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»Kommt man nach langer Mühe in den eigentlichen Mittelpunkt des Baues«, beschreibt Günther die Ausgrabung einer Saùvasiedlung, »so schlägt die Hacke bald hier, bald da eine Kammer frei, und man sieht in dunkeln Höhlen faustgroße Klumpen liegen, die aus lockerem Gewebe bestehen und einem Schwamm gleichen, aber so leicht gebaut sind, daß sie, wenn man sie herausnimmt, sofort staubartig zerfallen. Hunderte von solchen Kammern hat der Saùvabau; alle sind miteinander durch breitere und feinere Quergänge verbunden, so daß man ein ganzes Bergwerk vor sich hat.
Die schwammartigen Klumpen sind gewöhnlich grauweiß, es gibt aber auch grüne, und an diesen erkennt man bald, was die Ameisen mit den eingetragenen Blattstücken gemacht haben. Man bemerkt auch, daß sehr kleine Ameisen an den Klumpen ständig beschäftigt sind ... Bei den Saùva gibt es eine ganze Reihe verschieden großer Arbeiter, die ihre Form durch die in ihrem Staate durchgeführten Arbeitsteilung erhalten haben. Die größten Saùva sind die wehrhaften Soldaten, die mittleren holen die Blätter und zerteilen sie, die kleinsten arbeiten in jenen Schwämmen.
Haben nun die mittleren Arbeiter die Blattstücke eingetragen, so werden diese aufs feinste zerkleinert und zusammengeballt. Aber das ist erst die Vorarbeit, denn die Klumpen sind noch nicht die Nahrung der Saùva, sie stellen vielmehr Komposthaufen für ihr ›Gemüse‹ dar. Denn diese merkwürdigen Tiere sind Gärtner und züchten Pilze von einer Art, die in der freien Natur gar nicht mehr vorkommt.
So müssen die Ameisen ihr Pilzgemüse immer aus andern Kammern ihres Baues holen. Diese verraten ihre ältere Bestellung dadurch, daß ihre Schwammklumpen grau aussehen. Sie sind vollständig von dem Geflecht des Pilzes durchsetzt, und von diesem Geflecht reißen nun die Ameisen ein Büschelchen heraus, bringen es an den grünen Komposthaufen und setzen es hier an. Bald treibt der Pilz auch auf dem neuen Haufen und durchsetzt ihn mit seinem Wurzelgeflecht. Aus diesem ›Mycel‹ sprossen allmählich kleine kugelige Körperchen hervor, die ich als weiße Pünktchen mit bloßem Auge gerade noch erkennen konnte. Der Entdecker der wunderbaren Nutzpflanze der Ameisen, Möller, nannte die Kügelchen ›Kohlrabi‹, ein anderer Name ist Ambrosia. Das Merkwürdigste ist nun, daß die Kohlrabi gerade so ein Züchtungsprodukt der Ameisen sind, wie unsere Kohlarten eins der Menschen. Denn sobald man die Ameisen von einem ihrer Schwämme dauernd fernhält, verschwinden die Kohlrabi, und der Pilz bildet lange Luftfäden, die das ganze Gewebe wie angeschimmelt erscheinen lassen. Möller hat sogar gezeigt, daß der Ameisenpilz auch fingerlange, weißrote Fruchtkörper von hutförmiger Gestalt hervorbringen kann, so daß er dann den Pilzen gleicht, die wir im Walde suchen.
Die Ameisen verhindern aber die Bildung von Fäden, indem sie die sprossenden immer wieder abbeißen, eine Arbeit, die die kleinsten Formen der Saùva Tag und Nacht zu leisten haben. Ja, auch die Ausrottung von ›Unkraut‹ liegt den kleinen Gärtnern ob. Denn mit jedem Blattstück werden ja immer eine Unmenge anderer ›Sporen‹, so nennt man die Fortpflanzungskörperchen der Pilze, eingeschleppt; sie alle müssen sorgfältig entfernt werden. Schaut man auf einen Saùvabau, so sieht man schon von außen die Tätigkeit sich ohne Unterlaß vollziehen; durch ein Loch wandern die Arbeiter mit den grünen Blättern ein, an einem andern erscheinen ebenso ununterbrochen andere, die die verbrauchten Blattmassen zu einem Abfallhaufen aufschütten, und man wird bei diesem Anblick immer wieder an eine Fabrik erinnert oder an ein Bergwerk, wo ebenfalls ständig Abfälle ausgeschüttet werden.
