Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einleitung

Es ergeht ein Notruf, ein gellender Schmerzensschrei durch die Länder und Völker der Erde, er erhebt sich klagend und anklagend gegen tiefe und herbe Wunden der Gesellschaft und des sittlichen Lebens, er protestiert gegen die Ausbeutung des schutzlosen, schwachen Geschlechtes, vorzüglich auf Seite der Armen und Elenden, durch die zügellosen und selbstsüchtigen Gelüste des sogenannten starken Geschlechtes, vorzüglich auf Seite der Bevorzugten, der Reichen und Vornehmen dieser Erde. Diese Ausbeutung hat in den großen und selbst mittelgroßen Städten den Charakter himmelschreiender Verbrechen gegen den Anstand und die Sitte nicht nur, sondern auch gegen die Sicherheit der Unschuld und aller weiblichen Jugend und Anmut angenommen. Das alte festgerammte Vorurteil, der traurig verblendete Irrtum, als würden die leichten Truppen der Prostitution durch Freiwillige, durch Liebhaberinnen dieses »Berufes« rekrutiert, ist tief erschüttert und im Hinschwinden begriffen. Amtliche Untersuchungen, nüchterne Protokolle, Aktenstücke ohne Schwärmerei und Idealismus haben bewiesen, daß jene traurigen und bemitleidenswerten Heere vorwiegend, ja vielleicht fast gänzlich durch List und Gewalt gebildet werden! Ja es ist entsetzlich, aber wahr: jene Verachteten, jene Verstoßenen, jene Verlorenen sind ebenso unschuldig, ebenso sittsam gewesen wie eure wohlgehüteten Töchter, ihr ehrsamen Bürger! Aber weil sie arm waren, glaubte das im Finstern schleichende, durch Gelddurst genährte Verbrechen sich berechtigt, sie unter falschen Vorgaben in jene Häuser bringen und dort mit Gewalt als Gefangene festhalten und zum Laster zwingen zu dürfen, in jene Häuser, welche von den Rechtschaffenen gemieden, von der Polizei aber, zum angeblichen Schutze der lüsternen und wohlhabenden Männer gegen ansteckende Krankheiten, notorischen Schurken und Galgen- und Zuchthauskandidaten zu halten gestattet werden, ohne Rücksicht darauf, woher die armen Opfer jenes schamlosen Venusdienstes genommen, wie sie behandelt werden und was ihre Zukunft sein wird, und ob alles dies mit den Geboten der Sittlichkeit, ja auch nur: ob es mit dem Strafgesetzbuche verträglich ist.

Das Deutsche Reich hat diese Häuser der Schande unterdrückt und es ist dies ein neues Lorbeerreis um seine Stirne. Dessenungeachtet bestehen noch Verhältnisse im Vaterlande, die nicht viel besser, obschon allgemein bekannt sind. Das vorliegende Buch zeigt, wie es in dieser Hinsicht in einem ausländischen Staate aussieht, und dürfte zu lehrreichen Vergleichungen der in- und ausländischen Zustände Anlaß bieten.

Alexis Splingard, ein belgischer Rechtsanwalt, welcher durch seinen Wohnsitz in Brüssel und noch mehr durch seinen Beruf zum gründlichen Kenner der bezüglichen Verhältnisse wurde und dem Schreiber dieser Zeilen durch persönlichen und brieflichen Verkehr nahetrat, hat durchaus wahre Vorkommnisse zur Grundlage seiner Erzählung genommen. Damit jeder Leser sich hiervon überzeugen kann, hat der Verfasser dieser Einleitung die von der großbritannischen Regierung ausgehenden amtlichen Quellen, in denen jene Vorkommnisse enthüllt sind, selbst studiert, und giebt hier folgenden Auszug aus denselben:

Im Jahre 1880 wurde die Aufmerksamkeit der britischen Regierung durch wiederholte Anzeigen dahin gelenkt, daß ein Treiben im Schwange gehe, junge Engländerinnen unter falschen Vorwänden nach Belgien zu locken, sie dort zur Ausübung der Prostitution zu zwingen und sie mit Gewalt in übelberüchtigten Häusern gefangen zu halten Die Hauptquelle für das hier Berichtete ist folgende amtliche Schrift: Report from the select committee of the house of Lords on the law relating to the protection of young girls; Session 1881. Seite 115 u. ff. Nachdem diese Angelegenheit von Beamten der Londoner Polizei mehrfach untersucht worden, fand es Sir William Harcourt rätlich, daß ein englischer Jurist von Erfahrung und Ansehen persönlich der Sache nachforschen sollte. Die britische Regierung verschaffte sich nun vorerst die Überzeugung, daß die belgische Regierung diesem Vorhaben alle mögliche Unterstützung leihen werde, und als sie dieses anzunehmen Grund hatte, wurde der Rechtsanwalt T. W. Snagge in Middle Temple zu dieser Mission ausersehen und sodann mit allen erforderlichen Vollmachten nach Brüssel gesandt, wo er sich im Dezember 1880 vierzehn Tage und im April 1881 eine Woche lang aufhielt und seine ganze Zeit dem ihm erteilten Auftrage widmete. Zu diesen beiden Monaten fanden nämlich vor dem korrektionellen Gerichtshofe in Brüssel die Verhandlungen gegen Personen statt, welche solcher Vergeben, wie sie oben angedeutet worden, angeklagt waren. Die belgischen Behörden kamen dem britischen Abgesandten in allen Stücken mit der größten Bereitwilligkeit entgegen. Dies und die gerichtliche Bestrafung der Schuldigen in dieser Angelegenheit beweist, daß Belgien jene Schmach auszurotten endlich entschlossen ist. Ob es ihm gelingen wird, vermögen wir vor der Hand noch nicht zu beurteilen. Folgendes sind die Ergebnisse der Untersuchung.

1.

Im Januar 1874 berichtete der britische Konsul Wodehouse in Antwerpen in einer Depesche an Lord Granville, daß er Anzeigen erhalten von den Verwandten zweier junger Mädchen, welche aus ihrer Heimat in England durch einen geborenen Holländer, Namens Klyberg, weggelockt und unter dem Vorwande, ihnen achtbare Stellungen zu verschaffen, nach Frankreich gebracht worden seien, wo Klyberg sie in Dünkirchen einem Bordellhalter, eine jede für 250 Franken, verkauft habe. Nach dem französischen Gesetze darf kein Mädchen unter 21 Jahren in einem Hause dieser Art gehalten werden und diejenigen, die in solchen aufgenommen zu werden wünschen (?), müssen Geburtsscheine vorweisen; es ging aber aus den Aussagen jener Mädchen hervor, daß Klyberg denselben falsche Scheine verschafft hatte auf welchen weder die Namen, noch das Alter die ihrigen waren. Dem Konsul Wodehouse gelang es, die beiden Mädchen nach England zurückzusenden; aber am nächsten Tage kam Klyberg mit zwei weiteren jungen Mädchen über Calais in Dünkirchen an. Auf Antrieb des Konsuls wurde er sofort verhaftet, und da sich herausstellte, daß diese Mädchen gleich den früheren betrogen worden und daß die ihnen von Klyberg gegebenen Scheine weder ihren Namen noch ihr Alter trugen, da beide noch nicht 21 Jahre alt waren, brachte Wodehouse sie in einem achtbaren Hause unter und verschaffte sich ihre wahren Geburtsscheine. Daraufhin wurde Klyberg vor Gericht gestellt und zu sechs Monaten Gefängnis, einer Geldbuße von 50 Franken und zum Verluste der bürgerlichen Rechte für zwei Jahre verurteilt. Die Mädchen aber wurden nach England gesandt.

Da man annehmen durfte, daß Klyberg oder »Kleber«, wie er sich auch nannte, seinen schändlichen Handel Jahre lang betrieben hatte, so wurden in Belgien und England Nachforschungen angestellt, und nach Klybergs Entlassung aus dem Gefängnis wurde sein Verhalten sorgfältig überwacht. Es zeigte sich denn auch, daß er sein gräuliches Gewerbe mit geringer Unterbrechung fortsetzte. Im Juli 1875 sah ein Polizei-Inspektor, wie er aus dem Bahnhofe Charing-Croß zu London mit drei weiblichen Personen in der Richtung nach Calais abfuhr. Im August desselben Jahres nahm er ein junges Mädchen Namens Jane Robinson mit sich von London fort und brachte sie in einem übelberüchtigten Hause zu Rotterdam unter, von wo sie später durch den Oberinspektor Greenham weggenommen und ihrer Mutter zurückgegeben wurde. Noch in demselben Jahre wurde Klyberg eines ähnlichen Verbrechens überführt und aus Frankreich verbannt; als er sich trotzdem wieder dort sehen ließ, erhielt er nur zwei Monate (!) Gefängnis. Während des ganzen Jahres 1876 waren Klyberg und sein Weib damit beschäftigt, den Inhabern schlechter Häuser in Holland, Belgien und Frankreich Mädchen aus London zu liefern. Im September 1876 erhielt der britische Gesandte in Brüssel einen Brief, dessen Verfasser ihm anzeigte, seine Schwester sei mit einem andern Mädchen, unter dem Vorwande, ihnen Stellen als Dienstboten in einem achtbaren Gasthofe in Brüssel zu verschaffen, von einem Herrn und einer Frau »Cleebourg« aus London weggeführt und auf dem Continent an geduldete Prostitutionshäuser verkauft worden. Die Sache erwies sich als vollkommen wahr, und es gelang dem Gesandten, die Mädchen aufzufinden, zu befreien und nach England zurückzusenden. Im Januar 1877 fand die Polizei im Haag, als sie einem Hause nachforschte, in welchem Klyberg ein englisches Mädchen untergebracht hatte, sechs Briefe mit dessen Handschrift, die an den Inhaber des Hauses gerichtet waren. Im März darauf wurde Klyberg in Antwerpen verhaftet und wegen Führung eines falschen Namens zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Es wurden daselbst weitere Briefe von ihm aus London an Inhaber solcher Häuser mit Beschlag belegt. Folgendes sind Proben aus einigen dieser französisch abgefaßten Briefe, welche in grauenhaft nüchterner Weise die entsetzliche Sache ganz geschäftsmäßig auffassen.

Lieber Xaver!

