, denn zu sehen war außer himmelhochwirbelnden Schwaden von dunkelm Staub und, wie mir schien, auch Rauch absolut nichts, und selbst von diesem wäre bei dem wilden Rütteln und Schwanken unserer Bühne keine Aufnahme möglich gewesen.
Auch mein Gefährte wurde unruhig, wenn auch aus einem andern Grunde. Unaufhörlich die Augen reibend, versuchte er eine Einzelheit in dem wie ein Wüstensturm daherfegenden Chaos zu erspähen und gestikulierte unter wilden Schreien einem einzelnen Reiter etwas zu, der einmal in den treibenden Schwaden sichtbar wurde und im nächsten Augenblick wie ein Schatten wieder mit ihm verwehte. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und rief mir ins Ohr: »Da muß etwas verkehrt gegangen sein! Das sind nicht zweieinhalb-, sondern fünf- oder sechstausend Stück Vieh, die da ankommen! – Und alles sollte nur links von uns vorbeigetrieben werden! – Da, sehen Sie? Tatsächlich, es sind Pferde dabei! Das kann nicht gut gehen!«
Jetzt wurde mir noch unheimlicher. So klobig auch unser Wachtturm von unten ausgesehen hatte, hier droben auf der dünnen klapprigen Plattform und angesichts einer heranbrandenden und mit zwanzigtausend PS geladenen Woge von Tierleibern kam ich mir vor wie der oft zitierte Affe auf der Spitze des Korkenziehers. Die Woge war jetzt ganz nahe, auf ein paar Sekunden wurden schattenhafte Reihen von weit zurückgelegten, hörnerbewehrten Köpfen, von flatternden Mähnen, wildglühenden Augen, auf- und niederwiegenden schweißglänzenden Rücken sichtbar und dann gar nichts mehr als ein prasselnder Hagel von emporgeschleuderten Erdstücken und Kieselsteinen, dürren Roßäpfeln und Kuhfladen.
Unser Ausguck schwankte wie eine Mastspitze bei schwerer See, wir hatten uns beide instinktiv niedergeworfen, hielten uns an den Kanten des Türflügels fest und warteten nur noch auf den Moment, da die Stützen des Bauwerkes unter uns brechen und wir in die vorbeitosende Tierlawine hinabgeschleudert würden. Doch sie teilte sich, entgegen meiner Erwartung, dicht vor den schrägen Streben in zwei Arme und wälzte sich rechts und links von uns vorbei, und den wenigen gegen die Pfähle krachenden Tieren hielt das Gefüge immerhin stand. Brüllend und donnernd ergoß sich der Hauptstrom in die weite Öffnung des Korrals hinein, ein kleinerer Teil brach nach beiden Seiten aus, wurde, wie wir mit dem Aufhören des Dreckschauers erkennen konnten, von johlenden Reitergestalten absichtlich vom Eingang abgedrängt und von andern draußen an den Palisaden entlang gejagt.
Starr vor Grauen und mit angehaltenem Atem wartete ich auf das scheinbar Unvermeidliche, auf den Augenblick, da der Pferch voll war und die sich am Eingang stauenden, von den nachfolgenden Massen vorwärtsgedrängten Tiere übereinander stürzen, einander zu Brei zerdrücken und zertreten würden. Ich hatte gar nicht beachtet, daß der Doktor von meiner Seite verschwunden war, sah ihn plötzlich drunten zwischen wild dahinstürzenden Rudeln von Nachzüglern auftauchen und, unter einem unwillkürlichen Ausruf der Bewunderung, auf einmal mit einem wahren Panthersatz empor- und auf den bloßen Rücken eines vorbeigaloppierenden Pferdes fliegen.