Die Pilzgärten sind die eigentlichen Wohnkammern der Saùva, und die Pilzkohlrabi sind ihre einzige Nahrung. Ich habe, wenn ich einen Saùvabau durchforschte, immer die weißlichen Schwämme vor mir ausgeschüttet, denn in ihnen fand ich alle Formen der Arbeiter, in ihnen auch die weißen, madenartigen, glänzenden Larven sowie die ebenfalls weißen Puppen, an denen man schon die ganze Form der Ameise erkennt. In den Pilzgärten pflücken die Arbeiter die Kohlrabi, fressen sie selbst und füttern die Larven oder andere Arbeiter, die soviel zu tun haben, daß sie selbst nicht zum Fressen kommen. Die Ameisen vollziehen dieses in der Weise, daß sie die zerkaute und durchspeichelte Nahrung in den Mund der andern ausspeien, indem sie Mund an Mund legen. Haben doch die Tiere vor ihrem eigentlichen noch einen ›sozialen‹ Magen! Diesen füllen sie zuerst mit Nahrung an, trotzdem sie ihnen selbst nicht zugute kommt, sondern nur zum Füttern aufbewahrt wird. Erst wenn sie diese, ihre Hauptpflicht erfüllt haben, öffnen sie einen Verschluß zwischen den beiden Mägen, und nun tropft aus dem sozialen auch etwas Nahrung in den persönlichen Magen hinein, die erst jetzt vom Tier verdaut werden kann. Mit diesem sozialen Magen beschämen die Ameisen auch den begeistertsten Sozialisten!«
Auf vielen weiteren Seiten seines Buches führt Professor Günther noch zahllose erstaunliche Einzelheiten aus der Welt der Saùva an. Wie zum Beispiel zur Gründung neuer Staaten die befruchteten Weibchen, die übrigens die Größe stattlicher Hummeln aufweisen, vor ihrer Auswanderung aus dem alten Heim ein Stückchen von der kostbaren Pilzkultur abreißen, wie sie es in einer besonderen Tasche ihres Körpers verwahren und es mit auf ihren, von zahllosen Feinden bedrohten Weg ins Unbekannte nehmen. Ist solch ein Weibchen vielleicht, als einziges von tausenden, allen Gefahren entronnen, hat einen geeigneten Platz zur Ansiedlung gefunden und, als Keimzelle des neuen Staates, sich eine kleine Höhle gegraben, so bringt sie als erstes das Stückchen unersetzlicher Pilzbrut unter und düngt es sofort mit ihrem eigenen Kot, um es zu Wachstum und Vermehrung zu bringen. Da die Kultur noch nicht ertragreich genug ist, um die Larven, die aus den ersten von der jungen Königin gelegten Eiern schlüpfen, zu ernähren, werden sie von der Mutter weiterhin mit ihren eignen frisch gelegten Eiern gefüttert, und diese Prozedur wird fortgesetzt, bis die ersten fertigen Arbeiter aus den Puppen ausschlüpfen, einen Ausgang aus der Brutkammer graben und von draußen Blattstückchen zur Düngung und Vergrößerung der Pilzkultur herbeiholen.
Günther schließt seine Betrachtungen über die Saùva mit den Worten: »Ist es nicht wunderbar, wie die Königin vor ihrer Auswanderung aus dem Stock sich verproviantiert, wie sie aber diesen Proviant nicht frißt, sondern, um ihn zu hüten, vor dem Mord der eigenen Kinder nicht zurückschreckt, und so den kostbaren Stoff für den zukünftigen Staat erhält? Wahrlich, die Blattschneiderameisen sind ein beredtes Beispiel für das stille Wirken einer inneren Kraft in den Gestaltungen der Natur. Und darum hoffe ich, wird man mir verzeihen, wenn mich die Bewunderung der Tiere immer in meinen Versuchen zu ihrer Bekämpfung störte, trotzdem mir der Staatssekretär (von Brasilien) sagte, wenn ich ein Mittel gegen die Saùva erfände, würde ich sofort Millionär werden. Vorläufig gibt es ein solches Mittel nicht. Eine Vergasung des Baues, ein Hineingießen von Schwefelkohlenstoff tötet immer nur einen Teil des ausgedehnten Staates; auch dämmen die geschickten Tiere sofort ihre Gänge ab oder errichten gar einen zweiten Bau, worauf sie mit ihrer Brut und ihren Pilzgärten, nachdem sie letztere in Stücke geschnitten haben, umziehen. Bei solchen Umzügen hat man voller Staunen gesehen, wie die Tiere, auf Erhebungen des Bodens angelangt, ihre Lasten herabrollen ließen, die dann andere Arbeiter in Empfang nahmen, wodurch das Tempo der Umsiedlung beschleunigt wurde. Furchtbar ist allerdings der Schaden durch die Saùva. Mancher Pflanzer schon wollte verzweifeln, wenn er an einem Tage eine frischgepflanzte Baumschule fröhlich wachsen sah und am nächsten Morgen nur noch kahle Stämmchen erblickte. Ihm darf man freilich nicht mit dem Trost kommen, die Zerstörer seiner Kulturen gehörten zu den wunderbarsten Tieren der Erde!« ...