... Nun lassen Sie uns von Geschäften sprechen. Ich habe Sie nicht gesehen seit meiner letzten Reise, als ich jenes englische Mädchen in Brüssel unterbrachte, das Sie nicht als Nr. 4 nehmen wollten, weil sie nicht schreiben konnte, um ein förmliches Gesuch zur Aufnahme in ein Freudenhaus aufzusetzen und Sie sich wegen dieser Angelegenheit der »Weißen« Es scheint, daß die Schurken ihren scheußlichen Handel selbst einen solchen mit »Weißen« d. h. weißen Sklavinnen) nennen!, vor der Polizei fürchteten. Jetzt da diese Sache vergessen ist und seitdem englische Mädchen von jedem Alter nach Antwerpen gekommen sind, die alle angenommen wurden, können Ihnen die Polizeibehörden nicht mehr verweigern als Anderen. Wenn sie daher weiter welche brauchen, so schreiben Sie mir. Ich habe mehrere Schönheiten, welche mir gesagt haben, sie wünschten zu gehen ... Antworten Sie mir umgehend, ob Sie kommen oder Jemanden nach London senden wollen, um sie abzuholen, 150 Franken das Stück Im Original heißt es immer »Colis« d. h. Warenballen! oder 300 Franken bis Ostende. Lemoine hat mir wegen Quoilin geschrieben, welcher mir gern 300 Franken für das Stück bezahlt. Ich antwortete ihm, daß ich mit solchem Gesindel keine Geschäfte mache. Unsere Grüße an Ihre Frau und alle Ihre englischen Mädchen. Meine Frau empfiehlt sich Ihnen.

Ihr Freund Klyberg.

 

..... Ich habe zwei sehr hübsche Stücke, welche Ihnen sehr gut passen werden, zwei gute Mädchen; Sie wissen, daß ich Sie immer gut bedient habe und Sie stets gut zu bedienen wünsche. Wenn Sie mir Tag und Stunde Ihrer Ankunft schreiben, so wird alles bereit sein, damit Sie keine weiteren Auslagen haben. Quoilin ist auch gekommen; er läßt sich überall rupfen und hat 1000 Franken ausgegeben ohne etwas dafür zu haben, das sich sehen läßt. Welch' ein Pechvogel! Er reiste nackt und blos und erbittert gegen alle Welt ab. Louis lachte ihm ins Gesicht.

 

Mein lieber Quoilin Den er oben »Gesindel« ( canaille) nannte und über dessen Prellung er sich nachher lustig machte! Klyberg schrieb diesen Brief im Spital, da er sich auf der Reise einen Fuß verstaucht (leider nicht den Hals gebrochen) hatte.

.....Sie werden mich Dienstags früh bei Ihrer Ankunft in London finden, wenn Sie Ihre Waren zu holen kommen. Sie können dieselben am gleichen Abend mitnehmen. Alles wird bereit sein, und ich garantiere Ihnen, daß es Ihnen, wenn Sie sie in London abholen, nur halb soviel kostet, wie in Ihrem Hause. Ich habe ein hübsches, großes, brünettes Mädchen mit herrlichen Zähnen, tadelloser Büste, mit einem Wort ein schönes Weib und ein gutes Mädchen. Meine Frau hat sie seit drei Wochen, deshalb schrieb sie Ihnen. Ich habe auch ein großes blondes Mädchen, wenn Sie Platz dafür haben. Ich bedaure sehr, daß ich nicht hinübergehen kann; ich habe Geschäfte in Holland. Man bot mir ein Haus in Leyden an; ich möchte mit Ihnen darüber sprechen. Sarah, das Weib, welches das Haus in Amsterdam hält, hat mich auch wegen zwei Stück gefragt, und die Leute in zwei andern Häusern verlangten ebenfalls Ware, so daß ich, sobald ich reisen kann, Geld machen werde, und wenn ich das Haus in Leyden übernehme, so werde ich mein eigener Agent sein und beständig reisen. Ich werde ein Absteigequartier in London haben, wohin ich kommen kann, um Mädchen zu holen ...

 

Diese Proben mögen genügen! Der elende Klyberg hatte auch mitunter Mißgeschick bei seiner Seelenverkäuferei und mußte unter anderm ein Mädchen, das er nicht anbringen konnte, auf seine Kosten aus dem Haag nach London zurückbringen, was er ein großes Pech nennt. Als man dann, wie erwähnt, seine Briefe in Besitz genommen, that die englische Regierung Schritte, ihn in ihre Gewalt zu bekommen. Sofort nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis in Antwerpen wurde er, im Oktober 1877, in London verhaftet und auf Verlangen der niederländischen Gerichte nach Rotterdam ausgeliefert, wo er zu zwei Jahren schwerer Arbeit verurteilt wurde. Nach Verlauf dieser Strafzeit hatte er die Stirne, nach London zurückzukehren und sein schändliches Gewerbe fortzusetzen, wofür im Jahre 1889 Beweise gefunden wurden, bestehend in einem Briefe an den Nachfolger seines Freundes Quoilin im Haag und dessen Frau. Als man ihn aber zu greifen hoffte, hatte er sich bleibend in Rotterdam niedergelassen, wo er wahrscheinlich nach wie vor »wirkt«, wenn er noch nicht die Erde von seiner Gegenwart befreit hat.

Doch, Klyberg ist nicht der einzige Schurke seiner Art; es sind ihrer die schwere Menge. So ein Franzose, Namens Courtney, welcher nicht einmal wie Jener die Rücksicht hatte, die widerspenstige oder nicht abgesetzte Ware nach ihrer Heimat zurückzubringen, sondern sie einfach auf der Straße stehen ließ! So machte er es 1876 in Amsterdam mit drei Engländerinnen auf einmal. Von mehreren anderen in dem verrufenen »französischen Viertel« Londons wohnenden Franzosen sind ähnliche Briefe wie von Klyberg aufgefunden worden. Dazu kommt noch ein jüdischer Fischhändler, Carroty Jack, in Westminster-Street. Die gefährlichste Bande aber, die mit Klyberg wetteiferte, besteht aus John Sellecarts, auch Sells oder Selly, Mrs. Sellecarts, auch Mrs. Vero, Friedrich Schultz, auch Marks, Emile Regnier und des letztern angeblicher Frau. Sellecarts, dessen wahrer Name Raphael Marie Vandeleur zu sein scheint, war 1880 etwa 46 Jahre alt und wurde bestraft: 1848 wegen Diebstahls mit 19 Tagen, 1854 als Diebstahls-Gehilfe mit 4 Monaten, 1864 wegen Mißhandlung seiner Mutter mit 12 Monaten, 1866 wegen Mißhandlung mit 15 Tagen, 1874 wegen Mißhandlung und Verwundung mit einem Monat, 1879 wegen Mißhandlung mit 18 Monaten. Sein Geschäft war, Mädchen in London aufzutreiben und nach Brüssel zu bringen, wo er mit allen Bordellhaltern in Verbindung stand. Das Weib, mit dem er lebte, eine Irländerin, Raphael genannt, deren wahren Namen er aber nie gekannt, suchte die Mädchen zusammen und führte den Briefwechsel mit den Bordellhaltern, da Sellecarts selbst nicht schreiben konnte. Der letztere brachte die Mädchen nach dem Kontinent und übergab sie ihren neuen »Besitzern«, von denen er das Blutgeld in Empfang nahm.

Folgender Brief des genannten Weibes ist bezeichnend:

 

Greek-Street, Soho-Square,
W. C. London, 3. April 1878.

Madame! Ich eile Sie zu benachrichtigen, daß ich zwei hübsche englische Mädchen habe, welche in ein »Haus« zu gehen wünschen. Ihr wirkliches Alter und alle Papiere sind völlig in Ordnung. Ich habe nicht die Ehre, Ihnen persönlich bekannt zu sein, aber ich bitte Sie zu glauben, daß ich nicht wie Kleber handle. Also auch unter dieser Bande Brotneid und Heuchelei! Bei mir muß alles anständig (!) zugehen; denn seit der Angelegenheit Klebers ist es allzu gefährlich geworden, englische Mädchen unter falschen Versprechungen nach dem Auslande zu bringen und ohne die notwendigen Förmlichkeiten erfüllt zu haben. Mein Preis ist 300 Franken für das Mädchen, also 600 für beide. Ich werde sie Ihnen nach Ostende bringen, wo Sie dieselben holen können.......

Ich habe die Ehre Sie zu grüßen
Raphael.

 

Friedrich Schultz war der Teilhaber Sellecarts und machte mit ihm von jedem Gewinn Halbpart. Eine Zeugin, ein Mädchen Namens Strevens, erzählt: »Als ich im Juli 1879 London verließ, begleiteten ein Franzose (?) Sallé mit Namen (Sellecarts ist ein Belgier) und eine Französin, welche seine Maitresse ist und welche man Raphael oder Rachel (welches von beiden weiß ich nicht mehr recht) nannte, den Friedrich Schultz und mich zum Bahnhofe.« Der Bordellhalter, welchem das Mädchen übergeben wurde, sagt, daß sie ihm von Sellecarts und Friedrich Schultz gemeinsam verschafft worden, daß der für sie verlangte Preis 100 Franken betrug und daß er nicht wisse, welcher von beiden das Geld erhielt.

Auch der erwähnte Regnier und dessen Weib scheinen mit Schultz auf gemeinsame Rechnung Geschäfte gemacht zu haben. Eines der Opfer erzählt, Marks, wie sich Schultz auch nannte, habe sie und ein anderes Mädchen, die er nach Brüssel zu gehen verlockte, in London nach einem Gasthause in Castle-Street geleitet, wo sie mit Regnier zusammentrafen, der sie besichtigte, annehmbar fand und sein Weib herbeirief. Letzteres versprach den Bethörten, sie würden in Brüssel sehr glücklich sein, und Marks brachte ihnen ihre (?) Geburtsscheine. Regnier ist wegen Diebstahls 1860 und 1863 je zu sechs Monaten und 1864 zu drei Jahren und 1870 wegen Ruhestörung zu einem Monat verurteilt worden, 1873 aber wegen Teilnahme an der Pariser Kommune zum Tode, welches Urteil jedoch in Festungshaft verwandelt wurde. Nach seiner Entlassung setzte Regnier in London sein Schmachgewerbe fort wie zuvor.

Die Häuser der Schande in Brüssel versehen sich aber auch anderswie, als auf dem kostspieligen Wege über England. Es wimmelt dort von Bureaux de placement, welche vorgeben, stellensuchenden Mädchen Plätze als Dienstmädchen, Kellnerinnen u. s. w. zu verschaffen und sie dann in Bordelle stecken.

