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Nachdem ich jetzt meine erste Arbeitsstelle so Knall und Fall verlassen habe, weiß ich nicht, ob ich das geneigte Publikum bitten darf, mich an die zweite Stätte meiner Wirksamkeit zu begleiten, nämlich ins »Weiße Roß«, wo ich mich bedeutend anders aufgeführt habe als bei Brünnings, die mir trotz meines Davonlaufens und meiner hohen patriotischen Ansprüche nicht nur ein gutes Zeugnis ausstellten, mir nachträglich meinen Lohn auszahlten, sondern sogar den Mut hatten, mich später nochmals zu engagieren, was doch ein kleiner Beweis ist, daß die Leute mit mir zufrieden gewesen sein müssen. Die Weiße-Roß-Frau, Frau Ziel, legte freilich auf gute Zeugnisse kaum einen Wert, es genügte ihr vollauf, daß ich ihr meine Lust zum Hotelbetrieb bekannte und daß es mich freuen würde, wenn in ihrem Hause möglichst viel aus und ein ginge. Was ich zu arbeiten hatte? Ein bißchen überall, Zimmer-, Küchen- und Wirtschaftsdienst. Ob ich in der Wirtschaft, die zugleich Restaurant war, servieren müsse? Nein, nein, das besorgten Frau und Herr Ziel selber. Ich hatte nur morgens beim Aufräumen des Lokals zu helfen und nachmittags, falls es nötig war, die Gläser zu putzen.
Unser Hotel lag noch in der Vorstadt am Marktplatz, nach meiner Ansicht an einem höchst wichtigen Knotenpunkt des Verkehrs. Werft und Gasanstalt lagen in der Nähe, der Hafen war nicht weit weg. Das Militär zog hier vorüber, um außerhalb der Stadt seine Übungen zu machen. Hier 266 war, direkt vor unserem Hotel, alle acht oder vierzehn Tage großer Viehmarkt, was ein bedeutsames geschäftliches Ereignis war, das mich jedesmal höchst persönlich anging. Pferdehändler und Markttreiber logierten bei uns, und hatten sie gute Geschäfte gemacht, bekam ich öfter Trinkgeld, weil ich die Schuhe blitzblank putzte und die Zimmer aufräumte. Ich legte mir daher schleunigst ein Sparbüchel an und ließ alle paar Tage Eintragungen von zwei bis drei Mark machen, denn die vielen Zahlen untereinander sahen recht imposant aus. Selbst der Bankbeamte, der mein Guthaben sorglich notierte, meinte, daß ich es auf diese sparsame Weise gewiß noch weit bringen würde in der Welt. Den Lohn gab ich allerdings daheim zum Aufheben oder zur gelegentlichen Verwendung für Mutter ab. Mit dem Sparbuch aber glaubte ich den Eltern eine besondere Freude zu machen, da man ja in der Zeit sparen mußte, um in der Not zu haben. Ich stand mich sehr gut bei Ziels, und dies nicht nur in finanzieller Hinsicht.
Wir hatten eine liebe Mamsell, Berta, die ich für eine Kochkünstlerin ersten Ranges hielt, weil sie eine Mockturtlesuppe zu kochen verstand, eine so sehr feine Suppe, wie ich sie bisher noch nie gekostet hatte. Ich lernte Pasteten kennen, das war ein Blätterteig, der vorgewärmt und mit zarten Erbsen und feinem Kalbfleisch gefüllt wurde, und das war nur eine sogenannte Vorspeise. Dann aber gab's Zwischen- und Hauptgerichte, Nachspeisen und Dessert. Nie hätte ich gedacht, daß Pferdehändler so vornehm zu Mittag äßen, zumal sie in ihrer derben, etwas ländlichen Kleidung gar nicht immer danach aussahen, als seien sie verwöhnte Leute. 267
In der Mittag- und Abendstunde hatte ich den Aufzug zu bedienen, in dem die Speisen von der Küche aus direkt ins Restaurant geleitet wurden. Von oben wurden Zettel mit Bestellungen nach unten geschickt, die ich Mamsell zu übergeben hatte. Die gebrauchten Teller hatte ich aus dem Aufzug zu holen, sie durch saubere zu ersetzen. Die großen Platten hatte ich zu garnieren mit Zitronenscheiben, Petersilienbüscheln, Gurken, Butterkugeln usw., was mir schon beinahe als eine kunstgewerbliche Beschäftigung vorkam, in die ich mich mit Vorliebe vertiefte.
Es gefiel mir hier viel besser als bei Brünnings. Hier gab es keine langweilige Zeiteinteilung, da wir stets auf unvorhergesehene Arbeiten gefaßt sein mußten.