In den nächsten Tagen konnten wir uns von vielem, was der Gelehrte über diese »wunderbarsten Tiere« der Erde anführte, persönlich überzeugen. Die Tage, da wir draußen im Urwald von Utinga die unterirdische Welt der Saùva ausgruben, die Werke ihrer Bewohner und diese selbst in ihren mannigfaltigen Formen und Stadien der Entwicklung von dem rastlos surrenden Mechanismus unserer Kamera aufgenommen wurden, gehören zu den erfülltesten und unvergeßlichsten meines Lebens.
Neben einem bitteren Fehlschlag, den wir jedoch nachträglich beheben konnten, kosteten uns die Aufnahmen nicht nur die landesüblichen Ströme von Schweiß, sondern auch solche von Blut. Auch diese Seite der Angelegenheit hatte der Professor in seinem Buche mit der Bemerkung erwähnt, daß ihm und seinen Helfern beim Ausgraben bald das Blut von Händen und Beinen in Bächlein herabgeronnen war. Die Soldaten der Saùva beißen mörderisch, und gerade wie die Feuerameisen lassen sie dort, wo sie einmal ihre Zangen eingeschlagen haben, »ums Verrecken« nicht mehr los. Buchstäblich ums Verrecken, denn jeder der Angreifer ließ sich bei dem Versuche, ihn mit Gewalt zu entfernen, lieber den Hinterleib abreißen, als die Zangen zu öffnen. So mußten wir zuletzt einen unserer drei Arbeiter ausschließlich dazu anstellen, ständig die in unsern Körpern festgebissenen Vaterlandsverteidiger mit Tabakbeize zu betupfen; die Betäubung, in die die Insekten durch die giftige Brühe versetzt werden, bewirkt, daß sie den Griff ihrer Zangen lockern.
Bevor wir an die Zerstörung des wundersamen Staatsgebildes dieser Insekten gingen – ein Unternehmen, bei dem ich immer wieder eine innere Hemmung überwinden mußte – hatten wir noch den Ausschneide- und Transportbetrieb mit allen Einzelheiten aufgenommen. Da wir ja mit unsern schweren Kameras den Ameisen nicht gut in den Wipfel des fünfundzwanzig Meter hohen Baumes nachklettern konnten, kriegten wir sie nach vielen vergeblichen Versuchen endlich dahin, ihr Material aus dem Laubwerk zu schneiden, das ihnen Manuelo droben in der Baumkrone abhackte und hinunterwarf. Um sie auf dem beschatteten Boden filmen zu können, war es wiederum erst nötig gewesen, durch Ausschlagen ringsum notdürftig Licht zu schaffen; auf dem Bauche hinter der Kamera liegend, dauernd von den Saùvasoldaten und von tausenderlei anderem Viehzeug, das die Sache gar nichts anging, gebissen und gestochen, drehten wir erst das Ausschneiden, verfolgten dann mit der Kamera die Trägerkolonnen auf ihrem Wege zum Bau, und nahmen alle die zahllosen Hindernisse in Gestalt von umgestürzten Riesenstämmen, Haufen von moderndem Holz, Dickichten von Stauden und Lianen, Wurzelknollen und Moospolstern auf, die sie zu überwinden hatten, bis sie auf ihre gebahnte Straße am Rande des Dschungels kamen. Es war eine Strecke von reichlich sechzig Meter. –
Eines späteren Tages erwähnte der versoffene Dr. Hentschel einmal, daß er seinerzeit erst einen leergehenden Saùvaträger, und dann einen samt seiner grünen Last auf einer Präzisionswaage gewogen und eine Berechnung angestellt hatte. Nach deren Ergebnis würde die Arbeitsleistung dieser Insekten, auf unsere Größen- und Gewichtsverhältnisse übertragen, bedeuten, daß ein Mensch von morgens sechs bis abends sechs, ohne jede Pause, und im Tempo eines trabenden Pferdes, über Bäume, Häuser, Felsen und Schluchten hinweg dreißig Kilometer weit zu seiner Arbeitsstätte rasen, dort in ebensolchem Tempo eine Last von siebenhundertfünfzig Kilo aus dem Rohmaterial herausarbeiten, sie sich auf den Rücken schwingen und damit denselben Weg in derselben Geschwindigkeit zurücklegen müßte – Ecce homo!
