Emmy Ball-Hennings
Blume und Flamme
Emmy Ball-Hennings

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Im Hause Brünning

Im Hause Brünning gab es einen weitausgedehnten, nicht leicht überblickbaren Betrieb. Wahrscheinlich ging es in einem lebhaften Hotel ruhiger zu als bei uns. Wir hatten zwei Etagen, eigentlich vier Wohnungen, und nicht weniger als vierzehn Zimmer, die fortwährend benutzt wurden, infolgedessen fortwährend gesäubert werden mußten. Brünnings hielten nämlich ein Knabenpensionat, was unabsehbar viel Arbeit machte. Gleich in den ersten Tagen merkte ich, daß ich für die Kinder so gut wie keine Zeit übrig hatte, da ich an allen Ecken und Enden im Haushalt gebraucht wurde. Es waren außer mir noch zwei Mädchen da, Liese, die Köchin, und Hilde, das Zimmermädchen. Die gesamte Wäsche, auch die der vierzehn Pensionäre, wurde im Hause besorgt, gewaschen, gebügelt und ausgebessert.

Unsere Pensionäre, im Alter von zehn bis neunzehn Jahren, besuchten das Gymnasium oder die landwirtschaftliche Schule. Die Pensionäre waren im oberen Stockwerk untergebracht, in sechs Zimmern. Nur zu den vier Mahlzeiten wurden die Schüler durch ein Glockenzeichen zu Tisch gerufen und kamen mit Gepolter und frohem Hallo die Treppe herab. Die vielen ungewohnten Glockenzeichen waren eigentlich das Erste, was mich in Verwirrung brachte. Ich hatte auf verschiedene Zeichen zu hören, die ich mir zwar ziemlich rasch merkte. In meiner anfänglichen Übergewissenhaftigkeit jedoch war ich geneigt, bei jedem Glockenzeichen irgendwo hinzueilen, auch wenn 213 der Ruf gar nicht mir galt. Sogar auf der Straße, wenn ich Besorgungen zu machen hatte, war's, als gelte das schrille Läuten der Straßenbahn mir.

Bei Tisch hatte ich zusammen mit Hilde zu servieren, doch hätte ich viel darum gegeben, wenn man mir diese Arbeit erlassen hätte, was selbstverständlich nicht möglich war. Da ich im Servieren mich infolge meiner Erregung nicht sonderlich geschickt anstellte, war es für die Schüler ein wahres Vergnügen, mir zuzusehen, wie ich, natürlich mit todernstem Gesicht und heiß vom Herd, bei dem ich nebenbei auch beschäftigt war, eine Riesenschüssel auf dem gestreckten Unterarm vor mir hertrug, um von links die Speisen anzubieten. Hilde hatte mir eingeschärft, daß ich unbedingt von links die Schüsseln anbieten müsse, und hier ging es mir manchmal ähnlich, wie es mir einmal als ganz kleines Mädchen gegangen war. Ich konnte schlankweg vergessen, was rechts und links war. Ich bemerkte jedoch meinen Fehler, sobald ich ihn gemacht hatte, und wenn einer der Schüler schon im Begriff war, sich von der Speise zu nehmen, die ich unrichtigerweise von rechts anbot, warf ich einen raschen, verstohlenen Blick auf Frau Brünning, die neben ihrem Gatten am obersten Ende der Tafel saß und mir unauffällig zusah, und raunte dem Schüler leise zu: »Bitte, warten Sie noch einen Augenblick.« Und dann kam ich mit meiner Schüssel von der anderen Seite daher. Es läßt sich denken, daß junge, zum Scherzen aufgelegte Menschen sich dieser komischen Kleinigkeiten wegen köstlich über mich amüsierten. Ich aber, die ich meine Aufgabe um einige Grade zu ernst nahm, kam aus der Verlegenheit nicht 214 heraus. Um dem Übel abzuhelfen, gab ich mir große Mühe, mir etwas mehr Geschicklichkeit anzueignen, und als mir dies nach vierzehn Tagen gelang, war die Jugend sichtlich enttäuscht, weil ich nicht mehr genügend Anlaß zum Lachen bot.

Dann aber begann die spottlustige Gesellschaft sich andere Scherze zu erlauben. Ich war nämlich diesen halben Knaben gegenüber sehr schüchtern und behandelte sie, soweit ich mit ihnen zu tun hatte, um ein paar Töne zu respektvoll, was eher drollig wirken mußte. Sehr bald kam ich dahinter, daß man mir einen Spitznamen gegeben hatte, und zwar meines rötlichen Barchentkleides wegen, wie ich vermutete, denn sie nannten mich untereinander »das kleine Morgenrot«. Das war harmlos gemeint, aber es verdroß mich, wenn ich einen Schüler zum andern leise sagen hörte: »Schade, daß das kleine Morgenrot nie mehr von rechts kommt.«

Oder einer bemerkte gutgelaunt: »Sagen Sie nur, was habe ich von diesem jungen Gemüse zu halten?«

»Kosten Sie davon, dann werden Sie es wissen.« Gab ich schnippische Antworten, war es beinahe noch schlimmer, und die Knaben lachten laut heraus, so daß Herr Brünning sie manchmal zurechtwies und mir beruhigend sagte: »Kümmere dich nur nicht um diese ausgelassene Gesellschaft da unten.« Die Jüngeren saßen nämlich unten am Tisch, während die etwas Älteren in der Nähe von Herrn und Frau Brünning sassen. Umgekehrt wäre es freilich für mich besser gewesen.

