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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Ein denkwürdiger Abend


Mit unserer Geschichte zum Schlusse eilend, bitten wir den Leser, uns noch einmal in das Dörflein zu folgen, in dem ihr Anfang sich abgespielt hat – nach Vernau. Es war in der Abenddämmerung an einem der ersten Tage des neuen Jahres; auf der Eisbahn vor dem Dorfe tummelte sich just eine muntere Kinderschar, als auf der Straße, die von der Kreisstadt her oberhalb des Ortes vorüberführte, der Klang eines Posthorns erscholl. Im Augenblicke reckten sich alle die kleinen Hälse empor: eine Post zu so ungewöhnlicher Zeit – das mußte etwas zu bedeuten haben. Mit jauchzendem Hurrah stürzten alle, Knäblein wie Mägdlein, davon, sich das wunderbare Ding anzusehen. Langsam rollte das schwerfällige Gefährt, eine Extrapost, heran. Jetzt bog das Gespann in den Feldweg ein, der von der Landstraße in der Richtung des Dorfes sich abzweigte. Helle Verwunderung in den Gesichtern wichen die Kinder zur Seite. Ein wunderschönes Frauenantlitz sah, die Wangen von der Kälte rosig überhaucht, aus dem Fenster. Mit strahlenden Augen, ein holdes Lächeln auf den Lippen, betrachtete sie die Kinderschar; jetzt öffnete sie den Mund:

»Seid Ihr aus Vernau, Kinder?«

Mit offenem Munde starrten diese die Fragende an. Die Jungen rissen die Mützen vom Kopfe, aber kein Laut kam über ihre Lippen; die Mädchen kicherten und steckten vor Verlegenheit den Finger in den Mund. Nur ein kleiner Knirps mit blitzenden Blauaugen gab Antwort: »Joa!« und nickte; die andern schienen vor Verwunderung die Sprache verloren zu haben. Der Anblick war aber auch in der Tat für unsere Landkinder überraschend. So viel Schönheit und holder Liebreiz, wie er ihnen hier vor die Augen trat, überstieg alle ihre gewohnten kindlichen Vorstellungen; so schön wie diese Dame war ja nicht einmal Mamsell Röschen, ihr vielbewundertes »Pfarrfrölen«. Pfarrfräulein. Wie eine Königin sah sie aus in dem federgeschmückten Pelzbarett, in dem weißen Hermelin, der Hals und Schultern schützend umschloß – das konnte unmöglich ein gewöhnlich Menschenkind sein. »Kenge, die Kurferschten!« Kinder, die Kurfürstin. platzte auf einmal ein kleines Mädchen heraus – und als wäre das Wort ein Signal gewesen, so stob die kleine Horde plötzlich wie ein Sturmwind querfeldein über Felder und Wiesen davon, um mit lautem Geschrei im Dorfe die Wundermähr zu verkünden: »Die Kurfürstin kommt!«

Was das für einen Aufruhr gab in dem Orte! Die Fenster öffneten sich; Fragen und Antworten schwirrten hin und her. Gruppen erregter Frauen sammelten sich auf der Gasse.

»Hat se's geheert, Schulzenkatrine?« rief die schwatzhafte Botenliese, die Neuigkeitskrämerin des Dorfes, der Frau des Ortsschulzen zu, »de Kurferschten – mit Extrapost – na ja, ech han's ja gesaht! gesagt.Wie ich dissen Morgen unse ahle Katze sich so höllisch putzen soh – ›hirre, heute.‹ han ech do zu unsem Riekchen gesaht, ›hirre passiert noch was.‹ Du lieber Gott, unse Kurferschten –«

»Liese, se eß woll nit gescheit,« unterbrach der Schulze, der, einen Eimer in der Hand, just aus dem Stalle trat, den Redestrom des Weibes. »Die Frau Kurferschten mit Extrapost – Ehr Ihr. rappelts woll im Koppe?«

»Hurrah, Vadder,« schrie plötzlich, in vollem Laufe heranstürzend, ein kleiner Knabe – eben jener Knirps, von dem oben die Rede war –; »se eß es, se eß es! Hurrah, de Kurferschten!«

Der kleine Sausewind tat einen Luftsprung, und weg war er.