Nach Beendigung der Außenaufnahmen drangen wir mit Schaufeln und Spitzhacken in die Labyrinthe des Baues ein. Es war eine wahre Knochenarbeit, denn das Material des Saùvabaues, wohl eine Mischung von Erde und irgendwelchen härtenden Sekreten der Insekten, erwies sich als fast ebenso solide wie das der zahlreichen Termitenhügel, die ich ehemals in Afrika zum Bau von Häusern, Stallungen und Backöfen hatte zertrümmern lassen. Durch einige der freigelegten unterirdischen Anlagen machten wir säuberliche Vertikalschnitte, filmten sie erst als Ganzes, nahmen dann mit größter Vorsicht einzelne Stücke der Pilzkulturen, ganz frisch kompostierte, darauf ältere, die sich in vollem Ertrage der weißlichen »Kohlrabi« befanden, und schließlich gänzlich von Pilzfäden durchsetzte und verbrauchte, die schon bei einer ganz leisen Berührung zu Staub zerfielen, heraus und machten Großaufnahmen dieser Objekte.
Und neben den Zehntausenden von eingeborenen Bürgern des Ameisenstaates, die in wilder Verzweiflung durcheinanderwimmelten und Larven, Puppen und wohl auch Stücke ihrer unersetzlichen Pilzkulturen zu retten versuchten, und den Scharen von Soldaten, die sich in heroischer Selbstaufopferung immer wieder auf Füße und Hände der in ihr Heim eindringenden Ungeheuer stürzten, fanden wir auch fast alle die fremden Gäste vor, die sich laut Professor Günther, mit oder ohne Aufenthaltsbewilligung, ständig in den Saùvabauten aufhalten. Es machte mir eine besondere Freude, als ich darunter zwei Arten feststellen konnte, die ihr Äußeres, um sich vor Entdeckung zu schützen, auf verblüffende Art dem ihrer Saùvawirte angepaßt hatten, und dennoch keine Saùva, ja nicht einmal Ameisen, sondern Käfer waren, und undankbarerweise ihrem Gastvolke die mühsam angebaute Nahrung oder gar die Nachkommenschaft weggefressen hatten. Frau Ruth war, wie sie versprochen hatte, mit uns am nächsten Morgen an Stelle des felddienstuntauglichen Sepp hinausgezogen, hatte die Wache am Kolibrinest übernommen und sie mit unerschütterlicher Standhaftigkeit und Hingabe bis zum Abend durchgehalten. Dabei hatte sie sogar die von Manuelo angeworbenen Holzschläger dahin gebracht, jedesmal, wenn das Vögelchen ankam und sie zu kurbeln begann, sofort die Arbeit zu unterbrechen und sich nicht zu rühren, bis das Tier wieder weggeflogen war, und außerdem hatte sie noch die von Bittner bestellten Reflektoren, die im Laufe des Vormittags draußen angekommen waren, ganz selbständig und so geschickt aufstellen lassen, daß unser Kameramann, der sonst gar nicht zu leichtsinniger Anerkennung der Leistungen von andern neigte, mit der Bemerkung herausplatzte: »Na, ich freß doch 'n Besen, wenn Sie so was wirklich zum erstenmal gemacht haben! Entweder sind Sie früher in irgendeinem Filmstudio in die Lehre gegangen, oder Sie sind eben doch schon mit Ihrem Mann in Ostafrika gewesen und haben dort im Urwald mit ihm Löwen und Tiger gefilmt!«
»Erstens gibt's in Ostafrika keine Urwälder, verehrter Herr Kompagnon, zweitens keine Tiger, und drittens ist meine Frau weder jemals mit mir dort, noch in einer Filmbude gewesen«, sagte ich grinsend, nahm ihr zu ihrer sprachlosen Entrüstung die Tasse Kaffee aus der Hand, die sie eben zum Munde führen wollte, goß sie in meine eigene Gurgel hinunter und fuhr fort: »Die Frau besitzt lediglich ein bescheidenes Maß von praktischem Verstand, dazu allerdings auch ein ungeheures von Begeisterung für so unweibliche Sachen wie das Filmen von fütternden Kolibris und das Photographieren von spazierenschwimmenden Fischfamilien. Ich muß mir also verbitten, daß Sie durch solche unangebrachten Schmeicheleien den Charakter meiner Frau noch mehr verderben, werter Herr Partner, und damit die selbstverständliche ehemännliche Überlegenheit meiner Position gefährden!« Mein Kompagnon aber machte auf diese Auslassungen hin urplötzlich ein finsteres Gesicht, wandte sich mit einem kurzen: »Na, entschuldigen Sie nur, daß ich was gesagt habe; es soll nicht wieder vorkommen!« brüsk ab und marschierte, die Hände in den Taschen, stracks auf die draußen wartende Draisine zu.