 

Ich will jetzt einiges von den Menschen erzählen, mit denen ich mein Zimmer teilte, von Liese und 215 Hilde, mit denen ich unmittelbar zu tun hatte und die mir, der Jüngsten, auch Arbeiten aufzutragen und also zu befehlen hatten. Unserer Köchin Liese hatte ich beim Gemüseputzen zu helfen, ihr mit kleinen Handreichungen am Herd beizuspringen, Einkäufe für die Küche zu machen und unter ihrer Aufsicht das Essen für die kleinen Kinder zu bereiten. Ich hatte reichlich Gelegenheit, viel Nützliches von ihr zu lernen, wie ich überhaupt begann, meine Umgebung nur darauf hin anzusehen, was ich von ihr lernen konnte. Es waren aber nicht nur die äußeren alltäglichen Verrichtungen im Haushalt, die ich mir aneignen wollte, vielmehr hoffte ich beinahe noch mehr, aus dem Wesen der Leute zu lernen, und damit hielt es zunächst recht schwer.

Liese war eine dunkelhaarige, derbknochige Person von siebenunddreißig Jahren. Sie stammte aus Ostpreußen und hatte, obwohl sie viel anderswo gelebt hatte, sich völlig den Dialekt ihrer Heimat bewahrt. Sie hatte ein rauhes, nicht angenehmes Organ, eine laute Stimme, die sicher jedem auf die Nerven gegangen wäre. Verstand ich manchmal ihre Küchenfachausdrücke nicht recht, glaubte sie, dies läge an meinem Gehör, und wiederholte sie nur noch lauter. Daß das Geschirr an den Wänden nicht zitterte, wenn Liese mich anschrie: »Ich sagte dir doch, eine Prise Salz, du dummes Schaf!«

»Schaf« war noch einer meiner sanftesten Titel. Betrübt dachte ich an die Brise der Ostsee, die oft meine Stirn berührt hatte wie ein kühler, würziger, weicher Kuß, und begann zu weinen.

Ich setzte mich auf den Stuhl und glaubte, ich 216 könne keine Luft bekommen in dieser heißen Brodelküche.

»Ja, was ist denn? Gedenkst du dich zur Ruhe zu setzen?«

»Aber, Liese, ich weiß nicht, was eine Prise ist. Einmal muß man es doch auch zum erstenmal erfahren, denke ich.«

»Das! Das ist eine Prise!« Dabei langte sie mit der Hand aus, um mir eine Ohrfeige zu versetzen. Ich schrie auf. Es war genau wie in der Rechenstunde. Ich war drauf und dran, in meinem roten Kattunkleid, wie ich ging und stand, in die weite Welt zu laufen. Ich wollte mich nicht anrühren lassen. Schreien konnte man mit mir, so viel man Lust hatte. Daran wollte ich mich gewöhnen. Aber schlagen ließ ich mich von keinem Menschen. Bereit war ich zurückzuschlagen und fühlte die Kräfte einer jungen Bärin in mir.

Herr Brünning, der das Geschrei im Wohnzimmer hörte, kam herbeigeeilt: »Was ist denn hier los?«

»Herr Brünning, Herr Brünning, ich weiß nicht, was eine Prise ist. Bitte, schützen Sie mich.«

Herr Brünning, ein großer, breiter, blonder Mann mit wallendem Vollbart, nahm meine Partei und stellte Liese zur Rede, was natürlich ihre Sympathie für mich nicht erhöhte. War das Gewitter vorüber, suchte ich wieder Liese in gute Laune zu bringen, indem ich meine Arbeiten so ordentlich machte, als ich es nur konnte.

Einmal entdeckte Liese, mit Verlaub zu melden, eine Laus in meinem Haar, eine winzige, kleine Laus, die ich irgendwo aufgelesen haben mußte, denn ich hatte sie mir ja nicht eigens auf den Kopf 217 gesetzt. Liese aber benahm sich, als hätte ich ein unverzeihliches Verbrechen begangen. Sie bauschte die Sache auf, als sei diese kleine Laus geradezu ein Charakterfehler von mir.

Es war in der Mittagsstunde, kurz vor dem Essen, und trotz der vielen Arbeit konnte Liese es sich nicht versagen, Frau Brünning sogleich in die Küche zu rufen, um ihr die Mitteilung zu machen, daß sie in meinem Haar eine Laus gesehen habe. Frau Brünning machte ihrer Entrüstung in den heftigsten Vorwürfen Luft. Die Situation war mir maßlos peinlich, obwohl ich genau wußte, daß mein Haar sauber war, was ich laut weinend Frau Brünning erklärte.

»Es juckt mich doch gar nicht. Hätte ich mehr als eine Laus, würde ich es doch merken.«

Darauf warf Frau Brünning mir zu: »Du hast dich eben schon daran gewöhnt.«

Das war mir zuviel. »Nein! Ich gehöre nicht zu jenen, die sich an etwas gewöhnen. An gar nichts gewöhne ich mich. Ich kann doch nichts dafür, daß diese kleine Laus sich zufällig zu mir verloren hat.«

»Schöner Zufall!« wurde ironisch erwidert.

»Sie hätte genau so gut zu einer von Ihnen gehen können. Es ist nicht meine Schuld, daß das Tierchen sich gerade mich ausgesucht hat.«

Die Küchentür stand weit geöffnet, die Schüler, die oben in ihren Zimmern den Lärm gehört hatten, kamen die Treppen herabgeeilt und stellten sich neugierig im Vorplatz auf, um zu sehen, was es bei uns gebe. Hilde, die auch herbeikam, fand die Szene mehr komisch als ernst, während ich so unglücklich war, daß ich mir gar nicht zu helfen 218 wußte. Daß die Menschen nicht begriffen, wie maßlos peinlich mir das alles war!