»Du donnerwetterscher Junge,« rief ihm der Schulze nach, »wie soh se dann us?«

Aber der hörte schon längst nicht mehr.

Ärgerlich sah ihm der Vater nach. Die Schulzenfrau machte ein bestürztes Gesicht. »Ach hinne, Ausruf. Hanjörg,« sagte sie und sah ratlos bald die Botenliese an, bald ihren Mann; »am Enne eß se's doch, un me wir. duhn gar nischt und hahlen hie Mullaffen feil.«

Der Bauer schüttelte den Kopf.

»Ach was,« brummte er unwirsch, »der Kurferschten leits uf liegts auf., mit Extrapost im Lanne rümmer ze fahren – Unsinn!«

»Na, dann gläubets nur nit,« rief die Botenliese giftig; »wann se's awwer dann doch eß – na, ech hans Em gesaht.«

Sie entfernte sich grollend. Der Dorfgewaltige machte ein bedenkliches Gesicht; die Sache begann ihm nun doch im Kopfe herumzugehen. Da erblickte er unten auf der Gasse ein Trüpplein Männer, die, mit lebhaftem Gebärdenspiele mit einander disputierend, in unverkennbarer Aufregung näher kamen. »Herr Burgemeister,« rief ihm einer – es war der Ortsdiener – entgegen, »was machen me? De Kenge un de Lüre die Kinder und die Leute. sahn, es wäre de Kurferschten, hie der Schmiedswillem aber steht feste druf, es wäre de junge, die Kurprinzessin; he hätte se gesähn, saht he, wie der Wahn Wagen. hinner Bornjakobs Scheuer wäre durchgekommen. Was machen me?«

Ein junger Bursch im Lederschurze mit rußgeschwärztem Gesicht trat vor und sagte: »De Kurprinzessin Auguste eß es, Herr Burgemeister; was de Lüre –«

»Die Kurprinzessin!« fiel ihm die Schulzenfrau in die Rede und faltete in ehrfurchtvollem Staunen die Hände. »Willem, wie soh se dann us? Was hat se dann for Ögen?«

»Ögen? Ögen?« rief der Bursch mit verwundertem, schier vorwurfsvollem Blicke. »Nee, Schulzen, 'ner Kuh un 'ner Zeege gücket mer in de Ögen, awer 'nem jungen Wiewesmensche neet!«

Die Manner verbissen ein Lachen. Der Schulze kratzte sich hinter dem Ohre.

»Kenge und Lüre,« rief er, »sied de dann alle –«

Verrückt – wollte er sagen, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Ein Knabe stürzte hervor, von mehreren andern gefolgt. Schon von weitem rief er:

»Äwen sinn se in de Parre!«

»Un der Kurferscht eß ööch derbi!« schrie ein anderer atemlos.

»Un hat 'ne Uneform an,« fügte ein dritter hinzu; »sitt gerode us wie'n General.«

»Jungens, wenn es nit wohr eß!« herrschte der Schulze die Knaben an.

»Es eß awwer wohr – weishaftig, me han se gesähn!«

Die Bande eilte weiter.

»In de Parre!« wiederholte das Dorfhaupt, noch immer zweifelnd. Er überlegte. Am Ende war die Sache doch nicht so ohne. Der Pfarrer, der während der westfälischen Zeit nie seine Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus verleugnet hatte, war am Kasseler Hofe jetzt ohne Zweifel eine wohlangesehene Persönlichkeit. Wer mochte wissen, was der Besuch zu bedeuten hatte? Wenn wirklich jemand von der kurfürstlichen Familie dort eingekehrt war, welche Blamage für das Dorf, wenn gar nichts geschah, den hohen Herrschaften die Gesinnungen der Gemeinde zum Ausdruck zu bringen. Lieber einen Irrtum riskieren, als den Schein zu erwecken, man hielte es mit den verhaßten Franzosen.