Verdutzt schauten wir ihm beide nach und dann einander an. Ruth wollte etwas sagen, doch ich winkte ihr ab und packte stumm und auf einmal wie von einer schweren inneren Müdigkeit befallen, unsere Sachen ein. – Das, was mich bei diesem Manne, mit dem ich zu einem nicht gerade alltäglichen Unternehmen verbunden war, immer aufs neue lähmte, war eine absolute Humorlosigkeit; die stets zutage trat, sobald sein eigenes heißgeliebtes Ich mit in den Spaß hineinbezogen wurde. Dem hatte er noch nie etwas anderes entgegenzusetzen gewußt, als einen jäh hervortretenden tierischen Ernst.
Unter allgemeiner frostiger Schweigsamkeit traten wir den Heimweg von diesem, so hinreißend und ergebnisreich verlaufenen Tageswerk an; als wir jedoch an unserer Straßenecke aus dem Tram stiegen, wurden wir von der verstört dreinschauenden alten Lucy mit der Nachricht empfangen, daß »Senhor José« schon seit heute Mittag Fieber gehabt und gegen Abend dann angefangen hätte, zu phantasieren. Daraufhin hätte sie Essigkompressen in der Küche für ihn zurechtgemacht, als sie aber damit in sein Zimmer gekommen wäre, sei er zu ihrem Schrecken nicht darin gewesen. Das ganze Personal hätte überall, im Hause und auf der Straße, nach ihm gesucht, ihn aber nicht finden können. Zuletzt aber seien Nachbarsleute aufgeregt angekommen und hätten ihnen berichtet, daß sie den jungen Mann, vollständig nackend, soeben auf ihrer Gartenmauer entlangturnen und dabei nach irgend etwas in der Luft herumgreifend gesehen hätten. Als unsere Leute daraufhin in den Garten eindrangen, fanden sie Senhor José bewußtlos, mit gebrochenem Arm und glühendem Kopf, unter einem Feigenbaum liegen. Der schleunigst, von Lucys Mann, herbeigerufene Arzt hatte sofort ein Taxi kommen lassen und Lucy beordert, mit ihm zusammen den Kranken ins Spital zu fahren. Was sie natürlich getan hatte ...
Bis dahin hatte die Alte Portugiesisch gesprochen. Dann zupfte sie mich am Ärmel und setzte unter einem schielenden Blick nach Bittner und mit unterdrückter Stimme auf Englisch hinzu: »Aber denken Sie sich, Mister Heye, als ich zurückkam – und ich habe mich unterwegs wirklich nirgends aufgehalten! – ist Frau Bittner auf mich losgefahren wie der Teufel auf eine verlorene Seele und hat auf mich eingeschimpft, wo ich mich rumgetrieben hätte und warum das Abendessen noch nicht bereit sei! Und sie hat wieder kein verdammtes Wort von dem verstanden, was ich ihr erzählte, denn nach einer Weile kam sie nochmals in die Küche gelaufen und schrie mich an, wo eigentlich der kranke Senhor sei und warum ich mich nicht um ihn kümmerte! – Verzeihen Sie mir die Freiheit, Mister Heye, aber – By Golly! – ich wollte, es wäre diese Lady gewesen, die ich mit einem gebrochenen Arm oder, noch besser, mit zweien, und einem Fieber so heiß wie mein Backofen, hätte ins Spital fahren müssen! – Ist doch wahrhaftig wahr!«
»Quite so, old girl! – Ganz meine Meinung, altes Mädchen«, brummte ich in mich hinein, und mir zuckte es förmlich in den Händen, der »Lady«, die bei unserm Eintritt ins Haus mit einem hochmütigen Kopfnicken und schon wieder tiefbeleidigtem Gesicht an Ruth und mir vorbeirauschte, eine längst überfällige, mörderische und abschließende Ohrfeige herunterzuhauen und dann mit dem vernehmbar geäußerten Gruße Götz von Berlichingens dieses Haus und seinen ganzen ekelerregenden Betrieb zu verlassen.
Wie sich Ruth sogleich am Telephon vergewisserte, war es zum Glück nur ein glatter einfacher Oberarmbruch, den ihr Cousin davongetragen hatte. Er läge noch in sehr hohem Fieber, dem Anschein nach wäre es eine Malaria, aber da er ein ausnehmend kräftiges Herz besäße, sei kaum etwas zu befürchten.