Ein Krachen und Bersten auf der gegenüberliegenden Seite des Korrals lenkte meinen Blick ab. In die durcheinanderstrudelnde Masse innerhalb der Umzäunung kam eine erkennbar einheitliche Vorwärtsbewegung, und wie ein Wildwasser, das ein Hindernis weggerissen hat, brauste der Strom der Tiere jetzt durch die jenseits entstandene Bresche wieder hinaus, raste, in einzelne Arme aufgelöst, zwischen den Wohngebäuden der Fazénda hindurch und verschwand unter wehenden Staubfahnen hinten in den Weiten der Pampa. Jetzt erst besann ich mich, zu welchem Zweck ich eigentlich hier heraufgeklettert war, aber mit den drei Kameras, die wir unklugerweise schon vorher aus den Behältern genommen hatten, konnte man vorläufig nicht mehr photographieren, sie waren schier hoffnungslos verstaubt und verschmutzt. Was ich schließlich noch mit Pennas Leica, die er in ihrem Etui zurückgelassen hatte, von da droben aufnahm, waren keine imposant daherbrausenden Rinderscharen mehr, sondern lediglich die zerstampften Kadaver von einzelnen zu Fall gekommenen Tieren und dazu ein paar Dutzend, unter Krusten von Schweiß und Dreck kaum noch erkennbare Vaqueiros, die mit abgezogenen Hüten im Halbkreis vor ihrem Herrn hielten und sich alle miteinander verlegen die Köpfe kratzten.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen, aber es war wahrhaftig das schlohweiße Haupt des Erzvaters Antonio, das ich unter ihnen erkannte; der Hundertjährige hatte sich demnach noch jung genug gefühlt, diese wahnsinnige Hetzjagd mitzumachen! Anscheinend in Erwiderung einer Frage Pennas sah ich, wie der Alte seinen Hut mit weiter Gebärde nach Südosten schwenkte. Ich schaute in jene Richtung aus und mit einem Blick wurde mir der Hergang des Ganzen klar. Eine ungeheure gelblichbraune Rauchwolke wälzte sich im Südosten über die Ebene, da draußen stand die Pampa in Flammen! Die dort weidenden Herden von Pferden und Rindern waren vor dem Feuer nordwestwärts geflüchtet, waren zufällig den von den Vaqueiros zusammengetriebenen und vorwärtsgehetzten Scharen in den Weg geraten und dann alle miteinander in einer allgemeinen »Stampede« weitergerast.
Grasbrände bilden in allen Steppen- und Präriegegenden eine immer wiederkehrende Erscheinung. Manchmal entstehen sie zufälligerweise, meistens aber werden sie absichtlich angelegt, um Schlangen und Ungeziefer zu vernichten und dem jungen Graswuchs Luft zu schaffen. In den afrikanischen Steppen mit ihrer überwiegend spärlichen und niederen Grasnarbe sind diese Feuer im allgemeinen ungefährlich und werden auch von den Kindern der Wildnis nicht tragisch genommen. Meistens genügt schon ein entschlossenes Durchbrausen durch den schmalen Gürtel der eigentlichen Flammen, um die Tiere auf der bereits abgebrannten Fläche wieder in Sicherheit zu bringen. – Eine viel ernsthaftere Sache war es allerdings hier, wenn die dichten und reichlich mannshohen Grasbestände der feuchtheißen Pampa in Brand gerieten und von den heftigen Seewinden dieser Insel angefacht und weitergejagt wurden. Hier gab es für jedes Lebewesen, sofern es nicht im Erdboden verschwinden konnte, nichts als schleunigste Flucht.
»Über unsern photographischen Expeditionen scheint ein Unstern zu walten«, lachte der Doktor, als ich ihm stumm die dickverstaubten Kameras vorwies, hustete auf, wandte sich mit einem »Excuse me!« ab und spuckte ärgerlich grunzend noch eine Ladung trockenen Viehdung aus. Ich tat prompt dasselbe, auch mir knirschten die Zähne, waren trotz allem Räuspern und Schneuzen noch immer Kehle und Nase wie verstopft und der unangenehm beizende Staub rieselte unten aus den Hosenbeinen heraus.
»Es ist doch gut, daß Antonio die Neigung hat, alles wie für die Ewigkeit zu bauen! Sonst wären wahrscheinlich die Urubùs dort jetzt auch mit den unerheblichen Resten unserer irdischen Hüllen beschäftigt –« sagte er im Weitergehen nachdenklich und deutete auf die großen schwarzen Geier hin, die in ruhigem Gleitfluge allüberall ringsum landeten und unbekümmert um uns mit kräftigen Schnabelhieben über die Kadaver der gestürzten Tiere herfielen.
Während ich die Gelegenheit wahrnahm und rasch eine Reihe von Leicaaufnahmen von den Totengräbern der Wildnis, diesen in Aussehen und Gebaren so widerwärtigen und in allen heißen Ländern doch so eminent nützlichen Aasjägern machte, fragte ich Penna bekümmert, wie hoch er seinen heutigen Schaden durch das Feuer und die Stampede wohl einschätzte. Doch er sah mich ob solcher Frage nur verwundert an und sagte mit lächelndem Kopf schütteln: »Nun, der materielle Schaden ist wirklich nicht der Rede wert, Art. Bei den Pampabränden geht unvermeidlicherweise stets ein Teil Vieh zugrunde. In der Hauptsache natürlich erst soeben geworfene Jungtiere. Gegen Ende der Trockenzeit, wenn die Feuer am häufigsten und verheerendsten wüten, betrifft es freilich manchmal Tausende. Was aber heute insgesamt auf der Strecke geblieben ist, ist unbeträchtlich; es werden noch keine hundert Stück sein, denn das Feuer hat nur den äußersten Nordostzipfel meines Landes erfaßt. Und wie es scheint, wird es sich auch nicht viel weiter ausbreiten, da der Wind eingeschlafen ist. – Sollte mich übrigens nicht wundern, wenn es genau auf der Grenzlinie ausgebrochen wäre!« fügte er nach einer Pause und mehr wie zu sich selbst hinzu.