Da ich mich also umringt sah, mich von allen Seiten angaffen lassen mußte, ging plötzlich mein Temperament mit mir durch, so daß ich mich zu Worten hinreißen ließ, die mitten in der Küche zwischen dampfenden Kochtöpfen wohl recht befremdlich wirken mußten:

»Hört! Ich stamme aus einem sauberen Hause und habe noch nie mit Ungeziefer zu tun gehabt. Jetzt will Liese eine Laus an mir gesehen haben, und vielleicht habe ich irgendwo eine erwischt. Es gibt ja Läuse in der Welt. Warum soll nicht mal eine zu mir kommen? Eine Laus ist jedenfalls harmloser als ein Mensch. Eine Laus kann nicht so abscheulich, nicht so böse sein, wie Menschen es sein können.«

Ein paar Knaben, die nichts davon verstanden, wie ich mich quälte, mußten über diese unerwartet pathetische Rede, die von den entrüsteten Ausrufen von Frau Brünning und Liese begleitet wurde, etwas lächeln, und dieses Lächeln steigerte meine Erregung noch mehr, und eine Empörung schwoll in mir an, blitzartig, im Nu, so daß ich nicht fähig war, diese länger zu bändigen.

»Was geht euch meine Laus an? Es ist Gottes Geschöpf, und ich kann es leben lassen, wenn ich will. Und ich will. Jawohl, ich will!«

Mit diesen Worten eilte ich zur Tür hinaus, doch gerade in diesem Augenblick kam Herr Brünning, der mich auffing und in die Küche zurückschob.

»Was ist denn hier eigentlich wieder mal los?« fragte er und sah sich ernst im Kreis um, von einem zum andern. Zunächst schwiegen alle. Liese 219 hantierte aufgeregt mit den Kochtöpfen herum und sagte dann:

»Herr Oberlehrer, Sie werden zugeben, daß das wirklich nicht geht. Helga hat Läuse im Kopf.«

»So. Sonst nichts?« »Jungens, schaut, daß ihr weiter kommt. Marsch, 'rauf! Wenn gegessen wird, werdet ihr gerufen. Also, los, los!«

Die Schüler gingen ihrer Wege. Kaum waren sie fort, als Frau Brünning auch auf ihren Mann einzureden begann:

»Ja, höre, Ludwig, es ist wirklich ein starkes Stück, und wir müssen doch auch an die Kinder denken, an Gertrud und Irmgard.«

»Darüber können wir nachher reden. Jetzt hab' ich mit Liese zu sprechen. Was haben Sie eigentlich gegen Helga?«

»Nun, ich sagte doch schon, sie hat Läuse im Kopf.«

»Gut. Soll sie Läuse haben, aber auch noch manches andere, meinen Sie nicht? Manches, was Sie vielleicht nicht haben. Jawohl, das sage ich. Ich verstehe etwas mehr, als Sie annehmen . . .«

Liese murrte: »Wenn Herr Oberlehrer es für richtig befinden, daß man Ungeziefer im Hause verbreitet . . .«

»Ach was, Ungeziefer . . . Nun ja . . . Sag, Helga, hast du denn viele Läuse?«

Herr Brünning sah etwas beunruhigt auf mein sehr dichtes Haar. Frau Brünning sagte rasch: »Aber, Ludwig, wo eine Laus ist, sind doch mehr Läuse. Das ist doch klar.«

»Meinst du?«

Ich war traurig und sagte: »Herr Brünning, ich kann ja gut nach Hause gehen, wenn ich wirklich 220 Läuse habe. Ganz bestimmt weiß ich es auch nicht, ich kann ja nachsehen. Es kommt mir aber so vor, als hätte ich nur diese einzige. Und wenn diese eine, die vielleicht schon weggelaufen ist, so etwas Schlimmes ist, dann will ich lieber . . .«

»Nein! Hier bleibst du! Es ist ja Unsinn. Ich bin hier der Herr im Hause, und hiermit erkläre ich ausdrücklich, daß mich die eventuellen Läuse in deinem Haar nicht im mindesten genieren.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Aber man sieht's deinem Haar direkt an, daß keine Läuse darin sind, und damit basta! So. Bist du zufrieden? Frieda, jetzt müssen wir aber essen gehen. Liese, klingeln Sie den Pensionären. Hilde muß heute allein servieren. Helga soll sich nicht bei Tisch zeigen.«

Damit war wenigstens nach oben hin wieder alles in Ordnung. Diese kleine, intime Läusegeschichte hätte ich nicht erwähnt, wenn sich nicht später einige Folgen daran geknüpft hätten, die mir mehr zu schaffen machten als die an sich unbedeutende Ursache.

Am Nachmittag, als ich gegen fünf Uhr den Kaffeetisch deckte und mich im Eßzimmer allein befand, kam Herr Brünning aus seinem gleich neben dem Eßzimmer befindlichen Arbeitsraum auf mich zu; doch war mir, als hätte er nicht eigentlich mich hier erwartet, da er mir zögernd sagte: »Ah, du bist es gerade. Nun ja, weil ich dich gerade treffe. Es fällt mir soeben ein: Brauchst du vielleicht zufällig etwas Geld? Dann kann ich dir selbstverständlich geben. Wir können es ja später verrechnen.« 221

»Geld? Nein, danke, ich brauche jetzt kein Geld. Ich wüßte nicht wofür . . .«

»Ich dachte nur, du könntest vielleicht etwas brauchen. Vielleicht für einen Kamm oder so. Hast du einen Kamm? . . . Ich meine einen ordentlichen Kamm?«

»O ja, ich habe einen neuen mitbekommen als ich hierherkam.«

»Gewiß, das kann ich mir schon denken. Ich meinte nur . . . Ja, es ist durchaus nicht meinetwegen, daß ich dich darauf aufmerksam machen möchte. Du wirst verstehen, meine Frau . . . Wie soll ich dir's nur sagen? Vielleicht wär's doch ratsam, wenn du mit einem Kamm mit engen Zähnen dir einmal die Haare kämmen würdest, für alle Fälle . . .«

»Das kann ich ja machen. Es ist nichts Besonderes.« Die Verlegenheit von Herrn Brünning wunderte mich ein wenig.

»Natürlich ist das nichts Besonderes. Dies habe ich ja auch gar nicht gesagt. Aber du hast vielleicht keinen engen Kamm, nicht wahr? Nun siehst du, du schüttelst den Kopf. Und wenn du keinen Kamm hast, mußt du dir einen kaufen. Leuchtet dir das ein?«

Ich mußte ein bißchen lachen und meinte, so schwerfällig sei ich nicht von Begriff.

