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Es waren die letzten Wochen vor dem großen Tag, die letzten beiden Wochen der Vorbereitung auf die Konfirmation. Wir Kinder waren sehr in Anspruch genommen von äußeren und inneren Angelegenheiten. Der Unterricht in der Schule war nicht mehr sehr wichtig. Wir standen vor dem Abschluß, hatten jetzt alles gelernt, was es zu lernen gab. Das Abgangszeugnis war schon ausgeteilt worden. Im Rechnen hatte ich »genügend«. Eigentlich hatte ich »kaum genügend« oder »ungenügend« erwartet. Jetzt aber war ich sehr zufrieden mit diesem kleinen Wort »genügend«, und ich ging eigens zum Lehrer, um mich für seine milde Ansicht, die mir bei meinem weiteren Fortkommen in der Welt sicher viel nützen würde, herzlich zu bedanken.
In meiner Klasse gab es zwei Abteilungen, die Vierzehn- und die nahezu Fünfzehnjährigen. Wir Älteren, die wir konfirmiert werden sollten, sahen ein wenig überlegen auf die andern, auf die »Kleinen«, herab, die noch ein Jahr länger die Schule besuchen mußten, während wir bereits mit einem Fuß im großen Leben standen. Für uns, die Großen, begann etwas völlig Neues, das man sich noch nicht recht vorstellen konnte und das mit der Vergangenheit bald nicht mehr zu vergleichen sein würde. Von einem Tag zum andern zog man bei uns die kurzen Kleider aus, um die langen anzuziehen, und wir neigten gar sehr zur Meinung: Kleider machen Leute. Zuallernächst freilich handelte es sich um zwei neue Kleider, das 167 Hauptexamenkleid und das Konfirmationskleid. Beim ersten war es nicht sonderlich wichtig, von welcher Farbe es war, meines war dunkelblau, hochgeschlossen und von sehr schlichtem Schnitt. Das Konfirmationskleid aber mußte tiefschwarz sein, und wenn man es nur anprobierte, setzte man unwillkürlich ein ernstes, feierliches Gesicht auf. Es machte mich etwas beklommen, wenn ich mich vor dem Spiegel in diesem Kleide sah. Die Kinderzeit wurde begraben, und dieses strenge Konfirmationsgewand war das Begräbniskleid. Mutter wünschte, daß ich in diesem Kleid photographiert werden sollte, aber ich bat sie, hierauf verzichten zu wollen. Ja, hätte ich wie Veronika ein weißes Kleid, einen Schleier und ein Kränzlein tragen dürfen, wäre mir ein Andenken an diese bedeutsame Zeit lieb gewesen, so aber, da ich mir vorkam wie ein schmaler, schwarzer kleiner Sargdeckel, wollte ich kein Bild.
Seltsam, daß bei diesen gewaltigen Veränderungen, die beinahe über uns hinweggingen, alles beim alten blieb. Daß die Straße, die Schule, das Heim, daß die ganze Welt sich nicht mit verwandelte! Die langen Rot- und Weißdornhecken, an denen ich auf dem Schulweg vorbei mußte, blieben still, wie sie immer gewesen waren. Nur das Birkenhäuschen in Bresdorfs Garten, das kleine Sommerhaus, die süße Laube, die einmal groß und einmal klein war, schien mich in diesen Tagen besonders lieb anzusehen, als wolle sie sagen: Ich bleibe hier stehen, ich bleibe dir treu, und immer will ich. mich verwandeln, wie du wollen wirst. Und dieses Haus war gefällig wie nie. Als wolle es noch einmal zeigen, was es könne. Einmal war es zierlich klein, 168 wie zum Mitnehmen, und ein andermal war es gar nicht leicht zu übersehen. Und war das Birkenhaus manchmal so groß, da kam ich leise auf den Gedanken, daß man zu gewissen Zeiten ein Riesenkind sein könne, das Große wie zum Spiel zärtlich in die Hände nehmen, während man zu anderen Zeiten selbst das Kleine für unübersehbar hielt. Eigentümlich schwankend waren meine Augen. In dieser Zeit begann ich überhaupt eine seltsame Veränderung in meinem Sehvermögen zu konstatieren. Wie oft hatte ich das Haus