Das interessanteste dieser Bureaux ist jedenfalls dasjenige eines Monsieur Dulier gewesen, wenn es nicht noch besteht. Dieser Ehrenmann nannte sich »Mr. Paul« und hatte eine ganz merkwürdige Geschäftspraxis. In zwei Fällen wenigstens ist nachgewiesen, daß er ein Mädchen, das sich, um eine Stellung zu erlangen, an ihn wandte, – verführte und dann in einem Bordell in Brüssel unterbrachte!

2.

In den Ländern, welche in Folge einer elenden Sophistik mit dem System der gesetzlich gestatteten Unzuchtshäuser beglückt sind, oder sagen wir, in den Bordellstaaten, ist es eine der angelegentlichsten Sorgen der Polizei der Haupt- u. a. größeren Städte, die Herren der reichen und vornehmen Stände mit Futter für ihre geschlechtlichen Gelüste zu versehen und sie bei Ausübung derselben liebevoll vor Ansteckung zu bewahren. Es ist daher kein Wunder, wenn diese verzogenen Schoßkinder großstädtischer Polizeisorge in Belgien, Holland und Frankreich auch ihrerseits den Anspruch erheben, daß die Polizei ihretwegen sich jener Sorge zu unterziehen habe und daß sie die weiblichen Kinder der arbeitenden Stände, soweit sie hübsch sind, nur dazu geschaffen glauben, ihrem Vergnügen zu dienen, und sie für gut genug halten, zu diesem Zwecke verraten, betrogen, verkauft, mißhandelt, entehrt, herabgewürdigt und schließlich dem Tod im Spital oder in der Gosse überliefert zu werden. Es ist nur zu verwundern, daß der Sozialismus diese empörende Thatsache noch wenig ausgebeutet hat, noch mehr aber, daß es Staatsmänner und Ärzte giebt, die so einfältig sind, zu glauben, daß durch jene scheußlichen Kerker, in welchen Jugend und Anmut schmachten, der Verbreitung des syphilitischen Übels oder gar der Verführung und Vergewaltigung anständiger Frauen und Mädchen vorgebeugt werde. Es ist nichts falscher und verkehrter; denn ursprünglich sind ja alle die Unglücklichen, die in jene Kerker eingesperrt werden, um die reichen und vornehmen Herren zu ergötzen, rein und schuldlos. Die Unschuld wird also durch dieses lügenhafte und heuchlerische System nicht geschützt, sondern vielmehr dezimiert, freilich – blos bei den Armen!!! Anderseits aber hat das Bordellsystem noch nie die wilde oder Straßen- und Logis-Prostitution und ebensowenig die gräuelhaftesten Angriffe auf die Heiligkeit der Familienbande im Geringsten verhütet, dient also weder zum Schutze gegen die Syphilis, noch zum Schutze ehrbarer Frauen und Jungfrauen! Und wer schützt diese gegen unbemittelte Wüstlinge, denen der Eintritt in die glänzenden Lasterhöhlen versagt ist???

Doch, wir fahren fort. Die Polizei der Bordellstädte, unter denen wir in Anbetracht der zu erzählenden Thatsachen vorzugsweise Brüssel im Auge haben, ist für das Wohl ihrer reichen und vornehmen Lieblinge so zärtlich besorgt, daß sie die »Aufnahme« in jene »offiziösen« Anstalten nur nach ärztlicher Untersuchung der dazu bestimmten Mädchen gestattet. Aber wie sieht diese Besorgnis in der Praxis aus? Es genügt thatsächlich, daß ein beliebiger, nicht amtlicher Arzt (oder ein Menschenschinder, der sich so nennt) oder daß gar die Megäre, welche die Höhle unter sich hat und als Geschäft ausbeutet, die Untersuchung vornimmt. Es werden dabei die oft ohne Ahnung ihrer Bestimmung verkauften Mädchen auf die roheste Weise behandelt, ohne daß sie wissen, was dies zu bedeuten hat, nur damit der Herr Klyberg, oder Sellecarts oder wie diese Ungeheuer alle heißen, so schnell als möglich zu dem Preise kommen, zu dem sie ihre Menschenware abliefern. Klyberg schreibt an seine »Kunden«: »Ich habe sie alle in meinem Hause, vollkommen bereit und ärztlich untersucht« oder »Meine Frau hat sie untersucht, sie ist vollkommen gesund«.

Man hat sentimentale Romane und Dramen über die Sklaverei der Neger geschrieben; hat man kein Herz und keine Thränen für europäische, weiße Mädchen, für Abbilder der Aphrodite, die mit Vorwissen der zu ihrem Schutze aufgestellten Polizei in den Rachen der mit wohlgefüllten Beuteln versehenen Wüstlinge geworfen werden?

Madame Paradis (der Name paßt für ein Haus des Sündenfalls, das zugleich ein Paradies für die Lüstlinge von Goldes Gnaden ist), die Besitzerin eines bekannten Bordells in Brüssel, sagte vor Gericht mit cynischer Offenheit: Es kam oft vor, daß ich selbst die Mädchen, die mir der »Placeur« brachte, körperlich untersuchte, namentlich wenn er eilig war, sein Geld in Empfang zu nehmen und abzureisen und nicht Zeit hatte zu warten, bis ich den Arzt kommen lassen konnte.« Die angeblich gesundheitliche Maßregel hatte daher nur die Wirkung, daß die Placeurs, d. h. Seelenverkäufer, ihre Rekruten lieber unter Mädchen von anerkannter Ehrbarkeit suchten, als unter der Klasse von Weibern, die sich bereits der Schande ergeben hatten. Rechtsanwalt Snagge glaubt, daß während ein ansehnlicher Teil der nach Belgien u. s. w. verkauften Engländerinnen schon in der Heimat ein lüderliches Leben geführt haben, eine große Anzahl, ja wohl der größere Teil entweder zu den Dienstboten gehörte, welche Unwissenheit, Eitelkeit und gelegentliche freie Zeit zum Opfer gemacht oder zu der noch größeren und weniger geschützten Klasse, deren Eltern durch den Kampf um das Dasein in Anspruch genommen sind und welche, zu alt für den Schulbesuch, in den Zeiträumen zwischen ihrer beschäftigten Zeit, sich selbst überlassen werden. Unter diesen sucht und findet der »Placeur« seine Opfer, und er lockt diese durch das Versprechen an sich, ihnen eine gute Stellung zu verschaffen, in welcher sie, wie er berechnend hinzufügt, an Stelle ihrer bisherigen Sorgen und Entbehrungen schöne Kleider bekommen und ein angenehmes Leben führen werden!

Zahlreiche Aussagen von verlockten Mädchen beweisen die Wahrheit des zuletzt Mitgeteilten.

Auf die vorläufige Untersuchung der Unglücklichen folgt die förmliche Einschreibung derselben. Dies geschieht in dem »Dispensaire de salubrité« (etwa: Gesundheits-Amt), welches von der Sittenpolizei verwaltet wird, mit Hilfe zweier oder mehrerer besonders für diesen Dienst angestellter Amtsärzte, welche die Mädchen nach ihrer »Zulassung« wöchentlich untersuchen. Es wird angenommen, daß das betreffende Mädchen ein förmliches und freiwilliges Gesuch eingebe, um als öffentliche Prostituierte zugelassen zu werden, einen Geburtsschein vorlege und vor dem Kommissar des Bureaus ein Verhör bestehe. In der Praxis aber sind diese Vorsichtsmaßregeln bloßer Schein; wenigstens war dies der Fall bei den in Brüssel eingeschriebenen englischen Mädchen. In der Regel konnte keines derselben bei seiner Ankunft ein Wort französisch sprechen; sie verstanden daher nichts von der Bedeutung jener Vorgänge. Das erforderliche Gesuch und der Geburtsschein wurden von dem Bordell-Inhaber oder der »Gouvernante« (Aufseherin des Bordells) abgeliefert, denen sie zugleich mit der »Ware« vom »Placeur« übergeben waren. Eine dieser sauberen Persönlichkeiten begleitete die Mädchen zum Bureau und machte den Dollmetscher zwischen der Verkauften und dem Polizeibeamten, der seinerseits kein Wort englisch verstand. Die Polizeibeamten haben die Beobachtung dieses Verfahrens vor Gericht bestätigt.

In Frankreich, Belgien und Holland, wo die öffentliche Prostitution von der städtischen Polizeibehörde »geregelt« wird, ist die Einschreibung von weiblichen Personen unter 21 Jahren als öffentliche Prostituierte bei schwerer Strafe verboten. Bei der Einschreibung eines Mädchens in dieser Eigenschaft wird die Vorlegung einer Bescheinigung über den Tag ihrer Geburt verlangt. Diese Bescheinigung wird von der Polizei aufbewahrt, so lange die Betreffende in dem Bordell bleibt und ihr bei ihrer Abreise zurückgestellt. Es finden sich jedoch keine Spuren, daß bei solchen Anlässen irgend welche Schritte gethan werden, um die Identität der Person festzustellen, bezüglich deren ein Papier vorgelegt wird, das ihren Geburtsschein vorstellen soll.

Im Jahre 1879 fanden allein in Brüssel 13 gerichtliche Verfolgungen wegen Zulassung von Mädchen vor zurückgelegtem vorgeschriebenem Alter statt und führten zu 12 Verurteilungen; zwischen Januar und Dezember 1880 wurden wieder 13 Verfolgungen angestellt, die mit ebensoviel Verurteilungen endeten, während vom Dezember 1880 bis April 1881 12 Personen vor Gericht gestellt und 10 davon bestraft wurden. Weitere Untersuchungen sind angehoben, aber ihr Ausgang uns nicht bekannt geworden. Ungeachtet dieser Strenge des Gesetzes machen sich aber die Bordellhalter kein Gewissen daraus, Entdeckung und Strafe zu riskieren in der Erwartung, einen materiellen Vorteil aus der Prostitution junger Mädchen zu ziehen, welche als Bewohnerinnen solcher Häuser lenksamer, anziehender, leichter zu bethören und weniger anspruchsvoll sind als solche, welche erst nach zurückgelegtem 21. Jahre eingeschrieben werden. Die Nachfrage nach sehr jungen Mädchen hat naturgemäß die Herbeischaffung solcher zur Folge.