Herr Brünning lachte selbst: »Na, ich bin froh, daß du verstehst, was ich meine. Du brauchst es aber den andern Mädchen nicht zu erzählen, es ist nicht unbedingt nötig. Also hier hast du fünf Mark. Ich lege das Geld hierher auf den Tisch. Tu es in deine Schürzentasche und verliere es nicht.« 222

Damit drehte Herr Brünning sich um und ging in sein Zimmer zurück. Er war noch nicht ganz in der Tür verschwunden, als Liese von der anderen Seite ins Eßzimmer trat, sich forschend umblickte und fragte, ob der Tisch ordentlich gedeckt sei.

»Ja, es ist alles in Ordnung«, sagte ich, während ich das Fünfmarkstück rasch vom Tisch nahm und es in meine Tasche gleiten ließ. Liese sah es und warf mir einen langen, seltsamen Blick zu, den ich nicht zu deuten wußte, der mich aber doch beunruhigte. Am liebsten hätte ich ihr erzählt, wie ich zu dem Geldstück gekommen war, dann aber fiel mir ein, daß es Herrn Brünning nicht angenehm war, wenn ich darüber sprach. Also schwieg ich. Der Zufall wollte, daß Liese am selben Tage in der Abendstunde nochmals Zeugin wurde, als Herr Brünning mir auf dem Vorplatz ein kleines Päckchen in die Hand drückte, da er im Begriff war, seinen Mantel am Garderobeständer aufzuhängen.

Ich ließ nur ein ganz leises »Danke« vernehmen. Herr Brünning aber, der am Garderobehalter stand, um irgend etwas an seiner Manteltasche zu ordnen, drehte sich rasch um, sah mich an und legte den Finger auf den Mund. Das bedeutete Schweigen. Ich aber wußte nicht, was es eigentlich zu verschweigen gab. Das etwas wunderliche Benehmen Herrn Brünnings verstand ich nicht, doch lag es nicht in meiner Absicht, irgendein Geheimnis mit ihm zu haben, sei dieses noch so harmloser Art. Liese aber, die diese kleine Szene auf dem Vorplatz genau beobachtet hatte, vermutete etwas anderes zwischen Herrn Brünning und mir. 223

Herr Brünning hätte den Jahren nach leicht mein Vater sein können. Er hatte bemerkt, wie schwer ich mich unter fremden Leuten zurechtfand. Er wollte mir, dem halbwüchsigen Mädchen, etwas behilflich sein, und ich glaube, wenn seine Einstellung nicht eine völlig klare, rein menschliche und väterliche gewesen wäre, würde ich dies, wie jedes gesunde Mädchen, instinktiv gefühlt haben. Mein Vertrauen zu dem Mann, der es gut mit mir meinte, war etwas Natürliches. Noch zu sehr Kind, hätte ich ihn vor aller Augen umarmen mögen, wenn er mich freundlich in Schutz nahm. Er war mein Dienstherr, doch zugleich ein wenig mein Vater. Er hatte mir eine Kleinigkeit mitgebracht. Es war doch nichts dabei. Als ich in der Küche mit meinen Kameradinnen beim Abendessen saß, war ich neugierig, was wohl in dem kleinen Päckchen sein mochte, das Herr Brünning mir zugesteckt hatte. Es war in ein ganz feines Seidenpapier eingehüllt. Von Zeit zu Zeit steckte ich die Hand in die Tasche, um nachzufühlen. Es schienen zwei Sachen zu sein. Schade, daß ich nicht gleich nachsehen konnte, doch war es vielleicht besser zu warten.

Plötzlich fragte Liese mit rauhem, ruhigem Ton:

»Na, was hast du denn heute abend von Herrn Brünning bekommen?

Sie hatte es also doch gesehen. Es war mir beinahe lieber so.

»Weiß nicht. Will mal nachsehen.«

Dann packte ich aus. Das eine war eine Tafel Nußschokolade, das andere ein kleiner Haarkamm, goldgelb, ein richtiger Staubkamm. 224

Liese und Hilde mußten beide lachen, und ich lachte mit. Ich war froh, daß sie mir wieder gut waren, meine beiden Kameradinnen.

»So. Jetzt haben wir feinen Nachtisch. Von der Schokolade kann ich euch abgeben, aber den Kamm behalte ich für mich, den braucht ihr ja nicht.«

»Du hast's gut«, meinte Hilde. »Du kannst jetzt die Lorelei spielen. Laß mal den Kamm sehen.«

Ich wehrte mich: »Aber ein Kamm gehört doch nicht auf den Eßtisch.«

»Geh, zeig her. Ist doch ein neuer Kamm . . . Das ist etwas ganz Feines. Hat sicher seine zwei Mark fünfzig gekostet, eher mehr als weniger.«

»Ja, Herr Brünning hat keinen schlechten Geschmack. So was bekommt natürlich nur die Helga.«

»Liese, ich glaube, du bist eifersüchtig. Herr Brünning würde dir auch einen Kamm mitbringen, wenn . . .«

»Genug, du willst sagen, wenn ich so jung wäre wie du.«

»Nein, wenn du einen Kamm brauchtest.«

»Ach so. Wenn ich einen Kamm brauche, bringt er mir einen mit. Das möchte ich sehr bezweifeln.«

Selbstverständlich kämmte ich mir vor dem Schlafengehen die Haare, aber ich fand rein gar nichts, nicht einmal die eine einzige kleine Laus fand ich, der ich doch eigentlich den hübschen Staubkamm verdankte.