Nach dem Baden und Umziehen gingen wir beide sofort wieder weg, um unser Abendessen heute im Grand Hôtel einzunehmen, machten aber an der Tür fluchtartig wieder kehrt, als wir sahen, daß das Ehepaar Bittner, anscheinend im selben Bedürfnis, heute abend allein zu sein, soeben im Speisesaal Platz nahm. Wir standen noch unentschlossen, ob wir nun nicht doch heimgehen und dort essen sollten, als auf der Straße Papa Landsberger, in Begleitung eines andern Herrn, daherkam. Der Photograph hatte uns erkannt, er richtete anscheinend eine Frage an seinen Gefährten, die jener mit einem Kopfnicken beantwortete, darauf traten die zwei an uns heran, und der alte Herr stellte den Fremden vor als »Herr ...«, und nun folgte ein langer, seltsam klingender Name, den ich erst eine Zeit später, nach wiederholter Nennung, richtig erfaßte. Er lautete »Nimeandajù«, aber obgleich das nichts weniger als deutsch klang, bemerkte sein Träger zu meiner Überraschung in der geläufigen Art des geborenen Deutschen: »Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Herr und Frau Landsberger haben mir schon von Ihnen erzählt.«
Und bei dem eigenartig schwingenden dunkeln Klang seiner Stimme entsann ich mich, daß ich den Mann bereits am Tage nach unserer Ankunft einmal auf der Straße gesehen und mit einem alten Indianer sprechen gehört hatte. Er war mir gleich aufgefallen, ohne daß ich jedoch sagen konnte, wodurch. Seine mittelgroße schmächtige Gestalt war in einen schlichten, vielgewaschenen Khakianzug gekleidet, er trug keinen Hut, sein dunkelblondes, ungewöhnlich langes Haar fiel ihm tief in den Nacken hinab. Gelassen, aber mit bemerkenswert weitausgreifendem und federndem Schritt war er damals gleich darauf weitergegangen, und dieser Schritt hatte mich sofort an den meiner Ndorobbojäger in Afrika erinnert. Das allermerkwürdigste aber waren die dunkeln Augen in dem lederbraunen bartlosen Gesicht des Mannes gewesen, Augen, in denen eine abgrundtiefe, schwermütig versunkene Ruhe lag.
»Herr Nimeandajù war der Mann, mit dem ich einstmals jenen kleinen Film gedreht habe, auf den ich Sie kürzlich aufmerksam machte, Frau Heye. Wie ist es, hätten Sie Lust, uns zu begleiten und bei mir daheim vielleicht noch einen Happen mitzuessen?«
»Sogar mehr als einen. Wir haben nämlich noch nicht zu Abend gegessen«, stimmte ich erfreut zu.
»Oh, so wird es uns ein besonderes Vergnügen sein! Ich möchte Sie nur im voraus bitten, sich doch nicht dadurch stören zu lassen, daß wir eine – äh – daß wir mehrere andere Gäste im Hause haben. Beim Essen wird jedenfalls nur Herr Nimeandajù zugegen sein. – Darf ich Sie bitten, Frau Heye!« sagte Landsberger, bot Ruth mit der Grandezza eines alten Hofrates den Arm und geleitete sie zum Tram hinüber.
»Sie sind Deutscher, Herr ...?« fragte ich meinen neuen Bekannten, von dem mir nun einfiel, daß er laut Ruths damaligem Bericht die höchst ungewöhnliche Mischung von Ethnologen, Eingeborenenkommissar und Indianerhäuptling darstellte.
»Nimeandajù« ergänzte er mit einem flüchtigen Lächeln. »Ja, ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, bin aber bereits mit siebzehn Jahren nach Brasilien gekommen, habe seitdem ständig hier gelebt, und vor fünfzehn Jahren meinen ehemaligen Namen – Leipold – abgelegt«, sagte er, und sonst bis zu unserer Ankunft bei Landsbergers nichts mehr.
Man konnte in der Tat von »mehreren« Gästen in ihrem Hause sprechen, worüber wir beide uns durch einen gegenseitigen raschen Blick verständigten. Zwischen den prachtvollen Königspalmen des Vorgartens waren verschiedene Hängematten aufgespannt, in deren jeder sich eine dunkelgetönte Dame schaukelte, auf dem Platz vorm Haus tollten und krabbelten acht bis zehn Kinder jeder Altersstufe und sozusagen jeder gewünschten Färbung herum, und aus vier Schaukelstühlen auf der Veranda erhoben sich bei unserm Näherkommen mit höflicher Verneigung zwei ältere und zwei jüngere Herren, von denen der eine schwarz, der andere rotbraun, der dritte kaffeebraun und der vierte zimtfarben war. Dazwischen gab es drei Hunde, einen umgeworfenen Korb voll kleiner Katzen, in jeder Ecke einen hysterisch kreischenden Papagei, und unter der Verandatreppe einen hühnerartigen Vogel, der einen eigenartigen glockenhellen Ruf aus- und sofort zu einem Angriff auf Ruths Bein vorstieß. Und auf einem Querbalken unter dem Verandadache außerdem noch einen Affen mit grünlichgrauem Pelz und ungefähr anderthalb Meter Wickelschwanz, der emsig kleingekaute Orangenschalen auf die jungen Kätzchen und die ganze farbige Menschheit herabwarf.