Es befindet sich in unseren amtlichen Quellen (a.a.O. Seite 127) ein Verzeichnis von 33 Mädchen, welche in den Jahren 1871 bis 1879 in Lille, Dünkirchen, Rouen, Valenciennes, Brüssel, Antwerpen, Haag und Rotterdam unter falschem Alter und Namen eingeschrieben wurden und in Wirklichkeit eine blos 14, drei 15 und die übrigen 16 bis 20 Jahre alt waren. In den drei genannten Ländern sind Geburtsscheine, da sie einen wichtigen Teil des Civilstandes ausmachen, nicht leicht zu erhalten und daher auch schwer zum Betruge zu benutzen. In England dagegen kann die Abschrift der Bescheinigung über irgend eine eingetragene Geburt bei dem Registrar General's Departement in Sommerset House von jeder Person, die solche verlangt, gegen Entrichtung von 3 Shilling 7 Pence erlangt werden; das Siegel des Registrar General wird daher vom »Placeur« als einträgliches Werkzeug in seinem »Geschäfte« verwendet. Bisweilen verleitet ein solcher Spitzbube auch die Mädchen selbst dazu, die Geburtsscheine ihrer älteren Schwestern zu verlangen und für sich selbst zu verwenden. Bisweilen fälscht er auch die Jahreszahl des Scheines, und bisweilen wieder verschafft er sich den Geburtsschein einer beliebigen Person von über 21 Jahren, oder behält den Schein eines Mädchens, das den mit ihm gespielten Betrug merkt und den Kerl nicht weiter begleiten will, zurück, um ihn für Andere zu gebrauchen.

3.

Ist nun das Opfer »glücklich« in ein Haus gebracht, das von der Polizei der betreffenden Länder als ein Ideal geordneter Zustände und zugleich als eine bequeme Falle für flüchtige Diebe und Betrüger betrachtet wird, die es lieben, an solchen Orten ihre Beute zu verjubeln, – so befindet es sich so gut wie in einem Kerker. Manche der Unglücklichen sehen die Sonne und den Himmel und grüne Fluren und Wälder thatsächlich niemals; im besten Falle dürfen sie ausnahmsweise ausgehen oder eher ausfahren, aber nicht ohne die Aufsicht des Drachen, den man »Gouvernante« nennt, und gewiß nur dann, wenn ihre Botmäßigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Sie müssen unbedingt den Willen des »Herrn« oder der »Dame« des Hauses thun und sich dem ersten Besten hingeben, so vielen Ekel er ihnen einflößen mag. Ungefügigkeit wird durch Hunger und Schläge gezähmt. In den meisten Häusern ist die auf die Straße führende Thüre so eingerichtet, daß sie von innen nicht anders geöffnet werden kann, als durch einen Schlüssel, den der Besitzer des Hauses oder die »Gouvernante« verwahrt, während von außen Jedermann bequem eintreten kann. Sowohl die Mädchen als Kunden, welche nicht oder nicht genug bezahlen, d. h. sich nicht brandschatzen lassen, sind daher thatsächlich eingesperrt.

Die Kleider, welche die Mädchen mitbringen, werden ihnen weggenommen, und sie erhalten solche, in welchen sie wegen Mangelhaftigkeit der Bedeckung oder auffallender Form, bezw. Farbe nicht ausgehen können, welche aber geeignet sind, auf die Besucher einen gewissen Reiz auszuüben. Es wird weiter dafür gesorgt, daß die Mädchen stets in der Schuld ihrer Kerkermeister stehen, die in dieser Beziehung höchst erfinderisch sind; die geliehenen Kleidungsstücke sowohl, als Toilette-Gegenstände, außerordentliche Speisen, Getränke u. s. w. werden ihnen zu ungeheuern Preisen angerechnet, so daß ihr »Verdienst« ihre Schuld niemals deckt. Durch diesen Umstand sowohl als auch durch die beständige Furcht vor Entdeckung der mit dem Geburtsscheine vorgenommenen Fälschung werden sie von selbst an das Haus gefesselt; und für den Fall der Flucht wird ihnen mit dem Gefängnis gedroht. Mädchen, deren Flucht oder Befreiung gelang, sind thatsächlich wegen Fälschung in contumaciam verurteilt worden. Und wie zum Hohne ist in den Bordellen Brüssels eine amtliche Bekanntmachung in sechs Sprachen angeschlagen, welche sagt: »Jedem Mädchen, welches das Haus zu verlassen wünscht, steht dies frei, vorausgesetzt, daß sie sich den Vorschriften unterzieht, welche sie gegenüber der Polizei zu erfüllen hat. Der Besitzer des Hauses, welcher nachgewiesener Maßen den Wegzug eines Mädchens verhindert, unterliegt den schwersten Strafen, welche von den bestehenden Vorschriften bestimmt sind.« Er hat aber in der That nichts zu fürchten!

4.

Es mögen nun einzelne unter zahllosen Fällen das oben Mitgeteilte beleuchten:

 

Alice F–r.

Im Oktober 1874 gelangte folgender Brief in die Hände der Londoner Polizei, welcher für den britischen Konsul in Antwerpen bestimmt war (das Original ist unorthographisch geschrieben):

 

»Lieber Herr! Verzeihen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, mich an Sie zu wenden, aber da ich eine englische Unterthanin bin, welche unter der Vorgabe hierher gebracht wurde, eine Stelle als Kellnerin zu erhalten und mich nun in einem Freudenhause befinde, so möchte ich wissen, ob Sie die Güte haben wollen, mich herauszuverlangen, da ich weggehen möchte; die Engländer sagen, daß Sie gut sind, und ich bin versichert, daß Sie kommen und mit mir sprechen werden, dies ist Alles was ich wünsche. Sie werden dann sehen, daß ich gegen meinen Willen zurückgehalten werde. Ich spreche kein Wort der Landessprache, und Sie müssen als Fremder kommen und uns Alle sehen, sonst wird man Ihnen den Zutritt verwehren. Wenn Sie ein Engländer sind, so werden Sie mir zu Hilfe kommen und ich werde es Ihnen nie vergessen. Ihre ergebene Dienerin

Alice F–r.

 

Nach eingezogenen Erkundigungen war die Schreiberin des Briefes eines von drei Mädchen, welche Klyberg (Kleber) nach Antwerpen gebracht hatte. Der dortige britische Konsul erhielt sofort Befehl, Schritte zu ihrer Befreiung zu thun und sie nach England zu senden. Als er aber die erforderlichen Nachfragen hielt, erfuhr er, daß das eine der drei Mädchen sich im Spital befand, das andere es ablehnte, nach Hause geschickt zu werden (d. h. natürlich von ihren Kerkermeistern zur Ablehnung gezwungen wurde) und das dritte, eben jene Alice F–r, verschwunden (angeblich heimlich abgereist, d. h. in ein Versteck gebracht) war. Merkwürdigerweise wurden die Nachforschungen nicht fortgesetzt.

 

Sarah I–y.

Im Juli 1879 erhielt der Polizeikommissär in Antwerpen ein Schreiben, dessen Verfasser ihm mitteilte, daß seine Schwester Sarah I–y sich unter dem falschen Namen Alice D–s in einem übelberüchtigten Hause daselbst befinde. Der Kommissär schrieb darauf der Londoner Polizei, daß die Sache sich wirklich so verhalte und daß, wenn der Umstand bekannt gewesen wäre, daß die Betreffende unter falschem Namen und Alter eingetragen worden, die Eintragung nicht gestattet worden wäre; er versprach schließlich, die Betreffende, wenn sich ihre Angaben bestätigen würden, sofort nach England zurücksenden zu lassen. Diese Angaben bestätigten sich wirklich und die Londoner Polizei teilte dies dem Beamten in Antwerpen mit, allerdings beifügend, daß der Vater der Gesuchten ein armer Arbeiter sei, der 9 Kinder zu ernähren habe und die Mittel daher nicht besitze, seine Tochter auf seine Kosten nach England kommen zu lassen. Nun verstummte aber die Polizei in Antwerpen, und erst drei Monate später, nachdem sie wiederholt gemahnt worden, zeigte sie in London an: Sarah sei »heimlich abgereist, wahrscheinlich um sich der Verfolgung wegen Führung eines falschen Namens zu entziehen«, man hörte weiter nichts mehr von dem Mädchen! Wie in dem vorhergehenden Falle hatte man, und diesmal im offenbaren Einverständnis mit der Polizei, die Unglückliche verschwinden gemacht, um eine nähere Untersuchung des Treibens der belgischen Bordellhalter unter polizeilichem Schutze zu vereiteln!

 

Jane M–r und Fanny G–r.

Diese beiden Mädchen wurden im Oktober 1876 in London von einer Mrs. Dunner überredet, nach Holland zu gehen, um dort Schauspielerinnen zu werden; sie übergab dieselben dem Klyberg und seiner Frau, welche sie für ihre Nichten ausgab. Klyberg veranlaßte Jane und Fanny, indem er ihnen den erforderlichen Betrag einhändigte, sich im Somerset House Geburtsscheine ihrer älteren Schwestern ausziehen zu lassen, damit sie 21 Jahre alt schienen, was zur Bekleidung der vorgespiegelten Stellung notwendig sei. Sie wurden dann nach Rotterdam gebracht und erfuhren hier von Klyberg mit cynischer Offenheit, daß sie gekommen wären, um Prostituierte zu werden. Sie weigerten sich dessen; aber als man ihnen drohte, sie ohne Schuhe und in schlechter Kleidung auf die Straße zu setzen, ließ sich Jane nach Haag in ein Bordell bringen, wo aber eine englische Dame sie im Spital fand und für ihre Rücksendung nach England sorgte. Fanny dagegen, von Klyberg nach Amsterdam gebracht, hatte die Energie, seinem Willen zu widerstreben, und ihre Rücksendung nach England auf seine Kosten zu erzwingen.

 

Hephzibah S–t.

Im Juni 1880 erhielt der englische Vice-Konsul in Brüssel ein Schreiben, nach welchem das genannte Mädchen sich in einem übelberüchtigten Hause in Brüssel befand und man von ihr seit beinahe einem Jahre nichts mehr gehört habe. Die eingezogenen Erkundigungen ergaben, daß sie von einer »Dame« veranlaßt worden, mit ihr als ihr Kammermädchen nach Brüssel zu gehen, aber daß man sie dann in ein Bordell brachte und sie an fernerem Schreiben nach Hause verhinderte. Ja sie wurde gezwungen, jenen Erkundigungen durch die falsche Angabe entgegenzuarbeiten, daß der üblicher Weise ihr beigelegte Name ihr richtiger und daß sie schon in London eine Prostituierte gewesen wäre. Endlich gelang dem Konsul ihre Befreiung und Heimsendung; aber schon im November starb sie in Folge ihres traurigen Loses an der Auszehrung!