 

Mit Hilde, dem Stubenmädchen, stand ich mich besser als mit Liese. Hilde war neunzehn Jahre alt, ein hübsches, aschblondes Mädchen, das über alles 225 lachen konnte. Sie hatte verschiedene Freunde, mit denen sie spazieren oder tanzen ging, doch jeweils nur mit einem, niemals mit allen gleichzeitig, ein Umstand, der mir zwar auffiel, nach dem ich aber nicht fragte. Nach jedem Ausgang erzählte Hilde von ihren Freunden, die man leicht durcheinanderbringen konnte, besonders wenn man, wie ich, nur mit halbem Ohr hinhörte. Gingen Brünnings abends in Gesellschaft und hatten sie kaum das Haus verlassen, ging Hilde an den Kleiderschrank, zog sich ungeniert die schönsten Kleider von Frau Brünning an und ging darin an die frische Luft. Die Kleider standen ihr reizend, und man mußte ehrlich zugeben, daß Hilde viel vorteilhafter aussah als Frau Brünning, doch konnte dies wohl kaum ein Entschuldigungsgrund für solche kecken Manieren sein. Brünnings hatten sogar eines Abends Hilde in ihrem geliehenen Staat im Café Schrader erwischt und ihr zu verstehen gegeben, daß man sie sofort entlassen würde, wenn sie sich noch einmal ungefragt Kleider ausleihen wolle, aber Hilde hatte kein gutes Gedächtnis. Ich glaube nicht, daß sie falsch oder unaufrichtig war, doch verstand sie sich vorzüglich auf die bedenkliche Kunst der Schmeichelei, die sie hauptsächlich bei Brünnings, manchmal aber auch bei mir anwandte. Vielleicht hielt Frau Brünning unsere Hilde in Fragen der Toilette für besonders zuständig, und es kann sein, daß Hilde tatsächlich einen sicheren und guten Geschmack hatte; doch fand ich es immerhin drollig, daß Frau Brünning sich von Hilde beraten ließ, welches Kleid und welche Farbe sie wählen solle. »Violett dürfen Sie auf keinen Fall tragen, Frau 226 Brünning. Violett ist eine der heikelsten Farben, die es gibt. Nehmen Sie Grau oder Schwarz, das ist vornehm.«

Frau Brünning richtete sich tatsächlich nach Hildes Vorschlag, aber für Hilde selbst war das violette Kleid nicht zu heikel. Sie ließ es sich mit großem Vergnügen schenken. Wenn zwei Frauen dasselbe Kleid tragen, ist es eben nicht dasselbe.

Hilde war nett mit mir, weil ich ihr manche Arbeit abnahm und mich nicht darum kümmerte, wenn sie abends zu spät nach Hause kam. Durften wir fortgehen, mußten wir um zehn Uhr zurück sein. Mehrmals wurde ich von Herrn Brünning gefragt, wann Hilde nach Hause gekommen sei. Ich sagte, ich wisse es nicht, da ich geschlafen hätte. Es war nicht wahr, was ich sagte, und vielleicht bemerkte Herr Brünning, daß ich ihn anlog, denn er fragte mich später nicht mehr. Es war nicht recht zu lügen. Es verstellte das Leben. Ja, es tötete das I,eben. Vielleicht war es nicht gleichgültig, warum man log. Dann wieder wollte ich nichts beschönigen. Gelogen war gelogen. Möglich, daß ich nicht mehr gefragt wurde, weil man mir nicht glaubte. Aber es war doch nicht recht, eine Kollegin zu verraten. Ach, ich kam in manche Lage, in der ich nicht wußte, wie ich mich verhalten sollte. Ich hätte ja meinen Eltern Mitteilung machen können, daß es nicht die rechte Umgebung war, in der ich mich befand, doch hatte ich den kindischen Ehrgeiz, »aushalten« zu wollen.

 

Die Kinder, Gertrud und Irmgard, waren so süß. Sie waren erst drei und vier Jahre alt, aber ein klein wenig konnte man ihnen doch schon von 227 Weihnachten erzählen, vom Jesuskind, das noch kleiner gewesen war als Irmgard und Gertrud. Oh, die sinnenden, ernsten Gesichter dieser kleinen Blondköpfe mit den klarsten Augen der Welt! Die kleinere Irmgard nannte mich manchmal »Liebling«, weil ihre Mutter sie »Liebling« nannte. Das war zu niedlich. Tagelang bekam ich sie oft kaum zu sehen. Nur wenn ich Besorgungen zu machen hatte, durfte ich sie manchmal mitnehmen. Wie weich die kleinen Hände sich in meinen Händen anfühlten! Meine Hände waren schon hart und rissig geworden. Gingen wir heim, wollten die Kinder den Korb mit anfassen, tragen helfen. Bekamen sie Süßigkeiten geschenkt, wollten sie gleich abgeben, diese anmutigen kleinen Herzen.

Frau Brünning, die gern sah, wenn ich mit den Kindern beisammen war, bedauerte selbst, daß hierfür so wenig Zeit war. Der Haushalt machte zu viel Arbeit. Dies hatte Frau Brünning, da sie mich annahm, vorher nicht genau übersehen können. Es war begreiflich, daß sie als Mutter sich lieber selbst mit ihren Kindern beschäftigte und mir die grobe Arbeit überließ.

Daß ich mich in einer abhängigen Stellung befand und auf jeden Wink gehorchen mußte, daran konnte ich mich gewöhnen. Das Dienen war nicht schwer. Es war etwas anderes, an das ich mich nicht gewöhnen konnte: daß ich an meiner Umgebung nicht die Spur von geistigem Leben entdecken konnte. In unserem Eßzimmer stand doch groß und breit angeschrieben: »Bete und arbeite.« Hier aber gab es nur die Arbeit. Gewiß, es konnte jeder für sich beten, aber ein klein wenig hätte man doch auch davon nach außen hin spüren 228 dürfen. Warum sprach man überhaupt so selten von göttlichen Dingen? Man hätte nahezu meinen mögen, daß jedes Gespräch gestattet sei, nur dieses eine nicht. Wurde es aus Ehrfurcht verschwiegen, war es ja recht, aber es konnte andere Gründe geben. Ich hatte oft Heimweh nach Veronika und Aloisius. Sie hatte mir doch erzählt von der Gemeinschaft der Heiligen. War diese denn nur im Himmel? Es mußte sich auch eine Spur davon auf Erden finden lassen. Nicht möglich war es, daß ich dieses Verlangen allein trug. Vielleicht gab es viele Mädchen in der Fremde, denen es ähnlich ging wie mir. Und dann taten mir diese Unbekannten leid, und ich hätte sie grüßen mögen.