»Weißte was, Bastian,« redete er den Ortsdiener an, »geh annen geh hin (von dannen). un rufe den Gemeinerat zusammen. Un heerschte, sahs ööch hörst du, sags auch. dem Kanter, der mah ööch kommen un uns sahn, was he von der Sache hält. Ihr aber, Lüre,« wandte er sich an die andern, »künnt ocker soviel als »nur,« »auf alle Fälle« »u. dergl.« im ganzen Dorfe sahn: wer abkommen kann, Manns- und Wiewespersonen, nit wenger ööch das junge lerrige ledige. Volk, sun sun = sollen, ebenso kunn = können und wun = wollen. sich parat machen, daß se Punkt sewwen Uhr im Schulsaale sinn. Do soll en gesaht wären, was ze duhn eß. Dos mah nu sinn wie's will: awwer das soll mer uns emol nit nahsahn, nachsagen. daß me Patrioten im damaligen ländlichen Sprachgebrauche soviel wie Franzosenfreunde. (Patrioten nannten sich seiner Zeit die Revolutionäre in Frankreich.) wären, – nee, me sinn brave Hessen un wun's ööch bliewen.«

Die Männer eilten hinweg.

Ohne eine Ahnung von dem Sturme zu haben, den ihre Ankunft in dem kleinen weltentlegenen Dörflein verursachte, waren die Reisenden unterdes wirklich im Pfarrhofe angelangt. Dort schien man jedoch auf ihre Ankunft vorbereitet zu sein. Pfarrer Bohnewald stand bereits in der Tür, neben ihm Rosa im weißen Kleide und hinter beiden die alte Dore. Jener eilte die Stiegen hinab; seiner Absicht jedoch, den Schlag zu öffnen, war schon ein anderer zuvorgekommen. Der Schlag fuhr auf, aber – der geneigte Leser merkt schon etwas – der stattliche Herr, der, in einen alten Offiziersmantel gehüllt, dem Gefährt entstieg, war nicht, wie die biederen Bewohner von Vernau wähnten, der Kurfürst oder der Kurprinz, sondern – unser ehemaliger Flüchtling, Friedrich von Grandenborn. Mit strahlendem Gesicht winkte er, während er mit ritterlicher Artigkeit den beiden weiblichen Insassen der Kutsche beim Aussteigen behilflich war, dem Pfarrer zu; doch erst, nachdem mit seiner Hilfe noch ein anderer Herr – es war Freiherr von Gehren – etwas schwerfällig dem Gefährt entstiegen war, konnte er dem Drange seines Herzens Genüge tun und seinen ehemaligen Wohltäter begrüßen. »Grüß Gott, Herzensvater!« rief er, indem er den Pfarrer schier stürmisch umarmte, »so haben Sie also noch rechtzeitig unsern von Eschwege datierten Brief, die Antwort auf Ihr Schreiben, erhalten?«

»Mein Herzenssohn,« flüsterte jener in tiefer Bewegung, »grüß Dich Gott!« Sein Blick streifte die Damen, die lächelnd zur Seite standen: »Und das also sind –«

»Meine Mutter und meine Schwester – aufzuwarten,« fiel Friedrich lächelnd ein. Die Damen verneigten sich. Mit hoher Ehrfurcht sah die Matrone zu dem Manne auf, der ihrem Sohne in schwerer Zeit Samariterdienste erwiesen, dem Verfolgten Herz und Haus geöffnet hatte. »Mein lieber Herr Pfarrer,« hauchte sie, seine ehrerbietige Begrüßung erwidernd, mit zuckender Lippe, »wie kann ich Ihnen jemals Ihre Guttat vergelten?«

Pfarrer Bohnewald wehrte freundlich ab. »Nicht so, nicht so, meine verehrte – Frau Mitschwieger, darf ich wohl sagen? … Übrigens sehen Sie nur« – er deutete lächelnd auf Rosa und Friedrich – »in dem Anblick fühle ich mich in der Tat mehr als reichlich belohnt.«

Mit glückseligem Lächeln lag Rosa bereits in Friedrichs Armen. »Mein süßes Lieb!« flüsterte er. »Deines Oheims Brief hat mich zum Glücklichsten der Sterblichen gemacht.«

Hand in Hand mit ihr, die, von Purpurglut übergossen, in diesem Augenblicke wirklich mehr als je einem vollerblühten lieblichen Röslein glich, stellte er sie den Seinigen vor: »Hier, meine Mutter, hier, mein trautes Schwesterlein, habe ich die Ehre, Ihnen mein Bräutlein vorzustellen. Gefällt Ihnen meine Wahl?«

Frau von Grandenborn und Emilie strahlten. »Ich wußte es,« sagte jene, Rosa umarmend, »daß mein Sohn nur eine Würdige erwählen würde. Gott segne Dich, mein Kind!« Und Emilie rief entzückt: »O, Friedrich, sieht so Dein Röslein aus?« Sie flog auf Rosa zu: »Mein liebes, holdes Schwesterlein!«

Lachend und weinend lagen die beiden Mädchen einander in den Armen.