 

Louisa Hennessey.

Dieses Mädchen wurde im Mai 1879 von dem oben erwähnten Sellecarts oder Sully und seiner Zuhälterin mit noch einer Schicksalsgefährtin, unter der Vorgabe, ihnen Stellungen in einem französischen Hotel zu verschaffen, nach Ostende gebracht, wo die erwähnte Madame Paradis, welche ihnen von dem Kuppler als die Hotelbesitzerin vorgestellt wurde, zu der sie kommen sollten (denn die bethörten Mädchen glaubten in Frankreich zu sein), sie in Empfang nahm und nach Brüssel in ihr angebliches Hotel brachte. Schon am zweiten Tage wollte diese verkappte Kupplerin die beiden Mädchen untersuchen, woraus Louisa Verdacht schöpfte und nach England zurückkehren zu wollen erklärte. Es wurde ihr frech geantwortet, sie könne das nicht, sie sei verkauft und der Mann, der sie gebracht, habe bereits den Preis für sie erhalten. Mit Widerstreben fügten sich dann Beide der Untersuchung, welche auf einem Tische stattfand. Einige Zeit verging nun, ohne daß ihr, die noch Jungfrau war, eine Zumutung gemacht wurde. Später wurde sie in ein Bordell nach Antwerpen gebracht und dort von einem Mann, der sich mit ihr in ein Zimmer einschloß und Gewalt brauchte, defloriert. Ungeachtet alles Widerstrebens wurde sie gezwungen, auch anderen zu Willen zu sein und war stets gefangen gehalten. Selbst die Fenster waren verhängt, und Louisa sah nie das Tageslicht, ausgenommen wenige Male, da die Paradis sie in einem Wagen mit ausfahren ließ, was sie aber selbst bezahlen mußte. Die Mädchen hatten Tag und Nacht nur Nachtkleider zu ihrer Verfügung. Sie weinte die ganze Zeit; zugleich stellte sich heraus, daß sie auf dem Wege war, Mutter zu werden. Sie wurde dann für 1200 Franken nach dem Haag verkauft, ohne daß man dem Käufer jenen Umstand mitteilte. Es scheint, daß die Hausbesitzerin im Haag humaner war, als ihr Gelichter sonst zu sein pflegt. Sie hatte Mitleid mit der Armen und sandte sie auf eigene Kosten nach England zurück, wo sie gebar, ihr Kind aber starb.

 

Adeline Tanner. Feuilles sous pli cacheté, Neuchâtel No. 3, p. 5 ff.

Sie war im August 1860 als die Tochter eines achtbaren Handelsreisenden in Herford geboren und kam mit 16 Jahren nach London in das Haus einer Schwester. Nach zwei Jahren in einen Dienst getreten, wollte sie zu Weihnachten 1878 einer andern Schwester einen Besuch machen und wurde auf dem Bahnhofe von einem Fremden angeredet, den sie später, gerade ohne Dienst, wieder traf. Es war kein anderer als der ruchlose Sellecarts, der nun bei ihr den Gedanken anregte, eine Stellung in Paris anzutreten, und sie zu diesem Zwecke zu einem Herrn Roger begleitete, wo sie zu trinken erhielt. Sie war so unerfahren, daß sie der Mitteilung Glauben schenkte, als wäre dieser Roger gesonnen, sie zu heiraten, und der Kuppler stellte ihn als einen reichen Mann aus Paris mit prachtvollem Haus und Equipage dar. Um sie kirre zu machen, gab man ihr nichts zu essen und nur Gin zu trinken. Dann machte man sie mit dem Kuppler Regnier bekannt, den man für einen Arzt ausgab und der sie gewaltsam untersuchte. Sie begriff nicht was dies bedeuten sollte, und es verursachte ihr große Schmerzen. Sie wollte sich entfernen, aber man hatte ihr Hut und Überzieher weggenommen und verhinderte sie am Verlassen des Hauses, unter der Vorgabe, es sei bald Zeit nach Paris abzureisen. Roger führte sie in der That sofort mit zwei andern Mädchen, aber nicht nach Paris, sondern nach Brüssel, und hier wurden sie unter der Vorgabe, auf dem Zollamt ihre Sachen abzuholen, nach der sogenannten Sittenpolizei gebracht, wo sie wie gewohnt unter falschem Namen und Alter eingeschrieben wurden. Dann wurde Adeline zu ihrem Entsetzen ärztlich untersucht und sofort nach Rogers Haus gebracht, das natürlich nichts anderes war als ein Bordell. Der Arzt, welcher sie untersucht hatte, erkannte, daß sie von außergewöhnlicher Beschaffenheit und zum geschlechtlichen Verkehre gar nicht geeignet war; trotzdem ließ er sie in der Lasterhöhle, welche er selbst regelmäßig zum Zwecke der Untersuchungen betrat. Sie erlitt denn auch, nachdem man ihr starke Getränke beigebracht, die scheußlichsten Angriffe auf ihre Keuschheit, die ihr stets furchtbare Schmerzen verursachten. In Folge dieser Gräuel bildete sich ein Geschwür an ihr; sie wurde in das Spital gebracht und zugleich wurde wegen Gebrauchs eines falschen Namens eine »gerichtliche« Untersuchung gegen sie angehoben. Eine neue »ärztliche« Untersuchung verschlimmerte ihre Krankheit. Aber kaum war nach dreimonatlichen Leiden eine Besserung eingetreten, als das ärztliche Ungeheuer anfing, sie in Gegenwart von Studierenden, welche ihr Hände und Füße festhielten, – durch Operationen zur Prostitution tauglich zu machen!!! Siebenmal arbeitete dieser Henkersknecht ohne Anwendung von Chloroform mit seinem Messer an ihr, und während sie litt und jammerte, setzte er seinen herzlosen Zuhörern diesen »interessanten« Fall auseinander! (Förmliche Vivisektion an Menschen!)

Aber als die Not am höchsten war, stand der Gequälten ein Engel der Rettung auf. Der Verlagsbuchhändler Alfred Stace Dyer in London gelangte dazu, sie zu befreien, doch ohne verhindern zu können, daß sie von der belgischen »Justiz« wegen Gebrauchs eines falschen Namens (!) noch vierzehn Tage im Gefängnis behalten wurde. Einige Wochen im Bordell, sechs Monate im Spital und vierzehn Tage im Gefängnis, – das ist das Brüsseler Trauerspiel dieser armen Schuldlosen, welche jetzt, der Familie und dem Vaterlande wiedergegeben, zwar in der ersten Zeit sehr leidend war, aber hoffentlich sich von ihren Leiden erholte, freilich ohne einen tiefen Seelenschmerz los werden zu können! Dyer, welcher sie bei sich ausnahm und längere Zeit beobachtete, erteilte ihrem Charakter und namentlich ihrer Wahrheitsliebe das günstigste Zeugnis.

5.

Das entsetzliche Verzeichnis der seit Klybergs Verhaftung nach Brüssel verhandelten Engländerinnen zeigt 34 Namen, von welchen 8 auf das Jahr 1878, 24 auf 1879 und 2 auf 1880 kommen. Von den Unglücklichen kamen die meisten (26) aus London, die übrigen aus Paris, Rouen, Lille, Gent, Brügge und Antwerpen nach Brüssel und wurden nach einem Aufenthalte von 4 Tagen bis zu drei Jahren entweder weiter befördert (4 nach Holland, 3 nach Frankreich, 7 nach belgischen Städten) oder verschwanden unbekannt wohin (5) oder hatten (ihrer 15) das Glück, nach England zurückgesandt zu werden. Unter den 19 Lasterhöhlen Brüssels haben 12 solche Engländerinnen aufgenommen, und zwar in der Zahl von 3 bis 15; ein Mädchen war so glücklich, keine derselben zu betreten, indem es seine Zeit in Brüssel im Spital zubrachte. Elf jener Mädchen sind unter falschem Namen eingetragen worden. Nicht in allen Fällen ist es den Schurken gelungen, ihre Beute in Sicherheit zu bringen; dem elenden Sellecarts nahmen in Boulogne die wackeren englischen Matrosen drei Mädchen mit Gewalt weg, als sie sahen, daß er sie einem Bordell zuführte, und brachten sie auf das nächste nach England zurückkehrende Schiff. Es war am 26. September 1878, und bei dieser Gelegenheit wurde der genannte Kuppler, welcher Widerstand versuchte, verhaftet und, da man falsche Geburtsscheine bei ihm fand, wegen Verführung Minderjähriger und Fälschung in Untersuchung gezogen, konnte aber, da die Mädchen bereits in England und nicht als Zeuginnen aufzutreten im Stande waren, nur wegen des erstern Verbrechens zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt werden.

Um dieselbe Zeit bemerkte der englische Kaplan Jenkins in Brüssel wahrend seiner Besuche im Spital St. Pierre, daß die Anzahl der krank dahin gebrachten englischen Mädchen stark zugenommen hatte. Er lenkte auf diesen Umstand die Aufmerksamkeit des Vice-Konsuls, und der letztere legte nach eingezogenen Erkundigungen die Sache in die Hände des Anwaltes der britischen Gesandtschaft, welche die erwiesenen Fälle dem Staatsanwalte vorlegte. Es wurden gerichtliche Untersuchungen angeordnet, die Sache wurde in weiteren Kreisen bekannt und verursachte ungeheures Aufsehen. Am unbequemsten wurde dieses natürlich der Brüsseler Polizei, welche vergeblich versuchte zu bestreiten, daß in ihrem Wirkungskreise Unregelmäßigkeiten oder Mißbräuche stattgefunden hätten.