 

In dieser Zeit begann ich klar einzusehen, wie notwendig es ist, daß der Mensch an sich selbst arbeitet. Mein Beruf, meine Arbeit war ja nicht eigentlich das, was ich mir gewünscht hatte. Wie sich aber der Appetit oftmals erst beim Essen einstellt, so ging es mir mit der Arbeit. In diesem Punkt habe ich den Eigensinn früh verlernt. Als es im Anfang meiner Dienstzeit Arbeiten gab, gegen die ich einen natürlichen Widerwillen empfand, sagte mir Liese einmal: »Für Arbeiten, für die man sich zu gut glaubt, ist man meistens zu schlecht.« Das wirkte gewaltig auf mich ein, wie ich überhaupt dieser rauhen Köchin mehr verdanke, als ich damals einzusehen fähig war. Als Jüngste wurde ich mit den niedrigen Arbeiten betraut, was mich, die ich doch so hohe Pläne im Kopf gehabt hatte, tief verstimmte. Ich war das Opfer meiner eigensinnigen Eltern, die nicht einsehen konnten, daß ich für etwas Besseres geboren war, als die schmutzige 229 Wäsche fremder Leute zu waschen. Eine gewisse Bitterkeit wallte oft in mir auf. Ich beneidete die ballspielenden Mädchen im Pensionat, die uns gegenüber wohnten. Ich spähte durch das Gitter in diesen schönen Garten der Lebensfreude, fühlte mich ausgeschlossen von den Vergnügungen, die doch meinem Alter entsprachen. Junge Mädchen, Wandervögel, zogen an unserem Hause vorbei, die Laute im Arm, singend: »Schön ist die Jugend zu frohen Zeiten . . .« Und ich glaubte etwas anderes zu wissen.

Beinahe schämte man sich daran zu denken, was es für niedrige Arbeiten auf der Welt gab, die einem mittags das Essen verleiden konnten. Ich wäre gerne schwimmen gegangen, davon ja nicht die Rede war. Meinen zweiten Schwimmpreis, den hatte ich umsonst errungen. Jetzt mußte ich schwimmen in lauter untergeordneten Arbeiten. Turnen, Sport treiben brauchte ich nicht. Meine Laufübungen waren treppauf, treppab zu springen, wenn nach mir geklingelt wurde. Hierhin und dorthin. Nur wenn die Glocke der Marienkirche nach mir rief, konnte ich nicht erscheinen, und sie rief und klang so schön . . .

Einmal weinte ich bitterlich. Liese konnte hart, aber doch manchmal auch weich sein. Sie sagte: »Ja, Helga, es sind doch Arbeiten, die gemacht werden müssen und die überall gemacht werden. Warum willst du es nicht tun?« Liese hatte recht, sie hatte vollkommen recht. Warum nicht ich? Wenn ich mir dieses sagte, ging es leichter.

 

Es waren nur kleine Übergänge, in denen mir das Dienen schwer wurde, und bis zu einer gewissen 230 Zeit hatte ich mich stets damit trösten können, daß ich die Welt meiner Gedanken hatte, in die kein Fremder eindringen konnte. Fühlen, denken konnte ich, was ich Lust hatte, alles, was mir gefiel. Ich merkte aber, daß auch dies nicht der Fall war. Nicht mehr spielerisch durfte ich mich Träumereien hingeben, mir war, als brauche ich ein System, ein felsenfestes, unabänderliches System. Wie ich erkannte, daß ich dessen bedurfte?

Ach, ich könnte hierfür viele Beispiele, viele Beweise anführen, und wenn es nur eines ist, das ich berichte, bin ich nicht sicher, ob dieses das trefflichste ist. Junge Menschen, deren Seele noch wie weiches Wachs ist, haben Erlebnisse, deren Tragweite sie nicht ermessen können. Mehr noch, es gibt wohl für jeden, besonders aber für den jungen Menschen, Erlebnisse, die sehr einprägsam und wirkungsvoll sind und ihm dennoch nicht klar ins Bewußtsein treten. Von dem, was ich nicht weiß und was ich nie gewußt habe, kann ich freilich nicht erzählen. Dies muß sehr viel sein. Aber jeder Mensch wird eine einsame Traumsprache kennen, eine Melodie, die nur er kennt, und wollte er diese Melodie wiedergeben, kann es sein, daß ein anderer sie schön findet, sie vielleicht lobt und liebhat und sie dennoch nicht versteht. Es gibt ein Einsamsein, zu dem jeder verurteilt und zu dem jeder begnadet ist.

Oftmals habe ich gehört, daß Menschen ihre Träume rasch vergessen und wenig beachten. Von mir kann ich dieses nicht sagen. Den Grund dafür, warum sich meine Träume mir in diesem Jahre besonders stark einprägten, weiß ich nicht. Vielleicht genügte mir das Erlebnis des Tages nicht, 231 daß ich auf das leise Leben der Nacht angewiesen war. Viele Leute sind freilich der Ansicht, daß Träume Schäume sind, wesenlose Gebilde, mit denen man sich nicht beschäftigen sollte. Dies wird für gewöhnlich auch nicht nötig sein, da ja der Traum sich mit dem Menschen beschäftigt.