Im Türrahmen erschien Frau Landsberger, rund und rosig wie immer und strahlend vor Freude, begrüßte uns mit einem: »Nu, das nenne ich awwer enne Iewerraschung!«, zog dann die »gleene Rudh« in die Arme, guckte ihr prüfend ins Gesicht und zeterte sogleich los: »Awwer Gind, was is denn das? Sie sehn ja ganz verhungerd aus, un braun sin Se gewordn wie ä Bradhering! Sie sollden sich ä bißchen mehr schonen, denn hier muded man sich leicht zuviel zu – .«
Während ihr Mann eilfertig eine Batterie Aperitifs herbeiholte, winkte sie auch mich näher heran, und mit einer nicht sehr hochachtungsvollen Kopfbewegung nach dem Menschengetümmel vorm Hause hin, legte sie in ihrer unbekümmerten Art los: »Was sagn Se zu der Mischboge da draußn! – Das sin samdunsondersch Verwandte! Nämlich von mein Mann seiner erschden Frau her. Das war enne Brasilianerin aus der Gegend von Manaos. Enne waschechde Caboglo, awwer ä hibsches Frauenzimmer, un sie had ihm ooch ä scheenes Stigchen Geld mid in de Ehe gebrachd. Sie is nu schon dreizehn Jahre dod, awwer was glooben Sie, jedes Jahr gommd ihre ganze Sibbe nach Barà runder, bei uns zu Besuch. Un zwar immer gleich uff drei, vier Monade; das is hierzulande so ieblich! Un jedes Jahr hoffe ich, daß vielleicht nich mehr so viele gomm, denn es missen doch ooch mal ä baar schderben, awwer 's Gegendeil is der Fall, es wärdn immer mehr! Das junge zierliche Ding, was dord Domino schbield, war voriges Jahr noch ä richtigs Gind, und jetzd is es schon mid dem gleenen Schogoladenbübchen angegomm, was da draußen in der Hängemadde schläfd! Und oben im Hause sidzen noch zwee alde Urgroßmidder, die sin zusamm mindeschdens zweehundertfuffzg Jahre ald; un ooch die dengen noch gar nich ans Schderben! – Na, jetzd muß ich awwer machen, daß was zu babbln uffn Disch gommd, sonsd fälld mir das arme Gind hier noch um. Die andern hamm nadierlich ihr Abendbrod schon weg, die machen sich nämlich nischt aus dem, was wir essen!«
Damit schoß sie plötzlich davon. Ruth kicherte amüsiert vor sich hin, ich verplatzte fast über die zwei Urgroßmütter, die zusammen zweihundertfünfzig Jahre alt waren, und auch über das dunkle Gesicht unseres neuen Bekannten huschte wieder ein flüchtiges Lächeln.
»Ist es wirklich so, daß ein Logierbesuch hierzulande gleich monatelang bleibt, Herr Ni ... Herr ...« fragte ich. »Entschuldigen Sie, es ist natürlich einfach lächerlich, daß ich mir Ihren Namen nicht merken kann.«
»Nimeandajù«, ergänzte er wiederum geduldig. »Wenn man nicht mit Indianersprachen vertraut ist, ist das Wort wirklich schwer zubehalten. – Was solche Verwandtschaftsbesuche betrifft, so bleiben sie sogar manchmal jahrelang zu Gast. Die Lebenskosten in diesem Lande sind ja niedrig, und die hiesigen Menschen sind von einer Bedürfnislosigkeit, die für Europäer unvorstellbar ist, und vor allem – diese Menschen haben Zeit! Sie sind der Meinung, daß sie auf der Welt sind lediglich, um zu leben. Nicht um zu arbeiten, etwas zu vollbringen und vor sich zu bringen, wie weiße Menschen denken.«
Er hatte nicht gesagt, »wie wir weiße Menschen denken«, also betrachtete er sich selber nicht mehr als Weißen.
»Aus welcher Sprache stammt Ihr Name, und was bedeutet er, Herr Nime-an-da-jù«, fragte ich noch rasch, das schwierige Wort mit aller Bedachtsamkeit aussprechend, als Frau Landsberger zu Tisch rief.
»Aus der Sprache der Cajuende-Indianer, und er bedeutet ›Vater von uns allen‹. Ich habe acht Jahre in ihrer Mitte gelebt und einiges für sie und für eine Anzahl anderer Stämme am Rio Tapajoz tun können. Teils als Wissenschafter, teils in meiner amtlichen Eigenschaft als Eingeborenenkommissar, das meiste aber, wie ich hoffe, einfach als wohlmeinender Mensch. So betrachten mich die Stämme als ihren obersten Häuptling«, antwortete er in seiner schlichten Art.