Bevor das Jahr 1880 zu Ende ging, waren fünf bedeutende Straffälle spruchreif geworden, zu denen 1881 noch ein sechster kam. Vom 14. bis 17. Dezember 1880 wurden in Brüssel vor dem korrektionellen Gerichte jene fünf Fälle und am 12. und 13. April 1881 wurde der sechste verhandelt. Der erste und fünfte Fall betrafen Adeline Tanner, der sechste Louisa Hennessey, der zweite bis vierte vier oben nicht genannte Mädchen. Die Anklagen lauteten auf:

  1. Fälschung von Schriften, Art. 196,
  2. Verführung Minderjähriger, Art. 379,
  3. Unrechtmäßige Haft, Art. 434-436,
  4. Schläge und Verwundungen, Art. 398,
  5. Entführung Minderjähriger, Art. 368 und
  6. Anmaßung amtlicher Befugnisse, Art. 31 des belgischen Strafgesetzbuches.

Beurteilt wurden im Ganzen achtzehn Personen, nämlich acht weibliche und zehn männliche, und zwar zwölf in der ersten und sechs in der zweiten Verhandlung. Zwei Personen, der Kuppler Eduard Roger und die Gouvernante Parent waren in je zwei Fällen angeklagt. Ihrem Charakter nach waren elf der Angeklagten Tenants maison, d.h. Bordellhalter, darunter vier Frauen, zwei waren Proxénètes, d.h. Kuppler (Regnier und Sellecarts), einer war Cabaretier, Schenkwirt, und vier Weiber waren Gouvernantes, d.h. Bordell-Aufseherinnen. Zwei Personen, beide Bordellhalter, ein Mann und eine Frau, wurden freigesprochen, zwei Gouvernanten wurden bloß zu Geldbußen, alle Übrigen aber zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt. Die Bußen betrugen 25 bis 1000 Franken, die Gefängnisstrafen acht Tage bis sechs Jahre. Von den in dieser Darstellung genannten Personen büßten der Bordellhalter Roger in zwei Fällen zusammen mit drei Jahren und 1300 Franken, der Kuppler Emile Regnier mit sechs Jahren und 1000 Franken, die Bordellhalterin Paradis mit zwei und einem halben Jahr und 800 Franken (und ihr Mann mit zwei Jahren und 500 Franken), Sellecarts endlich mit sechs Jahren Gefängnis und 550 Franken.

Die Bordellwirte und Kuppler, sowie ihre Verteidiger haben vor Gericht eine Sprache geführt, die man nicht für möglich halten sollte. Sie rechtfertigten mit cynischer Offenheit geradezu ihr Gewerbe als ob es ein ehrbares wäre, und gestanden die Einsperrung ihrer Opfer in ihre »Häuser« und die Wegnahme ihrer Kleider zu, als ob sich dies von selbst verstände. Der Verteidiger Rogers, der Advokat Hallait, ging so weit, die Bordellhalter als einen ehrenhaften Stand in Schutz zu nehmen.

»Man hält sie, sagte er, zu Allem fähig, aber dies ist ein Irrtum. Die Bordellhalter sind nicht, was ein einfältiges Volk glaubt; um das Gewerbe ausüben zu können, muß man Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit besitzen

Ja dieser Muster-Verteidiger wagte es, von der Vorsehung zu sprechen, welche über den Unschuldigen (d.h. den Bordellhaltern und Kupplern) wache! Und diesen schuldlosen verfolgten Lämmern zu liebe verdächtigte er die unglückliche Adeline Tanner, deren Aussagen ärztlich und amtlich beglaubigt sind, als eine schon in London syphilitisch erkrankte gemeine Dirne! Das Gericht glaubte das arme Opfer mit – tausend Franken entschädigen zu können! Tausend Franken für die Ehre eines Weibes! Diese entsetzlichen Thatsachen veranlaßten den jüngern der beiden Anwälte des entehrten Mädchens (der beiden Brüder Pierre und Alex Splingard) zur Ausarbeitung des in dieser Schrift übersetzten, 1882 in Brüssel erschienenen ergreifenden Romans: » la Clarisse du XIX siécle«.

6.

Aber alles Dies ist nicht zum Verwundern in einem Lande, in welchem die Prostitution von oben herab begünstigt wird, wie in keinem andern, in welchem Gemeinderäte vom Gouverneur der Provinz einen Verweis (!) erhalten, wenn sie – irgend einem Schurken die Ermächtigung zur Eröffnung eines Bordells nicht erteilen. Solches geschah 1882 von Seite des Gouverneurs Verhaegue de Naeyer gegenüber dem Städtchen St. Nikolas, indem er das Verbot der Errichtung »öffentlicher Häuser«, welches der Gemeinderat erließ, aufhob, wogegen aber der wackere Bürgermeister van Naemen und seine Schöffen ihren Standpunkt aufrecht erhielten.

Noch empörender ist aber der folgende Vorfall:

Madame P., Witwe aus einer geachteten Familie Brüssels, hatte ihre junge Tochter in einem von Nonnen gehaltenen Schulpensionat jener Stadt untergebracht. Jeden Sonnabend holte sie dieselbe nach ihrer Landwohnung ab, damit das geliebte Kind den Sonntag mit ihr in freier Luft zubringen könne. An einem Sonnabend aber, als sie wie gewohnt im Kloster erschien, wurde sie von der Oberin mit großem Erstaunen empfangen, und dieselbe rief aus: »Aber, Madame, Sie haben ja Ihre Tochter vor einigen Tagen holen lassen und wir haben sie Ihnen durch die Person zugesandt, welche Sie beauftragt hatten, sie abzuholen.« In der That war eine Person, versehen mit einem wie es schien von Madame P. unterzeichneten Briefe gekommen, das junge Mädchen in Folge besonderer Umstände für den Rest der Woche nach Hause zu bringen, und man hatte ihr dasselbe mitgegeben!

Der Brief war aber gefälscht! Zwei Kupplerinnen, Constance Delvaux, Tagelöhnerin, 24 Jahre alt, aus Gent, wohnhaft Rue de l'Eclipse in Brüssel, und Catharina Reniers, Dienstmagd, 25 Jahre alt, aus Tervueren, wohnhaft Rue des Denrées in Brüssel hatten im Juni 1880 jenen Brief verfertigt, ihn mit der falschen Unterschrift der Madame P. versehen, und durch dieses Mittel die Oberin der Klosterschule bewogen, das 15 Jahre alte Mädchen in ihre Gewalt zu geben! Zu diesem Verbrechen angestiftet hatte die beiden Teufel in Weibergestalt – ein adeliger Schurke, der Baron Herman du Mesnil, 33 Jahre alt, wohnhaft Rue des Arts No. 17 in Brüssel, welcher das Mädchen in schlimmster Absicht umworben und die beiden Weiber um Geld bewogen hatte, es ihm zuzuführen!

Die Unglückliche wurde nach dem Café Riche gebracht, dem berüchtigten Sammelplatz aller Roués aus dem Adel, der Diplomatie, dem Militär u.s.w. Man gab ihr daselbst Champagner zu trinken und in bewußtlosem Zustande ..., man kann sich das weitere denken! Dann wurde das Opfer von einer der beiden Hyänen nach Aachen und so von einer Stadt zur andern gebracht, während ihm die verzweifelnde Mutter folgte, aber in Aachen die Spur verlor, bis das Mädchen endlich in Paris aufgefunden wurde, aber in welchem Zustande! Nun kommt aber das die belgische Gerechtigkeit kennzeichnende Ende! Die beiden Kupplerinnen und Fälscherinnen wurden entdeckt und am 18. Januar 1881 Jede zu – sieben Monaten (!!) Gefängnis verurteilt! Welche Ermunterung zur Fortsetzung ihres Treibens! Der verworfene Wüstling aber, den seine Werkzeuge mit vollem Namen, Charakter, Alter und Logis anzeigten, wurde nicht nur nicht gestraft, sondern auf eine in den Rechtsgang willkürlich eingreifende »höhere« Weisung hin – nicht einmal als Zeuge vernommen! Ein Baron darf in Belgien Mädchen verführen, vergewaltigen und zu Grunde richten so viel ihm gefällt! Er ist sicher, daß – seine »Gefühle« geschont werden, daß ihm – das Peinliche des Erscheinens vor Gericht erspart bleibt! Kostbare Zustände! Ein armer Teufel von Handwerker hätte sich gleicher zarter Rücksicht nicht zu erfreuen gehabt. Hoffentlich wird die Nemesis nicht ausbleiben.

 

*

Obige Zeilen wurden schon zu Anfang des Jahres 1883 geschrieben, nachdem die Übersetzung der » Clarissa« vollendet war. Das Manuskript erhielt dann ein Verleger in Berlin, der es aber aus unbegreiflicher Nachlässigkeit liegen ließ. vergingen Jahre, ohne daß der Verfasser von seiner Arbeit und von der Übersetzung, zu der sie die Einleitung bildet, irgend etwas vernahm. Endlich wechselte der Besitz der angedeuteten Verlagshandlung, und der neue Eigentümer entschloß sich zur Herausgabe des gleichsam neu aufgefundenen Buches. Begreiflicher Weise wird nun das Publikum fragen, wie sich denn die berührten Verhältnisse seitdem gestaltet haben. Wir wollen versuchen, an der Hand authentischer Nachrichten diese Frage zu beantworten. Dabei werden wir uns wie bisher auf das Musterland der Prostitution, auf Belgien, beschränken, – nicht, daß die übrigen »civilisierten« Länder nicht auch ihre dunklen Seiten in dieser Beziehung hätten, sondern weil ein Hereinziehen anderer Länder mit der vorliegenden Erzählung, welche sich auf Thatsachen aus den Geheimnissen Brüssels und Antwerpens bezieht, in keinem Zusammenhange stände. Was die Verhältnisse der Prostitution und namentlich des entsetzlichen Mädchenhandels in anderen Ländern betrifft, so haben wir darüber in unserm kleinen Buche »Die Schmach der modernen Kultur« (Leipzig 1885) das Wichtigste mitgeteilt und in dem größeren »die Gebrechen und Sünden der Sittenpolizei« (2. Aufl. Leipzig 1897) ausführlichere Berichte über jenen traurigen Gegenstand niedergelegt.

Hier lassen wir also die Entwickelung des Krebsübels in Belgien seit dem Erscheinen des Originals dieses Buches, nach Jahren geordnet, folgen.

1883. – Das Bulletin der belgischen Gesellschaft für öffentliche Sittlichkeit enthält einen Artikel über die Moralität in Brüssel, welcher die möglichst furchtbarste Illustration zu der berühmten Protestation Mirabeau's bildet: »Seht ihr denn nicht, daß es eure unsittliche Duldsamkeit ist, welche die Verschlimmerung der Sitten auf diese Höhe treibt?«

– Der Gemeinderat von Herstal beschließt am 1. Februar ein Verbot der Haltung unzüchtiger Häuser.