Wir sind im Schlaf, da die Glieder ruhen, da der freie Wille und die Bewegungsfreiheit des Körpers ausgeschaltet sind, mehr hingegeben an das Leben der Seele, als wir annehmen. Ich wußte damals nicht, daß der Traum die unbewußte Dichtung des Menschen ist, jene weit sich verzweigende Dichtung, die sich ihren Stoff aus dem Leben des Tages holt und diesen Stoff modelt und gestaltet. Nicht im entferntesten dachte ich daran, meine Träume deuten zu wollen, was ich noch heute nicht kann. Da ich aber auf das, was in mir vorging, sehr achtete, fiel mir oft auf, daß der Traum mich kritisierte, da ich am nächsten Tag plötzlich Fehler in mir entdeckte, die mir der Traum zeigte. Ich glaubte, daß dies die gute Stimme meines Gewissens sei, die zu mir sprach, freute mich darüber, doch war ich manchmal betrübt, wenn mir diese Stimme etwas zu klar begegnete. Dies war wie ein kaltes, klares Licht, das nur leuchten kann und nicht die Schuld trägt, wenn es die Abgründe des Herzens erhellt.

Da ich in so nahe Berührungen mit den andern Mädchen kam, sogar mit Hilde einige Wochen über das Bett teilte, konnte es nicht ausbleiben, daß ich das fremde Leben witterte, ganz davon abgesehen, was ich durch Gespräche auffangen mußte. Hilde war anziehend und abstoßend zugleich. Sie war, wie ich schon erwähnte, sehr hübsch, und 232 wenn sie lachte, schien sie mehr als zweiunddreißig schneeweiße Zähne zu haben. Doch die Hübschheit war Oberfläche. Sie war leichtsinnig und unbedenklich und in ihren Bekanntschaften durchaus nicht wählerisch, das war abstoßend. Sie hatte vor nichts Furcht, weil sie phantasielos war. Ich aber konnte mir Gefahren denken, denen sie ausgesetzt war, wenn sie nachts spät noch nicht im Hause war. Bei allem, was mir nicht gefiel, gab ich mir Mühe, mich zu untersuchen, ob ich selbst nicht dessen fähig wäre, und wußte, daß ich meiner nicht sicher sein konnte, wenn nicht ein guter Engel mir beistand.

 

Liese und Hilde waren beide etwas abergläubisch. Manchmal, wenn sie kurz vor dem Schlafengehen das Licht gelöscht hatten, fingen sie an das Bett zu besprechen. Heute würde ich mir von Schlafgenossen dergleichen energisch verbitten. Damals aber wagte ich nur scheu zu betteln, solchen Unsinn zu unterlassen, doch kümmerten sich Liese und Hilde wenig um meine Einwände.

Es ist mir nicht mehr erinnerlich, ob die Bettbeschwörerei bei zu- oder abnehmendem Mond vorgenommen werden mußte, doch spielte der ahnungslose Mond eine bestimmte Rolle. Vor dem langen Bettschwur, den ich mir anhören mußte, hatte ich mächtig Angst ihn mir zu merken. Noch heute weiß ich ihn, doch brauche ich ihn nicht hierherzusetzen, da niemand so töricht sein wird, sich des Bettschwurs zu bedienen, um im Schlaf den zukünftigen Gatten zu erblicken. Wenn's sein soll, macht man auch ohne Bettschwur zur rechten Zeit die rechte Bekanntschaft. Ich weiß, daß es 233 völlig unnötig ist, irgendwelche magischen Mittel anzuwenden. Aber Liese und Hilde waren nun einmal neugierig und besprachen das Bett mit Genauigkeit und Sorgfalt nach althergebrachten Vorschriften. War das Unternehmen mißglückt, wurde es wiederholt, da bekanntlich nur Beharrlichkeit zum Ziel führt. Manchmal mußte ich lachen, wenn ich die beiden ausgewachsenen Mädel im Hemd vor dem Bett stehen sah, wie sie ihren Zauberspruch vor sich her murmelten. Es war ja die reine Schatzgräberei, die ich am liebsten photographiert hätte. Man mußte, mit dem Rücken dem Bett zugewandt, ins Bett steigen. Dies pflegte ich natürlich ohnehin nicht zu tun, aber ich war dennoch besonders darauf bedacht, wie es sich gehört von vorne ins Bett zu schlüpfen. Sicher war sicher.

Hilde wollte mich zur Bettbesprecherei auch ermuntern, aber ich sagte, ich wolle mir meinen Zukünftigen lieber bei hellem Tageslicht ansehen, da könne man sich ihn doch viel genauer betrachten. Und wenn man ihn im Traum tatsächlich sehen würde und er einem gut gefiele, und man müsse noch vielleicht manche Jahre auf ihn warten, das könnte ermüdend sein. Wenn er einem aber nicht zusage im Traum, dann wäre es doch eine betrübliche Sache, vorher daran denken zu müssen, daß es dieser sei und kein anderer. Kurz und gut, ich sei allenfalls für Überraschungen auf diesem Gebiet.

Durch solche Reden suchte ich die Sache ins Lächerliche zu ziehen und Liese und Hilde von ihrem wunderlichen Treiben abzubringen. Doch nützte das nichts. Drolligerweise nützten aber auch 234 die verschiedenen Besprechungen nichts, jedenfalls nichts bei Liese und Hilde, nur ein ganz klein bißchen bei mir.

Wie das kam? Ich weiß es nicht. Ich war ja nicht die Dirigentin meiner Träume. Nach drei vergeblichen Versuchen erklärten meine Kolleginnen am andern Tag, sie wollten jetzt endgültig die Schatzsucherei aufgeben; sie hätten nur ein krauses Zeug geträumt, aus dem kein vernünftiger Mensch klug werden könne, von einem Manne hätten sie nicht das mindeste erblickt und beide Mädchen schienen entschlossen, ewig ledig zu bleiben. Es half ja alles nichts, man mußte sich willig darein finden. Schließlich war das etwas, das sich nicht erzwingen ließ. Morgens, als wir zu dritt die vielen Stiefel zu putzen hatten, klagten Liese und Hilde sich gegenseitig enttäuscht ihre Not, die doch schwer begreiflich war.