»Item, mein alter Freund,« rief jemand dahinten – es war Herr von Gehren, der inzwischen das Gepäck aus dem Wagen genommen und den Postillon abgefertigt hatte und nun Arm in Arm mit dem Pfarrer näher kam – »was sagen Sie nun? … Emilie!« Seine Augen blickten suchend umher. »Ha, da bist Du! So« – er ergriff ihre Hand – »ich hab' also die Ehre, Ihnen hiermit persönlich meine künftige Gemahlin vorzustellen und Ihrem besonderen Wohlwollen, mein Freund, zu empfehlen. Auf Parole, einen so klugen Streich hätten Sie dem alten Weiberfeinde wohl nicht zugetraut?«

»Daß ich Sie für einen Weiberfeind gehalten hätte,« lächelte der Pfarrer, »kann ich nun doch gerade nicht sagen. Es mußte sich eben erst die Richtige finden. Empfangen Sie nochmals« – er schüttelte beiden die Hände – »meinen herzinnigen Glückwunsch! Aus vollem Herzen erflehe ich Ihnen beiden den Segen Gottes!« –

Ein lustig Stücklein blasend, fuhr der Postillon mit seiner Kalesche davon; Dore, von den Herren jetzt ebenfalls begrüßt und den Damen vorgestellt, ließ sich über die verschiedenen Gepäckstücke Bescheid sagen, und der Pfarrer führte die Gäste ins Haus.

In dem wohlig durchwärmten, erleuchteten Prunkgemache des Hauses, einer großen Stube im Oberstock – sie grenzte just an das Fremdenzimmer, das einst Herr von Gehren bewohnt hatte – finden wir eine Weile später unsere Freunde wieder beisammen. Die Verlobung Friedrichs zu feiern, hatten sie sich gemeinsam auf die Reise gemacht. Und es war eine würdige Feier. Nach einer herzbewegenden Ansprache legte Pfarrer Bohnewald die Hände unserer jungen Freunde in einander und flehte in brünstigem Gebete Gottes Segen auf sie herab. Alle waren tief bewegt; Rosa und Emilie schluchzten leise; in den Augen der alten Dame perlten die hellen Tränen. Aber es waren Freudentränen.

Ernst und still setzte man sich zum Verlobungsmahle nieder. Herr von Gehren brachte den ersten Trinkspruch aus. »Auf Parole, Ihr Lieben,« begann er, »wer hätte gedacht, daß uns Vieren aus aller der Not, die hinter uns liegt, aus der Not und dem Drucke der Fremdherrschaft, aus Schlachtengraus und Kriegesschrecken die Wunderblume eines solchen Glückes ersprießen werde? Aber fürwahr, unser Gott ist ein Wundergott; Wunderbar heißt sein Name; wunderbar ist sein Rat und wunderbar sein Tun. Möge die Wunderblume, durch seine Gnade uns erblüht, ein echtes Blümlein ›Jelängerjelieber‹, von Tage zu Tage sich schöner entfalten, unsere Herzen erquickend, unsere Augen erfreuend mit ihrem Duft und Glanze!« Er sah Friedrich und Rosa an. »Möge sie, liebe Geschwister und Freunde, zumal Euch köstliche Blüten streuen auf Euren Weg! … Du hast ein Röslein gewonnen, mein Friedrich; möge es Deinen Augen und Deinem Herzen allewege ein gar liebliches Röslein, das schönste, süßeste Blümlein auf unserm Erdenrund sein; möge es, Dir niemals spitzige Dornen zeigend, vielmehr alle Dornen entfernend aus Deinem Wege, beglückend und tröstend, Dir allewege, in Freud' und Leid, als Deine bis in den Tod getreue Gehilfin zur Seite stehen! … Und mögest auch Du, mein herziges Schwesterlein, recht, recht glücklich sein an der Seite Deines künftigen Gemahls! Höre, sollte Dein Friedrich sich je beifallen lassen, den Bärenhäuter oder, was noch schlimmer wäre, den Professor herauszukehren –«