meiner Eltern betrachtet. Wie gut kannte ich jeden kleinen Mauerriß der Südwand. Von oben, von meinem Zimmerfenster aus, ging ein Riß, der die Elbe war. Unsere Hauswand war eine Landkarte. Das ganze große Deutschland war hier abgebildet. Hier sah ich jede Provinz, jeden Ort, jeden Fluß, jedes Gebirge, und manchmal wurde das alles blühend und lebendig. Ich wußte, wo die Schwarzwaldmädchen wohnten. Ich ging durch einen Wald im Fichtelgebirge, und wo der Wald zu Ende war, sehr umträumt, umblüht von Einsamkeit, stand die Dreifaltigkeitskirche, ein Denkmal früher Zeit, und dann war mir, als kniete ich in dieser Kirche, dankbar, daß ich knien durfte vor dem Schönsten, was es gab auf dieser Welt. Erwachte ich dann aus solcher Versunkenheit, stand ich vor der rissigen Hausmauer meines Vaterhauses. Wie seltsam doch diese Runen waren! Gewiß, das Wetter, viele Jahre Regen und Schnee hatten dies verursacht, und doch, mit einer erstaunlichen Genauigkeit war hier Deutschland abgebildet. Wäre mein Arm groß genug gewesen, oder hätte ich einen langen Stab gehabt, hätte ich mit Leichtigkeit 169 alles zeigen können. Es war ein Wunder, wie sich diese Landkarte hatte bilden können. Wie schön wäre es, wenn ich dies hätte bemalen, etwas präziser unterstreichen dürfen. Dies hätte ich sehr gut machen können, und ich tat es oft in Gedanken.
Im Gesangbuch trocknete ich Blätter. Buche, Eiche und Buschwindrose. Auch ein Lindenblatt aus Kalleby besaß ich. Das waren Andenken aus meiner Heimat, die ich fürsorglich gesammelt hatte, denn es war ja nicht sicher, ob ich nicht einmal weit fort mußte. Vielleicht waren die Buchen anderswo anders als bei uns. Es könnte Differenzen geben. Es war anregend, Blätter austrocknen zu lassen. Man sah das feine Geäste eines Blattes. Es war ja so erstaunlich fein gemacht. Kein Stoff der Welt war gewirkt, wie ein Buchenblatt gewirkt war. Der liebe Gott webte anders als die Menschen, viel verschlungener waren die Fäden, phantastisch und spielerisch. Keine geraden Linien gab es da. Ein einziges Blatt war ein weitverästeltes, tief ineinanderverschlungenes Stegreifleben, das man nicht deuten, nicht enträtseln, das man ob seiner krausen Mannigfaltigkeit nur hinnehmen und bewundern konnte. Ob man sein Leben nicht ein klein wenig nach einem Buchenblatt richten konnte?
In den Schulpausen teilten wir an die Kleinen unsere Erbschaft aus. Alles, was wir künftig nicht mehr brauchen würden. Federkästen, Lesezeichen, Radiergummi, halb beschriebene Hefte. Ja, das kam jetzt alles nicht mehr für uns in Betracht. Einiges hatte ich auch abzugeben. Einen gefälligen Bleistiftspitzer konnte man schon weggeben. Vorerst 170 würde man doch nichts zu notieren haben. Den Federwischer, eine ausgezackte, nette kleine Blume aus Stoff, gab ich Anni Walde, die froh damit war. Gab's mit dem Bemerken, ich würde so bald nicht mehr zum Schreiben kommen, ich ginge in die weite Welt. Wohin? Nun ja, vielleicht als Stewardeß nach Sumatra, vielleicht als Stubenmädchen auf eine Farm in Südwestafrika, dergleichen könne man nicht voraussagen. Die Welt ist groß, und man weiß nicht, wohin es einen verschlägt. Ich bediente mich weitgehendst der Redensarten meines Vaters, der ja zweimal die Erde umsegelt und schon mit zwölf Jahren angefangen hatte. Ich hoffte nur, daß zufällig gerade ein Kindermädchen in Indien verlangt würde. Vielleicht wurde ich auf Haiti erwartet. Es war ja interessant, daß man es nicht wußte. Daß man es nur ahnen, sich leise ausdenken konnte, was kommen konnte. Herz und Kopf waren das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es war einfach reizend.