»Helga, wenn Sie jetzt nicht dazu kommen, unser Schlafzimmer aufzuräumen, lassen Sie es ruhig liegen.« So rief Frau Ziel mir durch den Aufzug in die Küche hinab. Gewiß, ich wollte ja schon das Schlafzimmer in Ordnung bringen; aber es war nahezu interessant, wenn man es bis fünf Uhr nachmittags »ruhig liegen lassen« durfte. Das Wohl der Gäste ging vor, und das Unberechenbare dieser Wirtschaft machte mir Vergnügen. Ich schlief gleich neben der Küche, die sich im Kellergeschoß befand, hatte hier mein eigenes Zimmer. Hatte ich mich gegen halb elf Uhr abends zur Ruhe begeben, kam manchmal Mamsell gegen Mitternacht an mein Bett, weckte mich sehr rücksichtsvoll, indem sie mich leise an der Schulter berührte: »Ach, Helgalein, es tut mir so leid, aber darf ich Sie nochmals wecken? Denken Sie, es ist eine große Gesellschaft oben, wahrscheinlich die Herren vom 268 Kegelabend, die kalten Aufschnitt möchten. Es sind auch drei Kotelette garniert bestellt. Mögen Sie mir helfen?«
»Aber mit Vergnügen«, rief ich und fand es ungemein anregend, daß ich unentbehrliche Person nachts aus dem Bett geholt wurde. Hatten wir dann nach vielem heißen Hin und Her endlich abgewirtschaftet, saß ich manchmal noch bis gegen ein Uhr plaudernd neben Mamsell. Gundel, das Aushilfsmädchen, das etwas schwächlich war, ging meistens früh schlafen.
Mamsell war vielleicht schon dreißig Jahre alt, eine zierliche, feste Figur, immer sehr sauber angezogen, jeden Morgen mit einer frischen weißen Schürze und einem weißen dreieckigen Kopftuch, das ihr braunes, streng gescheiteltes Haar nicht ganz verdeckte. Man sah den Scheitel über der schön gewölbten hohen Stirn und rückwärts die langen Flechten, die schlicht und fest am Kopf anlagen. Wie die nette äußere Erscheinung dieses Mädchens mir gefiel, so das Wesen noch mehr. Sie konnte noch so sehr beschäftigt sein, wenn vom Restaurant her eine Bestellung nach der andern kam, sie bewahrte stets ihre Ruhe. Sie tat unentwegt das, was getan werden mußte, ohne unnötige Worte zu verlieren. Diese Geistesgegenwart wirkte wohltuend auf mich ein, mehr noch, sie übertrug sich. Sie hatte für das Arbeitspensum, das erfüllt werden mußte und zu dem ja immer noch Unvorhergesehenes kam, einen überaus klaren Blick. Sie verstand nicht nur über ihre eigenen Arbeitskräfte, sondern auch über unsere zu disponieren, und was mir besonders auffiel, sie wußte die Arbeitskraft auch zu schonen, 269 so daß wir uns nicht unnötig verschwendeten. Vielleicht wird der eine oder andere Leser denken: Was besagt dies alles in einem kleinen Bereich? Doch kann man sich am Kleinen für ein Größeres üben, und von einem weiteren Standpunkt aus betrachtet, kommt es bei einer Arbeit nicht auf klein und groß, hoch oder niedrig an, sondern auf die Treue, die daran verwandt wird. Die Treue und Zuverlässigkeit war es, die mir die größte Hochachtung vor Mamsell abnötigte. Meine Zuneigung aber besaß sie, weil ich deutlich spürte, daß sie ein wirklich frommer Mensch war. Dies prägte sich freilich weniger in Worten als in Taten aus. Es waren ja vielleicht keine so besonders großen Taten, wenn Mamsell das ausgekochte Suppenfleisch den armen Leuten gab und ihnen auch sonst noch mancherlei aus der Küche überließ; aber sie machte das so nett, und die armen Leute, die in unsere Küche kamen, um sich etwas abzuholen, waren Mamsell so sehr dankbar. An dieser herzlichen Dankbarkeit spürte man die Not, die es in der Welt gab und die Mamsell, soweit sie es vermochte, linderte. Wenn jeder es genau so machte wie Mamsell Berta, damit war schon etwas gewonnen. So dachte ich.