– Ein Buchhändler in Brüssel giebt einen Bücherkatalog heraus und versendet ihn, u. a. auch nach der Schweiz, in welchem die Mehrzahl der empfohlenen »Werke« aus den obscönsten Romanen der zwei neuesten Jahrhunderte besteht, und begleitet die Titel derselben mit Lobsprüchen über ihren schönen Stil und ihre reizende Darstellungsweise, ja rühmt sogar einige davon wegen der darin vorkommenden Verbrechen, Orgien und Nuditäten.

– Die belgische Abgeordnetenkammer berät ein Prostitutionsreglement, bei welchem Anlasse ihr zahlreiche Petitionen gegen die dermaligen Zustände der Prostitution vorliegen.

– Der Bürgermeister Buls von Brüssel schlägt vor, den Bordellen den Verkauf von Speisen und Getränken zu untersagen. Die königliche medizinische Gesellschaft spricht sich aber dagegen aus, weil diese Maßregel die geheime Prostitution begünstigen würde.

– Ein Agent der Sittenpolizei in Antwerpen macht der von ihrem Manne verlassenen und mit 7 Kindern gesegneten armen Frau Christine Bogaerts schamlose Anträge, und da sie diese entrüstet zurückweist, zeigt er ihre Wohnung als einen Ort heimlicher Prostitution an, worauf sie verhaftet, untersucht und als Prostituierte eingeschrieben wird. Nach einigen Tagen wiederholt er seine Anträge auf dem Polizeibureau und verspricht ihr, sie aus dem Register zu streichen, wenn sie ihm zu willen wäre. Herr Harry Peters, an den sich die Frau wendet, verlangt umsonst von der Stadtbehörde Gerechtigkeit für sie und veröffentlicht die Sache, worauf ihn der Agent als Verleumder anklagt. Das Gericht, an welches die Sache darauf kommt, erklärt die Registrierung der Frau Bogaerts als »irrtümlich«. Ob sie darauf Genugthuung erhalten, ist nicht bekannt.

1884. – Jules Pagny, Sekretär der belgischen Gesellschaft für öffentliche Sittlichkeit, setzt den Feldzug gegen den Verkauf von Getränken in den Bordellen fort, und tritt gegen die erwähnte Haltung der königlichen medizinischen Gesellschaft auf. Er veröffentlicht u. a. die Thatsache, daß eines der Mitglieder jener Gesellschaft die Prostituierten als den Soldaten unentbehrlich bezeichnet und doch gestanden hatte, daß jährlich ein Zehntel der Garnisonen wegen Syphilis den Weg durch die Krankenhäuser mache.

– In Aachen verhaftet die Polizei ein Weib, welches deutsche Mädchen an sich zog, um sie in belgische Bordelle zu schicken.

– Die Gemeindebehörde von Lierre sendet dem Gouverneur der Provinz einen Bericht, in welchem sie erklärt, daß unter der Herrschaft der Bordell-Reglements die Unzucht sich in einer erschreckenden Weise entwickelt habe und daß gegen diese Zustände strenge Maßregeln notwendig seien.

– Der Gemeinderat von Chenée beschließt, daß in seiner Gemeinde keine Unzuchtshäuser errichtet werden dürfen.

– Mehrere der ehrenwertesten Bewohner der Unterstadt in Brüssel beklagen sich, daß von einer gewissen Stunde an die Plätze und Straßen durch eine Armee von öffentlichen Dirnen und Zuhältern unsicher gemacht werden. Dieselbe Klage wird auch in einer Wahlversammlung der liberalen Partei in Brüssel am 13. Mai zur Sprache gebracht, worauf der Wahlkandidat Pilloy erklärt: »an dem Tage, an dem die offizielle Prostitution verschwindet, wird in stärkerm Maße die verächtliche geheime Prostitution wiederkehren.« Und das im Angesichte jener Thatsachen! Pagny geißelt denn auch treffend Herrn Pilloy, daß er nicht die Prostitution, sondern deren Heimlichkeit verächtlich nenne und nicht sehen wolle, daß diese trotz der anerkannten Prostitution bestehe.

– Aus Lüttich wird berichtet, daß die Stadt von heimlichen Prostitutionslokalen wimmle. Ein dortiges Blatt veröffentlicht die Namen von Bordellwirtinnen, welche jungen Mädchen gute Stellen versprechen, sie aber durch Getränke betäuben und dann in Zimmern einsperren, wo sie den Gästen überliefert werden. Mütter verkaufen ihre Töchter um Spottpreise.

– Aus Brüssel wird berichtet, daß am hellen Tage in einem offenen Wagen vier junge Herren in halb militärischer Kleidung, völlig betrunken, mit zwei heruntergekommenen und halb entblößten Frauenzimmern auf den Knieen, zur Belustigung der Straßenjugend durch die Stadt fuhren.

– Das Ministerium, auf eine Interpellation des Abgeordneten Magis, verspricht die Sache zu »studieren.«

1885. – Vier kranke Prostituierte, welche man aus dem Hospital St. Pierre in Brüssel nicht entlassen will, zerbrechen aus Zorn einiges Geschirr und werden dafür ins Gefängnis gesteckt. Die Gesellschaft für öffentliche Sittlichkeit nimmt sich der Sache an, und der Advokat Lejeune zeichnet scharf die Willkür der Behörden in der Behandlung jener Personen und den Unfug der Reglementierung dieser Sache, und stellt die Gefangenhaltung der Prostituierten als eine Beraubung der Freiheit und daher als eine Verletzung der Verfassung hin. Das Gericht erklärte sich aber, gegenüber der allmächtigen Reglementierung als – inkompetent!

– Nach dem Amtsberichte der Stadtbehörde von Brüssel waren im Jahre vorher 88 weibliche Personen in Häusern und 218 zerstreut lebende als Prostituierte eingeschrieben. Syphilitisch erkrankt sind von ersteren 18, von letzteren aber nur 16 Prozent! Die Anhänger der Bordelle behaupten aber, diese letzteren verminderten die Erkrankungen! Wie werden aber diese Krankheiten erhärtet? Es sind zwei Ärzte, jeder mit 5000 Fr. Gehalt, für die Untersuchung der Prostituierten angestellt. Sie widmen dieser Aufgabe täglich drei Stunden, so daß auf eine untersuchte Person 3 Minuten kommen. In der That sind denn auch bei 28,382 Untersuchungen nur 69 Krankheitsfälle entdeckt worden, welche der Stadt an Arzt- und Pflegekosten auf 24,000 Fr. zu stehen kamen!

1886. – Die Centralsektion des belgischen Abgeordnetenhauses beschließt einstimmig, die Regierung zur Vorlage eines Gesetzes aufzufordern, welches die Reglementierung der Prostitution aufhebe und das Halten von Bordellen, sowie die Verleitung zur Unzucht als Vergehen erkläre. – Das Ministerium verspricht eine solche Vorlage für die nächste Session.

– Ein großer mit der Prostitution zusammenhängender Skandal in Gent hat mehrere Verurteilungen von Kupplerinnen und von Personen, welche Kinder mißbrauchten, sowie sechs Selbstmorde hochgestellter Personen, die sich hierdurch der Gerechtigkeit entzogen, zur Folge.

– In der königlich belgischen Akademie der Medizin behauptet Dr. Thiry neuerdings, die Prostitution habe eine »moralische Seite; sie beschränke die Ausschweifungen, und schütze die ganze Gesellschaft gegen Excesse.« Ihm gegenüber weist Dr. Möller nach, daß die reglementarische Prostitution nicht die geringsten Vorteile gebracht, die Ansteckung durch Syphilis nicht vermindert habe, daß die ärztlichen Untersuchungen ihrem Zwecke nicht entsprechen, und daß da, wo die Bordelle aufgehoben worden, die Ansteckungsfälle abgenommen haben.

1887. – Die zuletzt erwähnten Verhandlungen werden fortgesetzt; die beiden gegnerischen Standpunkte bekämpfen sich weiter und enden mit der Ernennung von vier Delegierten, um welche die Regierung, zur Aufnahme von Erkundigungen über die vorliegende Frage, die Akademie ersucht hat. Unter diesen erhalten Dr. Thiry 29 und Dr. Möller 19 Stimmen.

– Ein königlicher Beschluß vom 13. Oktober ernennt eine Kommission von 24 Mitgliedern zur Vorberatung eines Gesetzes über die Prostitution. Unter diesen befinden sich: der tüchtige, dem Skandale kräftig zu leibe gehende Bürgermeister Buls von Brüssel, der Bürgermeister van Naemen von St. Nicolas, Dr. Möller, Dr. Thiry, der berühmte freisinnige Schriftsteller Emile de Laveleye, der unermüdliche Jules Pagny, im ganzen 10 Anhänger und 8 Gegner der Reglementierung, und 6 Unentschiedene.

– Die königliche Akademie der Medizin hat sich am 29. Oktober neuerdings zu gunsten der Reglementierung ausgesprochen, um auf die Regierung und die Kommission einen Druck auszuüben, während von Dr. Möller und Jules Pagny Flugschriften erschienen, welche den Standpunkt der Akademie bekämpfen. Anknüpfend an den Beschluß der letztern, vorzuschlagen, daß die Personen, welche sich gewohnheitsgemäß der Prostitution ergeben, den ärztlichen Untersuchungen zu unterwerfen seien, verlangt Pagny, daß diese Maßregel nicht nur auf die Frauen, sondern auch auf die Männer angewendet werde. Um diesem »Skandal« zuvorzukommen, wird nachträglich im Protokoll der Akademie das Wort »Personen« in »Frauen« verwandelt!

– Die Kommission versammelt sich am 17. Dezember und ernennt Nothomb, einen entschiedenen Gegner der Reglementierung, zu ihrem Präsidenten, Jules Pagny zum Sekretär, und einen Ausschuß von 5 Mitgliedern, darunter die beiden Genannten und Bürgermeister Buls.