»Wieso genau auf der Grenze Ihres Landes, Doc? Das klingt wie eine bestimmte unliebsame Vermutung –!« fragte ich.
»Hm –!« brummte er zögernd. »Wie überall auf der Welt, so kommen eben auch hier nachbarliche Zwieträchten und Feindschaften vor. Die, auf welche sich meine Mutmaßung bezieht, ist eine besonders bittere und dauerhafte – sie besteht schon seit drei Generationen. Immerhin gibt es hierzulande lange nicht so viel Konflikte, wie in den Viehzuchtgebieten der westlichen Staaten, wo immer ein Rancher des andern Teufel ist und damit den Schreibern der zahllosen ›Wild West Stories‹ ihre schier unerschöpflichen und blutrünstigen Stoffe liefert. Wir Brasilianer sind im allgemeinen friedfertiger Natur und nicht zu Gewalttätigkeiten geneigt. Jener Nachbar da drüben freilich – well, Art, ich möchte Ihnen nahelegen, jene Gegend da hinten nach Möglichkeit zu meiden, um allen eventuellen Unerfreulichkeiten aus dem Wege zu gehen. Seien Sie so freundlich, diese meine Bitte auch Frau Ruth zu übermitteln, ja? – Da kommt sie übrigens selber angetrabt und augenscheinlich sehr erleichtert, daß Ihnen bei diesem tumultuösen Zwischenfall nichts geschehen ist.«
»Nichts außer einem Dreckbade!« knurrte ich und spie aufs neue aus. »Heiliger Nepomuk, das verfluchte Zeug, was mir immer noch im Rachen sitzt, würde reichen, um ein paar Salatbeete zu düngen! – Großer Brahma! Kind, wie siehst du denn wieder mal aus! Du verpaßt doch wirklich keine Gelegenheit, dich gründlich einzusäueln!«
Sie lachte nur, griff sich aufs Geratewohl in ihren üppigen Papuaschopf und warf mir eine Handvoll trockener Kuhmistkrümel ins Gesicht. Wie ich mir einbilde, nahm sie sich diese Freiheit nur aus übermütiger Freude, mich unbeschädigt wieder zu haben.
Ihr Teint unter der Schmutzkruste wies bei näherem Beschauen allerdings einen leichten Stich ins Käsfarbene auf, und sie gab selbst zu, daß ihr vor Entsetzen fast das Herz stehen geblieben wäre, als sie den Tornado auf unser Gerüst zubrausen sah. Nachdem die Hagelwolke von Staub und Dreck, die auch sie und das ganze Haus dazu überschüttet hatte, niedergesunken war, hätte sie kaum gewagt, hinauszuschauen, ob von uns noch irgend etwas zu entdecken war.
Sonst war es ihr genau so gegangen wie mir; auch sie hatte bei dem Anblick des Maelstromes von Tieren, der da mit ungeheurer Wucht in den Korral hineinbrandete, an alles andere als ans Photographieren gedacht. Nachdem der schwarze Koch, der das Unglück kommen sah, dann beherzterweise das hintere Pferchtor aufgerissen hatte und die Massen wieder herausbrachen, wobei übrigens ein ganzes Rudel von angsttollen Pferden zu ihr auf die Veranda hinaufgesprungen wäre und sie an die Hauswand geschleudert hätte, wäre ihr erst wieder ihre Kamera eingefallen. – »Aber hier, schau dir das mal an! Keine Schraube ist mehr zu drehen!« schloß sie plötzlich aufschluchzend und hielt mir in stummem Jammer ihre wüst verdreckte Rolleiflex unter die Nase.
»Mit Geduld und Spucke läßt sich alles heilen, Jonny. Deswegen braucht man nicht gleich zu weinen. Komm, jetzt wollen wir erst mal den gröblichsten Mist von uns runterspülen und dann auf den Dreck hin kräftig frühstücken – ich kippe vor Hunger fast aus den Stiebeln!«
Die Brausebäder in Pennas Hause waren an diesem Tage bis in die Nacht hinein dauernd besetzt und die ganze Kolonie invalider Dienstmannen mit Abstauben und Abwaschen der Räume beschäftigt, das Ehepaar Heye aber rund drei Tage lang angstschwitzend damit, diffizile Kameramechanismen auseinanderzunehmen, zu säubern, zu ölen und wieder zusammenzusetzen. Währenddem suchten die Vaqueiros ihre über die ganze Pampa verstreute Herde zusammen, und als die zweieinhalbtausend Tiere eines Morgens wiederum auf unsern Wachtturm zugepoltert kamen, ging alles nach Wunsch. Filmaufnahmen kamen wegen der unvermeidbaren starken Erschütterung des Bodens auch diesmal nicht in Frage, aber dem Doktor und mir gelangen immerhin eine ganze Menge höchst eindrucksvoller Schnappschüsse von den heranstürmenden Rinderscharen.