Der Sprechende machte eine Pause. Emilie kicherte; Friedrich rief leise: »hoho, werd' ich mich hüten!«

Schmunzelnd fuhr jener fort: »Na, sage ich, wenn der Fall eintreten sollte, so wende Dich ja nur getrost an mich; ich werde ihm den Kopf schon zurecht setzen! Nun denn – auf Euer beider Wohl erheb' ich mein Glas; lassen Sie uns anstoßen, meine Freunde: das jüngste der hier anwesenden Brautpaare, Professor Friedrich von Grandenborn und sein Röslein, lebe hoch!«

Wie fröhlich die Gläser da aneinander klangen, wie kräftig alle einstimmten in den Ruf! Mit schelmischem Blicke sah Emilie den Bruder an: »Gelt, Brüderlein, hab' ich's nicht richtig geahnt, was für eine Bewandtnis es mit diesem Röslein habe, als Du uns dazumal – weißt Du noch? – die Geschichte Deiner Flucht aus Marburg erzähltest?«

»Du Hellseherin!« gab Friedrich lächelnd zurück und stieß mit ihr an.

»Was werden aber Sie nun anfangen, lieber Freund,« richtete, als man sich wieder gesetzt hatte, Herr von Gehren an den Pfarrer das Wort, »wenn dieser böse Mensch, mein Schwager, diese Blume Ihrem Hause entführen wird? Wie Sie das nur aushalten werden?«

»Ach ja, mein lieber Herr Ohm,« schmiegte sich Rosa tränenden Auges an den alten Herrn, »wie wird es werden? … Ich bin so glücklich – aber der Gedanke, Sie zu verlassen, macht mir Schmerz.«

»Ziehen Sie mit uns, lieber Vater,« bat Friedrich. »Sie sind alt und grau geworden in Ihrem Amte und haben die Ruhe verdient. Wie schön, wenn Sie sich entschließen könnten, in köstlicher Stille Ihren Lebensabend bei uns zu verleben.«

»Davon kann vorläufig noch keine Rede sein, liebe Kinder,« versetzte der Pfarrer bewegt. »So lange mir Gott Kraft gibt, werde ich mein Amt versehen. Mein Röschen freilich« – er küßte sie auf die Stirn – »werde ich unendlich vermissen. Item, mit unserer alten Dore werde ich, was das Leibliche betrifft, schon versorgt sein. Vergeßt nur Euren alten Ohm nicht ganz! Besucht mich fleißig, hört Ihr? Die Ferien bieten Gelegenheit genug dazu, und mein Haus wie mein Herz werden Euch immerdar offen stehen.«

»Und wir werden fleißigen Gebrauch von der Einladung machen,« bemerkte Friedrich.

»Darin habt Ihrs nun gut, Ihr glücklichen Leute,« fiel mit trockenem Humor Herr von Gehren ein. »Marburg liegt nahe, mein Falkenhagen aber eine Ewigkeit weit entfernt. Da wird für unser einen nicht mehr viel von Besuchen die Rede sein. Ist auch freilich die Frage, ob es meinem alten Freunde just genehm sein würde, wenn ich und Emilie so oft –«

»Aber, mein lieber Freund,« unterbrach ihn der Pfarrer mit vorwurfsvollem Blicke, »so etwas überhaupt nur zu denken! O, daß ich Euch alle könnte beständig in meiner Nähe –«

»Pardon, Pardon, ich weiß es ja! Nun, so oft es möglich sein wird, werden auch wir uns wiedersehen, auf Parole! Und die Hochzeit, gelt Emilie,« – Herr von Gehren reichte seiner Braut mit lächelndem Blicke die Hand – »die feiern wir im Mai hier mit Friedrich zusammen? Vater Bohnewald mag dann eben zwei Brautpaare kopulieren.«

