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Fünfzehntes Kapitel

Jetzt erst begriff Clarissa die ganze Ausdehnung ihres Unglücks. Sie fühlte, daß sie rettungslos verloren war, denn sie befand sich vollständig in der Gewalt ihrer grausamen Feinde. Alle Roheit, alle Niederträchtigkeit, alle Habsucht der schändlichen Bande hatte sich gegen sie verschworen. Sie glaubte wahnsinnig zu werden, und wäre es geworden, ohne ein Geschenk des Himmels – die Thränen. Ihnen folgte das heiße Gebet, ihre einzige Zuflucht. Von den Menschen hatte sie nichts mehr zu erwarten, und sie wandte sich zu Gott. Niemals war ihr der erhabenste Trost der Leidenden fühlbarer geworden als in diesem Augenblick, aber ihr Glaube lehrte sie zugleich, nicht zu verzagen und zu suchen, sich selbst zu helfen, und trotz ihrer verzweifelten Lage verzweifelte sie nicht. Ihren Schmerz überwindend und ihre Thränen trocknend, begann sie damit, sich die Gefahren, welche sie umgaben, klar zu machen, und jedes Mittel zur Flucht zu erwägen, während das wilde Geheul der Orgien die Räume des Hauses erfüllte. Sie begriff jetzt, warum sie keine Briefe aus der Heimat erhalten hatte, und daß es für sie unmöglich sein würde, ihren Lieben Nachricht zu geben, so lange sie in diesem Kerker schmachtete.

Der Morgen brach an, ohne daß sie Schlummer gefunden hatte. Sie rüttelte am Fensterladen, durch den ein frischer Luftzug eindrang, – alles vergeblich, er war an starken Ketten befestigt, sie war eine Gefangene, für sie gab es weder Thüre noch Fenster. Ein Schrei der Verzweiflung entrang sich ihrer Brust, ihre kleinen Hände bluteten unter der Anstrengung, die Kette zu brechen – alles umsonst.

»Ihr, die ihr hier eintretet, gebt alle Hoffnung auf«, sagte sie niedersinkend! Noch auf der Erde schuldlos in die Hölle geworfen, sah sie keine Möglichkeit der Rettung. Die Straße ging unter ihrem Fenster vorbei. Dort unten war Freiheit! aber Niemand war da, der sie befreien konnte, oder wollte. Die Nachbarn waren zu sehr an den Lärm im Hause gewöhnt, um sich darum zu bekümmern, was darin vorging.

Nachdem sie sich etwas gesammelt hatte, schrieb sie in ihr Tagebuch:

»Mein Gott, was habe ich gethan, um dies Schicksal zu verdienen? Ich kann nicht einmal hoffen, daß diese Zeilen jemals an meine Freunde gelangen. Ich fühle es, ich bin verloren. Ich will mich nicht töten und könnte es nicht; aber was soll aus mir werden? Verloren für dich, William! O meine Mutter, warum durfte ich nicht meinem Vater folgen? Der Tod ist meine einzige Hoffnung, meine letzte Zuflucht. Der Todeskampf meiner Seele verwirrt mich völlig.«

Draußen war jetzt alles ruhig. Das Haus schien zu schlafen, während die anständigen Leute längst an ihre Arbeit gegangen waren. Um zehn Uhr kam die englische Bonne und brachte ihr das Frühstück.

»Fräulein«, sagte sie, »essen Sie nur etwas und beruhigen Sie sich, Sie müssen doch begreifen, was man von Ihnen verlangt. Wir haben oft solche unvernünftige, widerspenstige Mädchen gehabt, aber wir können das nicht lange so gehen lassen.«

War Clarissa in der schwierigsten Lage, in welcher sich jemals ein weibliches Wesen befinden konnte, so befanden sich Pandarus und sein Weib in nicht weniger grauenvoller Angst.

Dieses teuflische Paar hatte hunderte von unschuldigen Mädchen zu Grunde gerichtet, aber noch niemals war es einem so entschlossenen Widerstande begegnet. Sonst hatte eine Dosis Gift in den Wein gemischt, bald den gewünschten Erfolg gehabt, aber der Ruhe und Würde, der Einfachheit und Mäßigkeit Clarissens standen die beiden Lastergenossen als einem ihnen unbegreiflichen Falle ratlos gegenüber. Sie fühlten dunkel, daß ihre Mittel in diesem Kampfe nicht ausreichten. Auch waren sie nicht ohne geheime Furcht vor den Gewaltmaßregeln, welche von den Freunden der jungen Engländerin versucht werden könnten. Sie wußten, daß sich schon eine mächtige Bewegung gegen das System, von dem sie lebten, mehr und mehr geltend machte, und wären am Ende so weit gegangen, Clarissen, ungeachtet des großen, für sie gezahlten Kaufpreises, freizulassen; aber sie fürchteten den Lärm, der über die Sache gemacht werden würde. Es war leicht vorauszusehen, daß Clarissa, einmal heimgekehrt, nicht schweigen würde; in dieser Voraussetzung irrten sie sich allerdings nicht.

So erzeugt ein Verbrechen stets ein anderes. Es wurde also beschlossen, zu gewaltsamen Mitteln zu schreiten. Sie hatten Clarissa rufen gehört, und das konnte sich wiederholen und anderwärts gehört werden. Sie kamen also überein, die unglückliche Clarissa in ein abgesondertes Zimmer einzusperren, wo sie von der Außenwelt völlig abgeschlossen, und auch ein Selbstmord weniger möglich war.

Im Laufe des Tages bewerkstelligte man diese Übersiedlung und brachte Clarissa in ein »Boudoir,« das keine Fenster hatte und dessen Thür von inwendig nicht sichtbar war. Die Wände des Gemaches waren gepolstert, den Fußboden bedeckte ein dicker Teppich, und die einzigen Möbel des eleganten Schlupfwinkels bestanden aus einem Lager mit einigen harten Kissen und einem runden Tischchen, doch war alles mit rosa Seide bedeckt, und eine Tag und Nacht brennende reiche Lampe erleuchtete den Raum. Die Decke bildete ein einziger prachtvoller Spiegel. Kein Schrei konnte aus diesem kostbaren Kerker nach außen dringen, und die letzten Angriffe gegen die Ehre eines Mädchens waren hier nur noch die Frage der rohen Gewalt. Selbst Gift und Mord konnten wenig Spuren zurücklassen.


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