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Am folgenden Tage verließ Clarissa, von einem Agenten der Sittenpolizei und von Mimi begleitet, das Hospital. Sie war noch außerordentlich schwach und konnte sich im Wagen kaum aufrecht erhalten.
»Es ist unnütz,« sagte sie zur Bonne, »mich von neuem in das Haus, in welchem ich wohnte, einsperren zu wollen. Ich nehme mir eher das Leben.«
»Aber wir fahren ja zur Eisenbahn,« antwortete das heuchlerische Geschöpf, »und zwar auf Befehl,« fügte sie, auf den Polizeibeamten deutend, hinzu.
Man kam in der That bei einem großen Bahnhof an, dessen Leben und Treiben Clarissa etwas beruhigte. Sie hoffte im Falle einer neuen Gewaltthat dort Schutz zu finden, und fühlte sich noch sicherer, nachdem sie mit ihrer Gefährtin in dem eleganten Koupé eines Waggons Platz genommen hatte. Sie hoffte, daß ihre Verfolger ihrer Schändlichkeiten endlich satt geworden seien, und Mimi bestärkte sie in diesem Glauben, indem sie ihr sagte, Herr Pandarus habe sie beauftragt, ihre Pflegebefohlene an Bord eines nach London abgehenden Dampfers zu bringen.
Man kam in Antwerpen an. Ein unscheinbarer Wagen, den man für eine gewöhnliche Droschke halten konnte, stand dort unter den zahlreichen Fuhrwerken, welche stets die Ankunft der Eilzüge von Brüssel erwarteten.
Ein unbemerkbares Zeichen wurde zwischen Mimi und dem Kutscher gewechselt. »Nur schnell,« wandte sie sich dann zu ihrem Opfer, »wir haben knapp Zeit das Schiff zu erreichen, wenn wir nicht bis morgen warten wollen, beeilen wir uns also.« Von frohester Hoffnung neu belebt, stieg Clarissa eilig in die angebliche Droschke. Der Wagen fuhr im Galopp durch die engen Straßen der alten Stadt, und nach einer Viertelstunde hielt er vor einem alten und hohen Hause in einer düsteren Straße, an deren Ende man deutlich die See und einige Schiffsmasten erblickte.
»Schnell, Clarissa,« rief die Bonne, »wir sind angekommen. Das Schiff liegt am Quai,« Unsere Heldin sprang aus dem Wagen und – wurde von drei kräftigen Weibern in Empfang genommen, die jenem Schlage, welche Jordaens in einigen feinen naturalistischen Gemälden verewigt hat, anzugehören schienen.
Bevor das junge erschrockene Mädchen Zeit hatte den Mund zu einem Schrei zu öffnen, fiel die dicke Thür hinter ihr zu, und sie war von neuem eine Gefangene, oder sie begriff, daß sie niemals aufgehört hatte, eine zu sein.
Die Ärmste wurde gleich in das erste Stockwerk geführt, oder mehr getragen, und zwar in ein Gemach, welches dem luxuriösen Kerker, den sie in Brüssel hatte bewohnen müssen, in allen Stücken glich; dieselbe Auspolsterung der vier Wände, ein Spiegel an der Decke, ein Teppich auf dem Boden, eine hermetisch verschlossene Thüre, ein Lager und ein rundes Tischchen; brennendes Gas ersetzte wie dort die fehlenden Fenster und alles war in derselben Größe. Kurz, sie konnte glauben, wieder in Brüssel zu sein, ja sie war nicht einmal sicher, daß sie nicht wirklich dort war, und daß der Bahnzug sie nicht an den Ort der Abfahrt zurückgebracht habe. Über den Charakter des Ortes, wo sie sich befand, konnte sie nicht im Zweifel sein. Sechs Monate fortgesetzter Prüfung hatten sie über die spitzfindige Verworfenheit der modernen Gesellschaft aufgeklärt.