So unter ernsten und heiteren Gesprächen verliefen den Glücklichen die Stunden. Noch mancher Trinkspruch ward ausgebracht; der Pfarrer ließ Emilie und Herrn von Gehren, dieser Emiliens Mutter, Friedrich hinwiederum seinen »herzlieben Oheim« leben; schließlich wurde auf alle guten, echtdeutschen Hausfrauen angestoßen. Alte Erinnerungen wurden wieder aufgefrischt, Gedanken über die Zeitlage ausgetauscht, Befürchtungen und Hoffnungen für die Zukunft geäußert, Blüchers Rheinübergang wurde lebhaft besprochen, da – horch, was war das? Keiner der Fröhlichen hatte das geheimnisvolle Leben und Weben bemerkt, das sich – der Nachtwächter hatte soeben die zehnte Stunde abgerufen – mit einemmale auf dem Hofe entwickelte. Kinderfüße trippelten auf dem hartgefrorenen Schnee; eine Menge dunkler Gestalten tauchte auf; ein Summen und Flüstern ward laut – und plötzlich klangs aus Männer-, Frauen- und Kinderkehlen zu den erleuchteten Fenstern hinauf in mehrstimmigem Gesang:

»Heil unserm Kurfürst, Heil!«

Im Augenblicke war das Gespräch an der Tafel verstummt. Staunend sahen alle einander an, sprangen dann auf und eilten an die Fenster. Das ganze Dorf schien sich auf dem Hofe versammelt zu haben.

»O Friedrich, hör' einmal,« flüsterte Rosa, »sie singen die Volkshymne, das Kurfürstenlied.«

»Auf Parole,« schmunzelte Herr von Gehren, »das ist ja ein patriotisches Dorf!«

Der Pfarrer machte ein eigentümliches, schier verlegenes Gesicht. »Die guten Leute,« sagte er, »haben wohl irgendwie etwas von einem fröhlichen Ereignis munkeln hören und bringen Euch nun, ihre Teilnahme zu bezeugen, ein Ständchen dar. Wenigstens wüßte ich mir gar keinen anderen Vers darauf.«

Friedrich hatte das Fenster geöffnet. Neben ihm stand Emilie. Ahnungslos seinen Arm ergreifend, beugte sie sich vor; lächelnd sah sie auf die singende Menge nieder. Jetzt hatte man sie unten erkannt. Alle Hälse reckten sich empor. Der Gesang schwoll zu immer größerer Stärke an; von wahrer Begeisterung getragen, klangen die Worte hinauf:

»Auf, Brüder, Schwestern, Heil,
Der Kurprinzessin Heil!
Singt, singt ihr Heil!
Auch sie ist uns verwandt,
Sie knüpft ein schönes Band
An unser Vaterland.
Auf, singt ihr Heil!

Dem ganzen Lande Heil!
Dem Vaterlande Heil!
Singt, singt ihm Heil!
Wir leben froh und frei,
Dem guten Kurfürst treu
Und bleiben stets dabei:
Dem Lande Heil!«

Der Gesang verstummte. In demselben Augenblick aber rief eine schmetternde Stimme:

»Unser lieber Herr Kurfürst und Kurprinz soll leben – und unsre liebe Frau Kurfürstin und Kurprinzessin daneben!«

Und »hoch, hoch, hoch!« scholl es aus mehr als hundert Kehlen jubelnd herauf.

Verdutzt sahen sich unsere Freunde an. »Aber das ist ja kostbar!« platzte auf einmal Herr von Gehren heraus und trat, sein Lachen zu verbergen, in die Stube zurück. »Emilie und Friedrich – haha, – die Sache gilt Euch! Irgendwer muß sich mit den guten Leuten einen Spaß gemacht haben. Kostbar, ha, kostbar!« – der Sprechende hielt sich die Seiten vor Lachen – »im Zweifel, ob sie Kurfürst und Kurfürstin oder den Kurprinzen und die Kurprinzessin vor sich haben, lassen sie gleich alle viere auf einmal leben, hahaha!«

Jetzt ging freilich auch den andern ein Licht auf.

»Natürlich,« bemerkte Pfarrer Bohnewald, »so ist es. Da seht nur, wie sie die Mützen schwenken … Wer ihnen den Bären mag aufgebunden haben? … Aber wir müssen sie aufklären.«

Er stieg in den Hof hinab.