Tags darauf, nachdem sich bei den wildäugig und schnaubend im Korral herumirrenden Tieren das erste Entsetzen über das Gefangensein gelegt hatte, konnten wir, zusammen mit einem graubärtigen und verwetterten Vaqueiro durch die schweren Stämme der Palisaden lugend, tatsächlich feststellen, daß beim größten Teil der weiblichen Stücke die Euter rotvernarbte Wunden und Verstümmelungen, und sämtliche Tiere überhaupt, Bullen und Kälber gleicherweise, die Spuren mehr oder weniger schwerer Verletzungen aufwiesen.
Mit der Hand zeigend, erklärte der alte Hirte bei jedem einzelnen Stück mit ruhiger Sicherheit, woher die Wundmale stammten, und das, was er neben »Hornstoß!«, »Schlangenbiß!«, »Jaguarpranke!«, »Kaimanszähne!« am allermeisten nannte, war: »Pyranhas!«
Einige Aufnahmen beim Einbrennen von Pennas Eigentumszeichen in die Rückenhaut der Jungtiere – es bestand in einem spannenlangen Halbmond –, beim Weitertreiben und In-Boote-Verladen der ausgesuchten zwölfhundert Köpfe Schlachtvieh zu machen, blieb mir allein überlassen – Ruth hatte sich schon nach wenigen Minuten des Zuschauens vor der unsagbaren Brutalität, mit der das alles gehandhabt wurde, schaudernd abgewandt.
Nach dem dramatischen Ausgang jenes ersten Treibens verliefen unsere Tage auf Jilva dann fast drei Monate lang geruhsam und idyllisch, wenn auch niemals eintönig oder gar langweilig. Die in ihren Tier- und Pflanzenformen vom Urwalde so unterschiedliche Natur der weiten Grasebenen mit ihren zahlreichen flachen Seen und Sümpfen, wie auch die der üppigen dunkeln Galeriewälder an den Wasserläufen, die sich bei näherem Kennenlernen als ganz unerwartet reich und mannigfaltig offenbarte, nahm uns je länger je mehr gefangen. Es gab kaum einen Tag, an dem wir nicht ein neues kleines Lebenswunder aufspürten, beobachteten und photographierten oder auch einfingen und mit nach Hause nahmen. Neben immer neuen grotesken Insektengestalten waren es besonders die vielfältigen und in manchen Arten unglaublich winzigen Steppen-, Sumpf-, Wasser- und Blatthühnchen, die komisch-gravitätisch und samt und sonders ungeheuerlich verfressenen Stelzvögel, die putzigen Erdeichhörnchen und Gürteltiere – hurtige Gesellen die zu Ruths Ärger die Fähigkeit besaßen, sich schneller im Boden weiterzugraben, als sie ihnen mit einem Spaten nachkommen konnte – und vor allem die unendlich reiche Welt der Wasserreptilien, der Amphibien und Fische, in der wir ständig überraschende Entdeckungen machten. Und bei unsern täglichen kleinen Streifzügen, die wir teils zusammen, teils aber auch jeder für sich allein ausführten – Ruth natürlich nicht ganz allein, sondern in Begleitung ihres Schattens Dom Pedro und der zwei mißliebigen Schutzwächter im Hintergrunde – genossen wir immer aufs neue die unsagbare Wohltat und Annehmlichkeit, uns hier ungehindert zu Fuß und, wenn man wollte, sogar mit Schnellzugsgeschwindigkeit im Sattel vorwärtszubewegen, ständig eine reine, windbewegte und erquickende Luft zu atmen und in diesen freien, lichterfüllten Räumen jede Gelegenheitsaufnahme auch wirklich vornehmen zu können.
Das allerbeste für mich persönlich aber war, daß ich in dieser ganzen langen Zeit, und zum ersten Male seit vielen Jahren, völlig von den Attacken meines alten Übels verschont blieb; ich wurde hier auf Jilva im Laufe der Zeit immer frischer, kräftiger und leistungsfähiger, mir war, als hätte ich mich auf einmal um zehn oder zwanzig Jahre verjüngt. Wäre dem nicht so gewesen, so hätte ich allerdings auch das, was mir bald danach blühen sollte, nimmermehr überstanden.