»Würden Sie mir gelegentlich etwas mehr über diesen Gegenstand erzählen, Herr Nimeandajù? Eingeborene interessieren mich brennend; ich selbst habe viel mit afrikanischen zu tun gehabt.«
»Ja, gern. Allerdings unter der Voraussetzung, daß Sie das Gehörte nicht schriftstellerisch verwerten, Herr Heye. Sie werden mir glauben, daß ich triftige Gründe für diesen Vorbehalt habe. – Besuchen Sie mich doch einmal daheim, vielleicht im Laufe der nächsten Woche, ja? Sie benutzen das Utinga-Tram bis Haltestelle Botanischer Garten, dort wird Ihnen jeder Mensch mein Haus zeigen.«
Ich kam an diesem Abend zu keinem weiteren Gespräch mit ihm, denn die Unterhaltung wurde fast allein von Frau Landsberger bestritten, allerdings in einer so putzigen Art, daß wir alle aus dem Lachen kaum herauskamen, den so ernsthaft, und eigentlich sogar melancholisch aussehenden weißen Indianerhäuptling inbegriffen. Mir fiel aber immer wieder auf, mit welch tiefem, unterwürfigem Respekt ihn Landsbergers junger indianischer Tischdiener behandelte, und wie der Bursche, wenn er in unbeschäftigten Minuten reglos wie ein Götzenbild am Büfett stand, aus seinen stumpfglänzenden schwarzen Indianeraugen ausschließlich und unverwandt Nimeandajù ansah, den großen Freund seines Volkes, den »Vater von ihnen allen«.
Er verabschiedete sich bald nach dem Essen. Bevor er ging, wiederholte er mir nochmals seine Einladung, und bemerkte so nebenbei, daß er selbstverständlich einverstanden wäre, wenn mir Landsberger den kleinen Film, den er seinerzeit in Gemeinschaft mit ihm gedreht hatte, leihweise oder käuflich überlassen würde. Dann verbeugte er sich kurz, wehrte mit einer Handbewegung ab, als ihn die Gastgeber zur Tür begleiten wollten, und verschwand ebenso still und unauffällig, wie er den ganzen Abend dagesessen hatte.
Die Augen in dem unbeweglichen Gesicht des Dieners waren der schmächtigen Gestalt gefolgt, bis sie draußen im Dunkel untergetaucht war. Auch Ruth und ich sahen ihm schweigend nach, dann sagte Landsberger, gedankenvoll auf den Tisch klopfend: »Wenn der Mann niederschreiben wollte, was er auf seinen zwanzigjährigen Wanderungen in den Urwäldern gesehen und erlebt hat, so würde das ein paar Bände geben so dick wie das Konversationslexikon. Es gibt keinen andern Menschen auf der Welt, der so viel von den Indianerstämmen der Urwälder weiß wie er. – Wie Ihnen bekannt sein wird, hat ja die Wissenschaft noch so gut wie gar keine Kenntnis von ihnen. Die Gebiete des oberen Amazonas gehören zu den unerforschtesten und unzugänglichsten der Erde. Von den Zeiten der portugiesischen Conquistadores bis auf den heutigen Tag sind Tausende von Weißen, die allein oder in ganzen Expeditionen dort hinaufgezogen sind, niemals wiedergekommen, sind im buchstäblichen Sinne des Wortes spurlos in der Wildnis verschwunden. Das Schicksal der letzten und größten dieser Expeditionen, der des englischen Obersten Fawcett, zu der neben den eigentlichen Wissenschaftern Hunderte von Dienern, Soldaten, Dolmetschern und landeskundigen Führern, eine ganze Flotille von armierten Motorbooten und alle nur denkbaren technischen Hilfsmittel gehörten, hat ja jahrelang die Sensation aller Zeitungen gebildet. Noch nicht einmal einen alten Hut von dieser Riesenexpedition haben alle die Suchmannschaften aufgefunden, die schon nach ihr ausgeschickt worden sind. – Aber ich denke manchmal, ob nicht der Mann, der da eben zur Tür hinausging, etwas von dem Schicksal Fawcetts wissen könnte.«
»So, meinen Sie?« fragte ich erstaunt. »Ja, aus welchem Grunde sollte er denn nichts darüber sagen?«
Ohne aufzublicken und weiterhin nachdenklich auf den Tisch klopfend, sagte Herr Landsberger leise: »Diese Frage werden Sie sich wahrscheinlich selber beantworten können, nachdem Sie Nimeandajù näher kennengelernt haben, Herr Heye. Und ich bin überzeugt, daß Sie dann seine Gründe ebenso verstehen und billigen werden wie ich.«