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Neunzehntes Kapitel

Der Kriminalbeamte Dollon war eine der Zierden, selbst der englischen, der besten Polizei der Welt. Schon mit 15 Jahren in »Scotland Yard« eingetreten, hatte er im Alter von 40 Jahren, in welchem wir seine Bekanntschaft machen, mehr Verbrecher verfolgt, entdeckt und verhaftet, als er Jahre zählte. Weder groß noch klein, aber ungemein kräftig, vereinigte er mit einem seltenen Grad von Stärke eine Gewandheit und eine Witterungsgabe, die ans Wunderbare grenzten. In schwierigen Fällen war es ihm leicht, die verschiedensten Rollen zu spielen, um zu seinem Zweck zu gelangen, und es war für ihn nichts Ungewöhnliches, z. B. als Taschendieb unter Leuten dieses unsaubern Gewerbes zu verweilen und es ihnen an Geschicklichkeit womöglich noch zuvor zu thun, um so ihr Treiben kennen zu lernen.

In Brüssel angekommen, nahm er eine höchst elegant ausgestattete Wohnung in einem der nobelsten Quartiere. Er gab sich für einen französischen Gemälde-Liebhaber aus, und alle Welt hielt ihn auch dafür, so geschickt wußte er die französische Art und Weise nachzuahmen.

Von dem unumschränkten Kredit Gebrauch machend, der ihm eingeräumt war, ließ er sich in mehrere Klubs aufnehmen, besuchte die feinsten Cafés, dinierte in den teuersten Restaurants, war immer zum Spielen bereit und kaufte von Gemälden, was immer einen Wert haben konnte, ohne zu knausern. Auf diese Weise konnte es nicht fehlen, daß er die Bekanntschaft einer beträchtlichen Anzahl junger Leute machte, deren einzige Beschäftigung darin bestand, sich zu amüsieren. Da er niemals die Teilnahme an einer »feinen Partie« ablehnte, hatte er binnen drei Monaten eine große Anzahl öffentlicher Häuser kennen gelernt, und war in denselben, Dank der Einführung durch seine Freunde, mit besonderer Zuvorkommenheit aufgenommen worden. Dennoch aber rückte er der Erfüllung seiner Aufgabe nicht näher, da er sich hüten mußte, Freunden Fragen zu stellen, welche irgend einen Verdacht hätte erwecken können.

Er mußte alles dem Zufall überlassen, den er in einem glücklichen Augenblick auszunutzen hoffte. Eines Tages, als er eben einem seiner Kameraden eine Banknote von tausend Francs geliehen hatte, kam die Rede auf die öffentlichen Häuser. »Ich habe ganz vergessen, Dollon,« sagte der junge Wüstling, »Sie, der Sie doch Liebhaber sind, auf ein außergewöhnlich schönes Mädchen aufmerksam zu machen, das bei Pandarus ist. Man denkt nicht immer daran, weil sie von allen Andern getrennt gehalten wird, und sie Niemand zu sehen bekommt, als wir und unsere Freunde. Letzthin hatte ich eine Zusammenkunft mit ihr, aber obgleich ich ganz geblendet von ihr war, konnte ich doch nichts aus ihr herausbringen als Thränen. Pandarus sagte mir, sie sei wahnsinnig. Ich glaube jedoch eher, daß sie gegen ihren Willen dort ist; aber das geht mich ja nichts an!«

Man kann sich denken, daß Dollon beide Ohren spitzte, ohne jedoch mit der kleinsten Muskel seines Gesichts den Anteil zu verraten, den er an dieser vertraulichen Mitteilung nahm.

»Bah«, erwiderte Dollon mit blasierter Miene, »Sie sprechen stets von Ihren schönen Mädchen, und ich finde sie schrecklich.«

»Wollen Sie mit mir um die tausend Francs wetten, die Sie mir geliehen haben, daß Sie dieses Mädchen herrlich finden werden?«

»Wenn Sie wollen«, sagte Dollon.