1888. – In Grivegnée bei Lüttich werden die Bordelle geschlossen. In Lüttich selbst, einer Stadt von 100,000 Einwohnern, bestehen 24 geduldete Bordelle mit etwa 200 eingeschriebenen Dirnen. Etwas mehr als diese Zahl wurde im Hospital wegen Syphilis behandelt. Von diesen wurden 26 von Besuchern der »Häuser« wegen Ansteckung angeklagt und 18 davon als gesund freigesprochen. Den Wüstlingen selbst geschah für ihre falsche Anklage nichts; denn »ehrenwerte Männer sind sie alle.«

– Eine in Belgien alltägliche Geschichte ist folgende: Ein bekannter Kaufmann in Brüssel verlangte durch Inserate in Zeitungen Verkäuferinnen, Erzieherinnen und Gesellschafterinnen für eine Stadt in Südfrankreich. Ein Mädchen aus guter bürgerlicher Familie begab sich in das Grand-Hotel, wo sich die Persönlichkeit befinden sollte, an die man sich zu wenden hatte, und wurde hier einem vornehm und respektabel aussehenden alten Herrn vorgestellt, welcher sagte, daß seine Frau sich mit der Sache befasse und dem Mädchen schreiben werde. Nach einigen Tagen erhielt dasselbe einen Brief mit der Nachricht, daß Madame sie angenommen habe, und sie zu einer bestimmten Stunde am Bahnhofe erwarte, um mit ihr nach Bordeaux zu reisen. Die Reise ging vor sich: aber in Bordeaux wurde die Bethörte nach Nizza gewiesen und hier in ein schlechtes Haus eingesperrt, aus dem es ihr aber glücklicherweise gelang, zu entfliehen und den Schutz der Behörden zu gewinnen.

1889. – Die Verhältnisse der Prostitution in Brüssel und ganz Belgien fahren fort, empörend zu sein. Von einem Erfolge der offiziellen Schritte zur Besserung vernimmt man nichts; die eingesetzte Kommission kann sich zu nichts einigen, und alles ist verstummt. Die Gerichte erklären sich fortwährend außer Kompetenz, Frauen gegen willkürliche Einschreibungen als Prostituierte zu schützen.

– In Antwerpen werden 47 Personen ausgewiesen, welche an der Ausfuhr junger Mädchen nach Amerika teilgenommen hatten.

1890. – Die belgische Gesellschaft für öffentliche Sittlichkeit zählt 300 Mitglieder aller Parteien und Stände und fährt fort zu arbeiten, so wenig Erfolg sie auch hat und so wenig Unterstützung bei den Behörden sie findet. Das neue Ministerium, obschon zwei seiner Mitglieder der Gesellschaft angehören, findet es dringender, die Schulen dem Klerus auszuliefern, als die unglücklichen Opfer der Reglementierung wirksam zu schützen. So erläßt die Behörde von Lüttich offiziell eine öffentliche Anzeige, daß diese und jene Prostituierte zu 5 Tagen Gefängnis und 15 Fr. Buße verurteilt worden ist, weil sie die Stadt verlassen hat, ohne sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterwerfen. Man verfolgt sie, und wenn man sie findet, wird sie ergriffen und wieder in die Lasterhöhle gesteckt, aus welcher sie sich zu retten und ein anständiges Leben zu beginnen hoffte!

1891. – Die Kommission hat endlich Mitte Juni ihre Arbeiten vollendet und einen Entwurf ausgearbeitet, welcher zu Anfang des Winters den Kammern vorgelegt werden sollte. Der allgemeine Bund für Hebung der öffentlichen Moralität versammelt sich am 5. Oktober in Brüssel und wird von der anständigen Bevölkerung freudig empfangen. Drei Minister und mehrere Bischöfe wohnen den Verhandlungen bei: die Geistlichkeit spricht ihre Sympathien mit dem Bunde aus. Die Mitglieder der belgischen Gesellschaft für öffentliche Sittlichkeit, namentlich die Herren de Laveleye und Pagny halten zündende Reden, ebenso Mrs. Butler, eine Hauptgründerin des Bundes, und Mitglieder desselben aus verschiedenen Ländern.

– Am 9. Dezember erklärt das Zivilgericht von Brüssel einen Akt, durch welchen (schon 1879!) der Bürgermeister Vanderstraeten von Brüssel sein Haus an einen Bordellhalter verkauft hatte, als einen solchen von unmoralischem Charakter für nichtig. –

1892. – Am 3. Januar stirbt in Doyon bei Lüttich Emile de Laveleye, der größte Kämpfer für Sittlichkeit in Belgien (geb. 1822 in Brügge), seit 1863 Professor in Lüttich, seit 1884 Präsident des allgemeinen Bundes. Es ist zu hoffen, daß sein Geist, vertreten durch seinen Freund Pagny, fortwirken werde zur Errichtung menschenwürdigerer Zustände, als die es sind, welche zu beseitigen die Behörden so unbegreifliche Lässigkeit beweisen!

– Brüssel wird noch immer als das Eldorado der offiziellen Prostitution gekennzeichnet. Auf dem Boulevard Anspach ist Abends von 9 Uhr an großer Corso der öffentlichen Dirnen ( man merke: trotz den Bordellen, deren die Stadt noch acht anerkannte besitzt, die aber durch das endliche Verbot des Ausschankes geistiger Getränke in denselben »heruntergekommen« sind). Um 10 Uhr ist der Boulevard förmlich von der Prostitution besetzt und beherrscht. Auch in den Konzertlokalen sind die Sängerinnen und Kellnerinnen durch kargen Lohn auf die Prostitution angewiesen.

– Auf dem Boulevard de la Senne, auf welchem es gleichermaßen zugeht, bildet sich ein Verein gegen die Excesse der Prostitution, dem es gelingt, die Polizei zu schärferem Einschreiten gegen dieselben zu bewegen, aber nur soweit, als es die Reglements der Sittenpolizei ermöglichen. Der Verein schließt sich daher der belgischen Gesellschaft für öffentliche Sittlichkeit an.

– In Brüssel sind von 42 Bordellen des Jahres 1856 nur noch 7, in Antwerpen von 29 (1885) nur 15, in Lüttich von 33 (1881) noch 24 übrig u. s. w., eine Erscheinung, die sich auch in den anderen Bordellstaaten findet. Auch diese »Anstalten« haben ihre Zeit und verfallen, und sie beleben wollen, ist ein kopfloser Anachronismus. – Der Kampf der Sittlichkeit wird sich, wenn diese Entwicklung ihren Gang weiter geht, bald auf die möglichste Unterdrückung der »freien« Prostitution beschränken können! Mittlerweile aber bestehen nicht wenige der Schandhäuser mit all ihrem Unfug und ihren Greueln noch fort, und es wäre sehr ungerechtfertigt, wegen ihrer Verminderung die Hände in den Schoß zu legen und ihr Aufhören abzuwarten, das sich noch lange verziehen könnte. Denn noch zählt Belgien, nach der Mitteilung von Dr. Fiaux (1892) 96 sogenannte Toleranzhäuser mit 486 Pensionären und daneben 661 eingeschriebene »freie« Dirnen.

1894. – Am 5. Mai wurde in Antwerpen ein Mädchenhändler in dem Augenblicke verhaftet, als er mit 6 jungen Brüsselerinnen sich nach San Francisco einschiffen wollte, denen er glänzende Stellen in jener Stadt versprochen hatte.

– An der Konferenz des Bundes für Hebung der Sittlichkeit in London (12. August) trat zum ersten Male ein katholischer Geistlicher Abbé Schuppe aus St. Nicolas in Belgien als Mitglied des Bundes auf. Mit ihm war der protestantische Prediger Meyhoffer gekommen und berichtete über die Thätigkeit der belgischen Gesellschaft für öffentliche Moralität.

– Diese Gesellschaft richtet am 1. August aus Mecheln eine Adresse an den Papst Leo XIII. und bittet ihn, das System der Reglementierung der Prostitution zu verdammen. Alle belgischen Bischöfe unterstützen die Adresse durch ihre Unterschrift.

– Zugleich erläßt die genannte Gesellschaft bei Anlaß der Kammerwahlen einen Aufruf an die belgischen Wähler, nur solchen Kandidaten ihre Stimme zu geben, welche sich gegen das Reglementierungssystem erklären.

1895. – Im Juni wurden zu Brüssel vier Personen wegen Mädchenhandels verhaftet. Eine davon, die Ungarin Anna Rabbuschin, hatte sich aus ärmlichen Verhältnissen durch Kuppelei zum Wohlstand (wenn man es so nennen darf) emporgeschwungen. Sie reiste mit einer ihr befreundeten Bordellhalterin, Anna Takkatz und einer »Pensionärin« der letztern, Marie Oversaek, die als Dolmetscherin diente. Die drei kamen nach Brüssel und setzten sich mit dem »Stellenvermittler« Florent Caramin in Verbindung, der ihnen drei junge Mädchen verkaufte und eine vierte in Aussicht stellte. Die Rabbuschin spiegelte den Dreien gute Stellungen in russischen Familien vor, nahm sie mit sich nach Berlin und schickte sie nach Riga an die Adresse ihrer Geschäftsfreundin in der Ziegelstraße, der sie zugleich telegraphierte: »Drei Colis auf der Reise«. Sie machte dann in Berlin weitere Geschäfte und fuhr nach Rotterdam, während die drei Mädchen ihre Reise fortsetzten. Sie trafen aber eine Dame aus Riga, der sie ihre Adresse mitteilten, worauf sie von ihr aufgeklärt wurden, daß es sich um ein schlechtes Haus handle. Statt in der Ziegelstraße stiegen sie in einem Hotel ab, weigerten sich, der Kupplerin, die sie dort aufsuchte, zu folgen, und wandten sich an den belgischen Konsul, der sie nach der Heimat beförderte, wo sie die Sache gerichtlich zur Anzeige brachten.

Indessen hatte Caramin das vierte Mädchen expediert und, da die Kupplerin von Riga ihr »Mißgeschick« berichtet, die nötigen Maßregeln getroffen, daß das arme Kind in das Bordell der Ziegelstraße gebracht wurde, wo der Händler 600 Fr. für sie erhielt. Da sie aber entdeckte, wohin sie gebracht war und es ihr gelang, den französischen Konsul zu benachrichtigen, sorgte dieser für ihre Befreiung und Heimkehr und machte der Polizei in Antwerpen von dem Vorfall Anzeige. Die vier Schuldigen wurden am 29. Juni in Brüssel vor Gericht gestellt. Die Rabbuschin, die Takkatz und Caramin wurden zu je zehn Jahren Gefängnis und 50 Fr. Buße, die Oversaek zu fünf Jahren und 300 Fr. verurteilt.

 

* * *

 


 << zurück weiter >>