Nein, meine Buchen- und Eichenblätter konnte ich nicht abgeben. Ich bedauerte sehr, aber das waren Erinnerungen fürs spätere Leben. »Wenn am Missouri alles schwiege, dies malte mir der Heimat Bild.«
Meine Schulfreundinnen alle suchten »Stellungen« in der Stadt oder in der Umgebung. Sehr gern wäre ich nach »außerhalb« gegangen, am liebsten auf eine blaue Insel am Kap der Guten Hoffnung. Ich entwarf Anzeigen, aber Mutter zögerte, sie in die Zeitung einrücken zu lassen. »Ein Mädchen, das zu allem bereit ist, versehen mit guten Schulzeugnissen, sucht Stellung in Indien, gleich welcher Art.« Man konnte freilich auch in Mellerup 171 anfangen, wenn sich nichts anderes ergab, aber wenn man schon in die Fremde mußte, wollte man doch richtig in die Fremde. Die nächste Station, die nordschleswigsche Weiche, sah schon sehr nach Fremde aus. Hier stand ein solider Bauernhof, ziemlich einsam auf weiter Flur, nahe einem kleinen Bach, der von hohen Erlen eingesäumt war. Vielleicht wohnten reiche Leute in diesem Hause, die Verlangen trugen, im Winter in der Stadt zu leben. Ganz gerne wäre ich hier Einhüterin gewesen, vorausgesetzt, daß man dort keinen Hofhund hatte, denn vor Hunden hatte ich ja ein für allemal Angst. Ich hätte keine Stellung annehmen können in einem Hause, in dem man sich einen Hund hielt, und wenn man mir tausend Mark im Monat bieten würde! Würde Mutter eine Anzeige mit einem Stellungsgesuch aufgeben, mußte man hinzufügen: Haus mit Hund ausgeschlossen. Rehe oder Schafe konnten die Leute gerne halten, soviel sie wollten, nur keinen Hund. Sonst wollte ich keine Bedingungen stellen. Vielleicht kam ich in ein Büro, zunächst nur, um dieses zu putzen und aufzuräumen. Dann aber war eines Tages die Sekretärin krank, und es ergab sich von selbst, daß ich für den Inhaber eines großen Geschäftes wichtige Briefe zu schreiben hatte. Ich ordnete die verwickeltsten Angelegenheiten, und der Chef staunte vor Freude und Bewunderung über mich, hätte mich am liebsten zur ersten Sekretärin gemacht, aber ich wollte niemand von seinem Posten verdrängen. Nein, das wollte ich nicht, höchstens einmal Aushilfe sein, um zu zeigen, was ich konnte. Nur zum Spiel. Miete Fleth kam als Lehrmädchen in ein Warenhaus. Gunde 172 Vantzelow sollte die Handelsschule besuchen und doppelte Buchhaltung lernen.
Die Aussichten der verschiedenen Berufe wurden gründlich besprochen. Begabungen glaubten wir zu manchem zu haben, und mit Hindernissen wurde wenig gerechnet. Oftmals entwarfen wir eine Laufbahn bis zu den höchsten Stellungen innerhalb fünf Minuten. Im Nu wurden wir Obergärtnerinnen, Hausmeisterinnen, Buchhalterinnen, Redakteurinnen, Photographinnen. Das waren Kleinigkeiten. Wir saßen unter den hohen Pappelbäumen des Schulhofes, eine neben der andern, auf der langen Bank, oder standen diskutierend im Kreis und kamen manchmal in unseren kühnen Plänen so weit, daß wir uns den eigenen Lebensabend ausmalten, einen gesegneten Feierabend, von Kindern und Enkeln umgeben. Dann lachten wir darüber, wie weit wir es gebracht hatten.
Dann wieder wurde die Ausstattung besprochen, wieviel jede mitbekam. Wieviel Hemden, wieviel Hosen, wieviel Schürzen, wieviel Kleider. Und wie das gemacht und genäht wurde, ob mit oder ohne Hohlsaum. Das Konfirmationshemd und das Konfirmationstaschentuch, beides spielte eine große Rolle. Das Batisttaschentuch, mit Blumenranken und Monogramm versehen, hielt man freilich in der Hand, und hin und wieder konnte ja einer in der Kirche einen anerkennenden Blick darauf werfen, wenn er Lust hatte. Wie aber das Hemd beschaffen war, wußte man doch nur selbst und es war eigentlich nicht nötig, soviel Staat damit zu machen. Küchenschürzen und Morgenkleider sollten gern ein bißchen flott gearbeitet sein. Bei Meesenburg gab es einen bedruckten Stoff, ein 173 Blumenmuster, das mir sehr zusagte, Mohn und Kornblumen, es war genau so billig wie die blauundweißgestreifte Baumwolle. Leider wählte Mutter die Baumwolle. Wenn Mutter schon für Streifen war, hätte sie doch die malvenfarbenen Eisenbahnschienen nehmen können, aber sie wollte nicht.