Mamsell war verlobt, mit einem Krankenpfleger, der zu Hamburg im Eppendorfer Krankenhaus seinem Beruf nachging. Ein Bild von ihm bekam ich nicht zu sehen, darum hatte ich eine etwas biblische Vorstellung von diesem jungen Mann. Er sah aus wie der barmherzige Samariter in meinem Kinderbuch, jener Mann, der die Wunden eines Wanderers auswusch und verband. Mamsell war mit dem Mann des Mitleids verlobt. Sie hatte eine 270 gute Wahl getroffen. Jetzt verdiente sie fürs Heiraten, hatte ein Sparbuch, auf dem allerdings etwas überflüssig viel Geld stand, nämlich eine Unsumme von nahezu dreitausend Mark, doch konnte es nicht schaden, daß Mamsell so reich war. Sie war keine Sklavin des Geldes. Sie trachtete am ersten nach dem Reiche Gottes, und nur aus diesem Grunde waren ihr die dreitausend nach und nach zugefallen, die sie sicher später einmal nach und nach den ganz armen Kranken zukommen lassen würde, denn Mamsells Ausstattung konnte nicht so viel kosten. Sie würde als Krankenköchin nur ein oder zwei Zimmer haben, einfach, aber nett. Vielleicht würde sie sich einen Vertiko mit Umbau anschaffen, oder ein Büfett, auf dem man einige Bücher aufstellen konnte, so für sonntags zum Lesen. Die ganze Woche über stand Mamsell am Herd, während der Mann die Kranken pflegte. Ein liebes Ehepaar, zwei Menschen, die ihr Leben in den Dienst der leidenden Menschheit stellen würden, eine bewundernswerte Aufgabe.
Das Schönste war, daß Mamsell katholisch war. Sie erzählte mir das so schlicht und leichthin, als wäre das nichts allzu Besonderes, mich aber machte dieser Umstand tief glücklich. Es war beinahe ein Geschenk, das sie mir persönlich machte. Gewiß, Mamsell war für sich katholisch, aber sie war es auch ein bißchen für mich mit. Wenn sie nun spät abends, da alles sich schon zur Ruhe begeben hatte, sich mit mir noch zur Erholung ein wenig gütlich tat und ich ihr den Gefallen erwiesen hatte, meine Meinung über schöne und praktische Zimmereinrichtungen mitzuteilen und ihr meine besten Tips gegeben, suchte ich das Thema auf 271 ein Gebiet zu lenken, das mir mehr am Herzen lag als alle Zimmereinrichtungen der Welt.
Das war keine »Nebenbeiangelegenheit« von mir, dies wußte ich ganz genau, und dennoch war es etwas, das nur von Zeit zu Zeit in mir auftauchte, um aus unerklärlichen Gründen wieder zu versinken. Es war das Verlangen, die Unruhe nach Gott, das nicht genügend Nahrung empfing, aber ich wußte es nicht, daß es dies war. Manchmal brach etwas ungestüm aus mir hervor. Ich umarmte Mamsell mit meinen Blicken. Meine Augen liebkosten diese kleine, nette Gestalt, und ich sagte voll Sehnsucht: »Ach, Mamsell, Sie haben's gut, Sie gehören der Gemeinschaft der Heiligen an. Sie sind doch so tüchtig, Mamsell, und überall wissen Sie Bescheid. Sie kennen so viele Kochrezepte und wissen sogar, wie Kranke ernährt werden müssen, um wieder gesund zu werden. Der eine braucht dies, der andere braucht jenes, und wie es mit der Ernährung beschaffen ist, das kennen Sie ganz genau. Und zu allem Überfluß hat der liebe Gott Sie noch obendrein katholisch gemacht, und zwar gleich bei der Geburt. Vielleicht ehe Sie geboren wurden, lange vorher. Darüber weiß man ja nichts, aber Sie haben doch ein Schicksal und das ist wohl etwas, dem man nie ausweichen kann. Oder meinen Sie, daß man es kann?«
Und nach solcher Rede, die noch viel länger war, als ich es hier anführen mag, fragte Mamsell:
»Ja, was wollen Sie denn eigentlich?«
»Aber, Mamsell, welche Frage! Was kann ich denn wollen? Ich will, was alle Welt will. Ordentlich leben und einmal selig werden. Ich möchte einmal in den Himmel kommen, das ist doch logisch.« 272
Mamsell lächelte: »Was drängeln Sie denn so? Es hindert Sie doch niemand. Wenn Sie die Menschen um Gottes willen liebhaben und danach Ihr Tun und Lassen stets einrichten, wird es ja schon gehen.«
»Sie haben leicht reden, Mamsell. Sie sind katholisch, aber ich, ich bin rein gar nichts.«