Nun hätte ich den beiden etwas ganz anderes erzählen können, nämlich, daß ich in einer recht unterhaltsamen Traumfolge nicht nur Liesens und Hildens Mann, sondern, wie es mir vorkam, sogar meinen eigenen Mann erblickt hatte; doch hielt ich es für geratener, zu schweigen, da ich, wenn ich mit meiner Traumweisheit herausrückte, nicht sicher gewesen wäre, ob das Spiel nicht von neuem begonnen hätte. Hildens und Liesens Männer, die ich zuerst wahrgenommen hatte, waren mir so deutlich erschienen, daß ich sie hätte abzeichnen können, wenn ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte, aber man konnte doch niemand, selbst nicht auf Traumstraßen, festhalten und sagen: »Gestatten Sie, daß ich Sie skizziere.« Und Hilde ging ja Arm in Arm mit ihrem Feldwebel oder Sergeanten. Nur 235 mit der Uniform kannte ich mich nicht aus, aber daß er beim Militär war, hätte Hilde genügen dürfen. Mit Liesens Eheglück haperte es etwas. Es schien mir ein Baumeister zu sein, denn er zeigte ein Haus, das er errichtet hatte, solide und fest gebaut. Zu mir aber kam der Mann aus dem Mond, kühl und unnahbar, und da ich ihn um die Sterne befragen wollte, denen er doch so nahe gewesen war, lächelte er und war plötzlich ein Schmetterling, ein Libellenvogel, den es sonst nirgends gab. Vom Mann im Mond und vom Schmetterling, das schrieb ich mir sogleich auf, aber die anderen Männer gingen mich nichts an. Heiraten konnte man den Mann im Mond ja nicht, denn er mußte nachts am Himmel stehn und im Mondlicht sein und von dort aus die Welt bewachen.

 

Gerade in diesen Tagen erfuhr ich, daß Liese schon einmal verheiratet gewesen war. Sie war Witwe und hatte ihren Mann, der viel älter als sie gewesen war, schon früh verloren. Er war ein recht wohlhabender Geschäftsmann, den Liese mit kaum siebzehn Jahren geheiratet und mit dem sie in Bremen gelebt hatte. Schon mit fünfunddreißig Jahren war sie Witwe geworden, da ihr Mann plötzlich an einem Herzschlag gestorben war und sie mit einer Tochter von sechzehn Jahren zurückgelassen hatte. Liese, die Lust zur Arbeit hatte, führte das Geschäft ihres Mannes weiter. Indessen heiratete ihre Tochter Ingeborg einen jungen, hübschen, aber arbeitsscheuen Mann, der noch obendrein einen sehr schlimmen Charakter hatte. Liese war sehr gegen die Heirat gewesen, aber die Tochter hatte sich nicht beraten 236 lassen wollen, was sie leider zu spät bereute. Der Mann nämlich verschwendete in kürzester Zeit das ganze Vermögen der Mutter, was diese nur aus Liebe zu ihrer Tochter geschehen ließ. Die unglückliche Mutter glaubte mit dem Gelde etwas Güte für ihr Kind erkaufen zu können. Als Ingeborg achtzehn Jahre alt war, gab sie einem Knaben das Leben und mußte die Geburt des Kindes mit ihrem eigenen Leben bezahlen. Von allem, was Liese gehabt hatte, war ihr nichts geblieben als das Kind ihrer Tochter, für das sie jetzt bei uns arbeiten mußte.

Das Kind war bei guten Pflegeeltern untergebracht, und vielleicht wünschte Liese nur des Kindes wegen sich nochmals zu verheiraten. Ingeborgs Bild hatte Liese in unserem Zimmer aufgestellt: ein blühendes, schönes Mädchen. Wir bewohnten einen Raum, der früher Küche gewesen war. Der Herd, der nicht mehr benutzt wurde, war hier stehengeblieben. Er war mit einem Bogen ausgezacktem Packpapier bedeckt, und auf diesem stand unter einigen anderen Photographien das Bild Ingeborgs, die so jung hatte sterben müssen.

Nachdem ich Liesens kleine, traurige Lebensgeschichte gehört hatte, wurde mir ihr rauhes Wesen begreiflich. Auch in ihrer Kinderzeit – sie stammte von armen Eltern – hatte sie nicht viel Gutes erfahren. Einmal muß man Liebe empfangen haben, um Liebe geben zu können. Liebe, nicht nur von Gott, sondern auch von den Menschen. Wenn Liese schlechter Laune war, tat sie mir oft leid, doch konnte ich es ihr nicht mehr übelnehmen, wenn sie ihre schlechte Laune an mir ausließ. Im Bügelzimmer strickte ich abends 237 heimlich ein Jäckchen für ihr Enkelkind, weiß mit lichtblauer Kante, und als ich ihr dieses überreichte, begann sie zu weinen. Es war ja nur eine kleine Aufmerksamkeit, die ich ihr leicht und gern erwies; doch bemerkte ich bei dieser Gelegenheit, daß gerade launische oder verbitterte Menschen für kleine Freuden sehr dankbar sind, wie es ja überhaupt nicht viel braucht, einen Menschen zu beglücken. Man sollte täglich nach solcher Gelegenheit suchen, es sich immer wieder zur Übung machen.

Wenn man noch jung ist, neigt man freilich dazu, einen Einzelfall zu verallgemeinern. Man schließt leicht von einem Menschen auf viele. Wenn einem aber solche Erkenntnis auch selbst zugute kommt, kann es nicht schaden. An Liese, deren Geschichte ich zufällig kennenlernte, merkte ich, daß Menschen, die uns einmal unfreundlich und schroff behandeln, nicht schlecht oder böse, sondern unglücklich sind. Doch wollte es offenbar das Schicksal, daß ich besonders in den frühen Mädchenjahren ziemlich viele Unglückliche kennenlernen sollte. Warum? Damit die Glücklichen, die mir später begegneten, mir um so größere Freude machen sollten. 238

 


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