Regine Hansen brauchte weder Morgen- noch Küchenschürzen. Sie wurde Lehrerin, und da kam es weniger auf Kleidung als auf Bildung an. Regine hatte ein Stipendium und sollte später das Lehrerinnenseminar in Augustenburg besuchen. Sie war die erste, die mich bat, ihr einen Spruch ins Stammbuch zu schreiben. Ich fand, es sei ein hübsches Zeichen der Achtung vor mir, daß die feine, kluge Regine mich um ein schriftliches Andenken bat. Ich fand einen Spruch, der sich für die künftige Lehrerin gut eignete, zumal ich auf der einen Seite des Buches ein Bild angebracht hatte, das Jesus, von kleinen Schafen umgeben, als Guten Hirten zeigte.
Hast du mich lieb, dann weide meine Lämmer.
Die Kleinen leg' ich dir zuerst ans Herz.
Sie gehn noch zwischen Nacht und Licht im Dämmer.
Führ sie auf grünen Auen sonnenwärts.
Hast du mich lieb, dann liebe mich in diesen.
Was du den Kleinen tust, ist mir erwiesen.
Brennt nicht dein Herz in mütterlichem Trieb?
Hast du mich lieb?
Regine hatte große Freude an diesem Gedicht. Ja, sie wollte sich immer danach richten, und dasselbe versprach ich ihr, da sie in mein Buch hineinschrieb: 174
Wenn dich die Menschen kränken
Durch Verrat und Trug,
Mußt du still bedenken,
Was dein Heiland trug.
Kommen trübe Tage
Über dich herein,
Wirst du ohne Klage
Beten ganz allein.
So gaben wir Kinder einander die erhabensten Lehren und Hinweise, von denen wir wußten, daß sie das Gute enthielten, die wir aber doch noch nicht erprobt hatten. Wir sprachen alles Edle und Hohe, das wir erst erringen, durch Erfahrungen erwerben mußten, in aller Unschuld zum voraus aus, als wäre diese Weisheit schon unser Eigentum.
Wenige Tage vor der Konfirmation machte ich noch einen Besuch bei der Mutter der Liebe. Es ging nicht anders. Sie war es, die uns ihren Sohn geschenkt hatte, und ich mußte unbedingt wenigstens einmal zu ihr. Ich wollte mir gern einmal genau ansehen, wie die Mutter Gottes es bei sich zu Hause hatte, nämlich wie sie in der Kirche eingerichtet war. War Gottesdienst, hatte ich eine gewisse Scheu, in die Kirche einzutreten, da ich nicht sicher war, ob mir dies wohl gestattet sei. Ich hatte jedoch schon mehrmals vor der Tür mir die Singmesse angehört und einmal eine Litanei zum heiligen Aloisius, wobei ich das »bitte für uns« heimlich für mich mitgesungen hatte, hoffend, daß der Heilige es bemerken würde. Ganz weit unten, links, nahe dem Hauptaltar, hatte ich die 175 Mutter Gottes als Königin gesehen, von Blumen und Lichtern umgeben. An einem Sonntagvormittag hoffte ich, Veronika hier zu entdecken, die mich vielleicht in die Kirche hätte einführen können; aber da Veronika nirgends zu erblicken war, hielt ich mich nicht lange damit auf, sie zu suchen, sondern betrachtete, in der Haupteingangstür stehend, die Königin, der ich mich nicht zu nähern wagte, wenn so viele Menschen da waren, die vielleicht hätten erkennen können, daß ich nicht hierher gehörte. Ich war der Meinung, daß ich auffallen, vielleicht gar Ärgernis erregen könnte, wenn ich mich nicht genau wie die andern benahm, doch glaubte ich immerhin das Kreuzzeichen richtig machen zu können. Dies hatte Veronika mir gezeigt, und ich war sehr glücklich, dies gelernt zu haben.