»Aber ich vergaß, die Eingeführten müssen sich zu dem unverbrüchlichsten Stillschweigen verpflichten.«

»Gut, gut,« erwiederte Dollon.

Die Lösung der Frage, ob Dollon sich mit der Absicht sein Wort zu brechen verpflichten konnte, ein Geheimnis dieser Art zu bewahren, muß ich allerdings den Morallehrern überlassen. Immerhin glaubte er es vom Standpunkte eines Polizeimannes thun zu dürfen.

Er besaß außer der Photographie von Clarissa, die genauesten Angaben über ihr Äußeres aus dem Munde ihres Verehrers selbst, und war überzeugt, daß es ihm leicht sein würde, sie zu erkennen.

»Wenn sie es ist,« sagte er zu sich selbst, »werde ich meine Aufgabe, statt in einem Jahre, in drei Monaten gelöst haben, wie ich erbot. Alle Wetter, das wäre dann rasch gegangen, und wie glücklich würden die braven Leute in London sein!«

Noch am Abend desselben Tages begaben sich Dollon und sein Führer nach Nr. 40, wo sie schon öfter zusammen die Nächte verjubelt hatten.

Sie wurden von Pandarus und dessen Frau ungemein zuvorkommend empfangen. Dollon bemerkte, wie sein Freund dem Kuppler die Hand drückte und ihm zuflüsterte: »Lieber Pandarus, Sie erinnern sich, daß Sie mir jene junge und schöne Engländerin zeigten, bei der ich nichts erreichte. Ich führe Ihnen hier einen vornehmen, zuverlässigen und reichen Liebhaber zu, der sie zu sehen wünscht«. Dabei betonte er die letzte Eigenschaft mit einem bezeichnenden Augenzwinkern.

»Ah, das trifft sich schlecht«, sagte der Hausbesitzer, »sie ist diesen Morgen nach ihrer Heimat gereist und wir erwarten sie erst in zwei Monaten zurück. Sie ist in der That über alle Beschreibung schön, und wenn der Herr wieder vorbeikommen will, so werde ich mir ein Vergnügen daraus machen, sie ihm entweder hier oder in meinem Hause zu Antwerpen vorzustellen. Hier ist übrigens ihr Bild.« Bei diesen Worten zeigte ihm Pandarus eine Photographie Clarissens, die er ihr weggenommen hatte.

Dollon bedurfte nur eines flüchtigen Blickes, um sie zu erkennen.

So war denn ein Ring aus der Kette gesprengt, aber wie viele Schwierigkeiten waren noch zu überwinden! Was bedeutete diese Abwesenheit von zwei Monaten? Dollon konnte nicht glauben, daß Clarissa von ihrem Peiniger nach England gesandt worden sei. Es lag etwas Unheimliches in dieser Einladung, in zwei Monaten wieder herbeizukommen, und was sollte die Bemerkung, die Pandarus über sein Haus in Antwerpen gemacht hatte?

Mit der gleichgültigsten Miene sagte er: »Ja dieses Mädchen ist recht hübsch, aber wissen Sie, ich werde in einigen Tagen nach Antwerpen gehen, könnten Sie mir nicht einige Adressen guter Häuser geben?«

»Ganz gewiß«, antwortete der Kuppler rasch, »aber bitte, erweisen Sie mir die Ehre, meine Anstalt am Riedyk Nr. 200 zu besuchen, Sie werden dort eine Auswahl der größten Schönheiten finden.«

Dollon hielt ohne Zweifel ein Ende des roten Fadens, der ihn bei andern Anlässen so oft zum erwünschten Ziele geführt hatte, in der Hand. Noch an demselben Abend schrieb er an William einen langen und chiffrierten Brief, da er kein Zutrauen zu der belgischen Post hatte, um ihn vom neuesten Stande der Sache zu unterrichten.


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