Mamsell schwieg betreten und fragte leise nach einiger Zeit: »Glauben Sie denn nicht, was Ihr Bekenntnis Sie gelehrt?«
»Selbstverständlich. Ich glaube alles. Nur noch ein bißchen dazu. Ziemlich viel dazu. Ich möchte es aber richtig machen, das ist doch klar . . . Mamsell, haben Sie nicht ein Buch, das Sie mir leihen können und in dem ich mal nachlesen kann?«
»Was möchten Sie haben?«
»Ich weiß es nicht. Sehr gerne möchte ich eine Anweisung, ein Buch, in dem die heilige Messe erklärt wird. Ich möchte auch Einzelheiten wissen: Warum der Priester einmal ein weißes, ein andermal ein rotes Schmetterlingskleid trägt, und was es bedeutet, wenn der eine Priester den andern umarmt und sich diese Umarmung fortsetzt, weitergegeben wird. Das ist sehr schön. Aber ich weiß nicht, warum das alles.«
»Ja, ich will Ihnen gern mein Meßbuch leihen, aber mit allem andern, was Sie sagen, müssen Sie warten lernen. Es kommt alles zur rechten Zeit.«
Mamsell bekam ihr Meßbuch nur wieder, wenn sie es dringend nötig brauchte, nämlich nur, wenn sie sonntags die Kirche besuchte, dort, wo sie jedesmal Grüße von mir ausrichtete, Mitnehmen wollte Mamsell mich nicht, doch geschah es lediglich aus 273 Fürsorge, daß sie meine Bitte, mich mitzunehmen, ablehnte. Sie fürchtete wahrscheinlich, ich könne in einen inneren Zwiespalt geraten, in dem ich mich vielleicht schwer zurechtfinden würde. Für mich selbst lag freilich alles sehr einfach. Ich glaubte ja genau dasselbe, was meine Eltern glaubten, und diesen gegenüber wollte ich gelegentlich die Mutter Gottes ins rechte Licht rücken, und dann waren wir katholisch. Mehr war nicht nötig. Sprach ich mich nach dieser Richtung hin zu Mamsell aus, sagte sie mir:
»Das muß die Mutter Gottes selbst machen. Das können nicht Sie.«
»Selbstverständlich nicht, aber etwas kann ich doch vorbereiten. Entschuldigen Sie mich, bitte, allenfalls bei der Mutter Gottes, daß ich noch nicht kommen kann. Wollen Sie dies für mich tun?«
»Ja, ja, gewiß, darauf dürfen Sie sich verlassen.« Und dann war es beinahe so gut, als wäre ich selbst in der Kirche gewesen.
In meiner Stube hatte ich mir einen kleinen Hausaltar errichtet, der mir große Freude machte. Ich besaß ja ein Bild von der Mutter Gottes und eines vom heiligen Aloisius. Die Bilder waren eigentlich zum Aufhängen bestimmt. Ich aber liebte die Bilder stehend hinter kleinen, mit geblümtem Seidenpapier bedeckten Schachteln aufzustellen. Die Mutter Gottes stand, mit Verlaub zu melden, auf einem großen Hutkarton, der mit einer weißen Serviette bedeckt war. Dies war gleichsam der Hauptaltar, auf dem sich zu beiden Seiten der Gottesmutter zwei kleine Kerzenhalter mit Lichtern befanden. Dann aber hatte ich auch Stufen 274 angelegt, die mit rotem Stoff bedeckt waren. Auf der obersten Stufe stand der heilige Aloisius zwischen Blumen, die in sehr kleinen zierlichen Vasen standen. Auf der zweiten Stufe hatte ich ein kleines Bild von Schiller, dem Dichter der Jungfrau von Orleans, den ich sehr verehrte. Er war zwar kein Heiliger, aber so streng konnte ich es noch nicht nehmen. Auf der dritten Stufe standen die Photos, die ich aus Mutters Album genommen hatte, die beiden Lieblingsbilder aus meiner Kinderzeit, die »von Gott« und »zu Gott« darstellten. Ganz tief unten war eigentlich keine Stufe mehr, doch besaß ich einen schwarzen chinesischen Handschuhkasten, der so vornehm war, daß er wirklich gut hierherpaßte. Dieser kleine Aufbau befand sich sehr tief, unmittelbar am Steinboden, der hier mit einer Bettvorlage belegt war, auf der ich abends saß, die heilige Messe zu lesen, denn morgens hatte ich nicht die Zeit dazu. Hier hockte ich oft stundenlang wie ein Kind vor seinem Spiel, mir bei dem winzig Kleinen das Große vorstellend.
Nach und nach schrieb ich mir auch die heilige Messe ab, und dadurch, daß ich die Worte einzeln niederschrieb, hoffte ich auch, sie mir einzuprägen. Ich will hintreten zum Altare Gottes: Zu Gott, der meine Jugend froh macht. 275