Zu diesem Extra-Kirchenbesuch hatte ich nun meine beiden Bildchen mitgenommen, die Mutter Gottes und den hl. Aloisius, weil sie nach meiner Meinung einer kleinen Weihe bedurften. Sonst wurden ja die Bilder, nach Veronika, von einem Priester eingesegnet, aber darauf mußte ich verzichten. Es genügte wohl, wenn die Bilder ein wenig in der Kirche gewesen waren und ich sie etwas mit dem Weihwasser benetzte, das doch auch vom Priester gesegnet war. Zu diesem Vorhaben hätte ich ohnehin kein Publikum brauchen können, und darum hatte ich mir sorgfältig eine stille Stunde ausgesucht, in der ich möglichst ungestört mich meiner andächtigen Beschäftigung hingeben konnte.
Die schwere Türe ließ sich lautlos und willig aufziehen. Wie schön das war, man brauchte nicht 176 einmal anzuklopfen. So einladend und doch so feierlich lag sie vor mir, die Halle des lieben Gottes. Nirgends waren Menschen zu erblicken. Nur die großen Heiligen an den Pfeilern, die hier Wache hielten, und ganz hinten schimmerte es geheimnisvoll, golden und still, ganz still. Ob ich es wagen durfte, näher zu treten? Ich hielt es für geraten, meine Holzschuhe abzustreifen und in den Händen zu tragen. Mit so grobem Schuhzeug durfte man bei uns daheim auch nicht die beste Stube betreten. Nachdem ich Weihwasser genommen und meine Bildchen benetzt hatte, fühlte ich mich sogleich etwas mehr berechtigt, mich hier aufzuhalten. Ich machte einen Rundgang durch die Kirche, sah mir in schüchterner Ehrfurcht das Leiden und Leben Jesu an. Wie er gegeißelt wurde! Wie er dastand ohne Kleid! Es tat mir sehr leid. Was aber war und nützte mein Leidtun? Jetzt durfte ihm nichts mehr weh tun. Was seine Mutter wohl dazu gesagt hatte, einmal? Ja, hier hielt sie ihn auf ihrem Schoß. Das Bild war so ernst, so schön, so groß, ich betrachtete es lange und ging dann, meinen Schritt immer mehr verlangsamend, dem Altar zu. Hier waren hinter Glas wohl kostbare Reliquien verborgen, märchenhafte, seltsame Andenken von Heiligen. Versonnen betrachtete ich den Altar, ein mattes Gold glänzte. Mir war, als wecke ich uralte Erinnerungen aus einem langen Schlafe. Ich bin immer hier gewesen, sagte ich und wußte nicht, zu wem. Ich sah die Statue des heiligen Aloisius und mir war, als dringe mein Atem in ein Denkmal aus Stein. Es war ein sanftes, engelhaftes Gesicht, das ich immer wieder sehen würde. Bitt für uns, so sangen die Kinder 177 ihm zu. Und dann hatte er ein ganz leises, feines, fernes Lächeln. Er betete. Ich sah es.
Ihm gegenüber stand die Mutter Gottes. Ich sah zu ihr hin. Sie hielt das Kind im Arm, so, als wolle sie es jedem Betrachtenden zeigen. Und das Kind selbst streckte seine kleinen Arme aus. Oh, mit solcher Mutter läßt sich sprechen, die jedem ihr Kind schenken will und alle Kinder wie eine Mutter an sich nimmt und schützt.
Groß und mächtig wirkte ihre Erhabenheit auf mich, aber ihre Güte ließ Vertrauen fassen. Sie war die Mutter der Liebe, von der ich mich nicht trennen mochte. Diese Stunde schien mir unwiederbringlich. Ich wußte ja nicht, ob ich Gelegenheit hätte, wieder hierherzukommen, aber sie stand ja nicht nur hier auf dem Sockel, die Mutter Gottes. Sie wollte in den Herzen ihrer Kinder wohnen. Also mußte sie mit mir kommen, bei mir bleiben.
Allmählich begann es dunkler zu werden. Weiche blaue Schatten hüllten die Heiligen ein, so daß sie mir wie lebend erschienen. Als ich der Mutter Lebwohl sagte, lächelte sie: auf Wiedersehen. Aber sie wollte ja bei mir bleiben. Schön war es, daß sie so weit weg im Himmel war und doch so nahe bei mir. Ich wünschte mir ihr Bild einzuprägen, das ich grüßen wollte, immer wieder. Sie selbst mußte mir dabei helfen und mir beistehen, da sie die Mutter der Liebe ist.