Eine plötzliche Stille entstand. Gleich darauf hörte man die Stimme des Pfarrers:

»Liebe Kinder, Ihr seid, so scheint es, in einem Irrtum befangen. Nicht unser durchlauchtigster Kurfürst oder Kurprinz ist angekommen, und ebenso wenig die Kurfürstin oder die Kurprinzessin. Der Mann, der da oben am Fenster steht, seht ihn Euch an: es ist derselbe, der einst, ein verfolgter Flüchtling, in der Verkleidung eines reisenden Handwerksburschen in unsrer Mitte eine Zuflucht fand – der Professor Friedrich von Grandenborn. Ich weiß es, gar mancher von Euch hat schon damals das Geheimnis durchschaut; Eure Treue, Eure Verschwiegenheit ist es, der er nicht zum wenigsten seine Rettung, Freiheit und Leben verdankte, Nun, erkennt Ihr ihn jetzt?«

Durch die Versammlung ging ein langgezogenes, verwundertes »Ah!«

»Nun hört,« fuhr der Prediger fort, »gekommen mit seiner Mutter, seiner Schwester und deren zukünftigem Gemahle, dem Freiherrn von Gehren, einem Manne, der wenigstens etlichen von Euch auch noch bekannt sein wird, hat er sich just heut Abend mit meiner Nichte Rosa verlobt –«

Ein Freudenruf unterbrach ihn: »Verlobt – mit unserm Mamsell Röschen verlobt?« Pfarrer Bohnewald sah hin und erkannte den alten Kantor. »Aber da gratulieren wir ja dem Herrn Pfarrer von ganzem Herzen.«

»Joa, jo doch,« fielen verschiedene ein, »me gratulieren, Herr Pfarrer, me gratulieren!«

Eine unverkennbare Bewegung ging durch die Menge. Frauen und Mädchen steckten die Köpfe zusammen und wisperten: »das Röschen verlobt – mit dem Handwerksburschen – Gemücke noch emol, wer hätte dos dunnemolen gedahcht!«

In der Tat, diese Verlobung war ein Ereignis, das noch lange nachher die Gemüter beschäftigte, noch wochen- und mondelang die Zungen der Mägdlein in den Spinnstuben in Bewegung hielt. Gewiß, einem solchen Handwerksburschen hätte wohl jede ihr Herz geschenkt; aber der Mensch muß eben Glück haben …

In das Summen und Raunen hinein ertönte plötzlich des Kantors Stimme:

»Nichts für ungut, Leute! Mit der Huldigung, so wir gedachten unserm durchlauchtigsten Landesherrn und Landesvater darzubringen, sind wir zwar tüchtig hineingefallen; wir sind eben das Opfer einer Täuschung geworden. Seis drum! Um so fröhlicher laßt dafür jetzo einen andern Ruf erklingen: unser guter getreuer Beichtvater und Seelenhirte, Herr Pfarrer Bohnewald und sein Haus, unser goldig Mamsellchen samt dero Herrn Bräutigam, sowie alle die verehrten Herrschaften da oben, sie sollen le–«

Er hatte das Wort noch nicht gesprochen, so fiel, Mützen, Hüte, Tücher schwenkend, die ganze Menge in jauchzendem Chorus ein:

»Sie sollen leben, Vivat hoch!«

»Und nochmals: hoch!«

»Und zum drittenmale: hoch!«

Gerührt wollte der Pfarrer danken; doch ehe er den Mund öffnen konnte, erklang von oben her eine markige Stimme – es war die des Freiherrn:

»Das lasse ich mir gefallen, Ihr Leute! Auf Parole, das habt Ihr prächtig gemacht. Eine Gemeinde, die ihren Seelsorger ehrt, der ihr, wie Euer Herr Pfarrer, in kümmerlicher und glaubensarmer Zeit noch rein und lauter das teure Wort Gottes verkündet, ist Gott, Engeln und Menschen wert. Möchte es mehr solcher Gemeinden geben im Lande zu Hessen, wie überhaupt in unserm gesamten deutschen Vaterlande! Und nun stimmt abermals ein: Die Gemeinde zu Vernau, sie lebe hoch – hoch – hoch!«

Jauchzend, aus voller Kehle – das Wort hatte ihnen sichtlich gefallen – fielen, gleichzeitig mit unsern Freunden oben, die Bauern in den Ruf ein …

»Das eß scheene,« ließ, als der Lärm sich gelegt hatte, sich einer der Bauern – es war der Schulze – vernehmen, »un me danken dem Herrn ööch, daß he so 'ne gute Meinung hat von disser Gemeine. Aber disse Schinnöser von Kengen Schinnöser (Kosename, gleichbedeutend mit »Schelme«) von Kindern.! Kommen ins Dorf gesprungen, sahn, de Kurferschten käme un der Kurferscht, de Kurprinzessin un noch wer alle, un de Wieweslüre lahn lassen. einem dann ööch keine Ruh, bis me – Lüre und Kenge!« rief er ärgerlich – er konnte die Geschichte gar nicht verwinden –, »da hon me uns emol höllisch blamiert!«

Der Pfarrer beruhigte ihn. »Doch nicht, Herr Bürgermeister! Laßt Euch überhaupt, liebe Kinder, das kleine Versehen nicht leid sein. Ich für mein Teil freue mich der Gesinnung, die Ihr darin habt kundgetan. Der ganze Vorgang beweist, daß unter der Fremdherrschaft, die nun glücklich ihr Ende erreicht hat, die alte Hessentreue nicht ausgestorben ist. Gott erhalte diese Treue in unserm Volke, daß sie forterbe auf Kind und Kindeskind. Aber bedenkt auch wohl, meine Lieben: Als echt und wahr, als eine mannhafte Treue, die ohne Wankelmut, wie ohne heuchlerische Liebedienerei dem irdischen Oberherrn dient, wird sie nur dann sich erweisen, wenn Ihr vor allen Dingen unserm himmlischen Könige, dem Herrn Christo, und seinem Worte die Treue bewahrt. Der Abfall unsers Volkes von Ihm und seinem Worte, er war im Grunde doch die einzige Ursache, daß Gott mit den Wettern seiner Gerichte hat dreinschlagen, solche furchtbaren Züchtigungen hat müssen ergehen lassen über unser armes Vaterland. Laßt uns die ernste Lehre, die uns geworden ist, nicht vergessen. Wenn Ihr und Eure Kinder, aus Gottes Macht im Glauben bewahrt, werdet Treue halten dem, der, ein starker Gott und Heiland, Euch erlöst hat durch sein Blut – erlöst von der schmählichsten Knechtschaft, die es gibt, von dem Fluche und der Herrschaft der Sünde, von der Herrschaft des Teufels und des Todes – nur dann, dann aber auch ganz gewiß, werdet Ihr und Eure Kinder frei und glücklich, ja allezeit und allewege, im Leben und im Sterben frei, glücklich und selig sein. Ihm wollen wir unsere Leiber und Seelen befehlen. So laßt uns einmal das Lied anstimmen: ›In allen meinen Taten laß ich den Höchsten raten‹ – bitte, Herr Kantor, wollen Sie einmal den Ton angeben.«

Andächtig hatten alle, die Männer zuletzt mit entblößten Häuptern, seinen Worten gelauscht. Die Freunde hatten ihren Platz an den Fenstern verlassen und sich in aller Stille nach unten verfügt; sie mischten sich unter die übrigen. Der Kantor stimmte an und alle fielen ein:

»In allen meinen Taten
Laß ich den Höchsten raten,
Der alles kann und hat.
Er muß zu allen Dingen,
Solls anders wohl gelingen,
Selbst geben Rat und Tat.

Nichts ist es spät und frühe
Um alle meine Mühe,
Mein Sorgen ist umsonst.
Er mag's mit meinen Sachen
Nach seinem Willen machen;
Ich stell's in seine Gunst.

Es kann mir nichts geschehen,
Als was er hat versehen,
Und was mir selig ist.
Ich nehm' es, wie ers giebet,
Was ihm von mir beliebet,
Das hab' ich auch erkiest.

Ich traue seiner Gnaden,
Die mich vor allem Schaden,
Vor allem Übel schützt.
Leb' ich nach seinen Sätzen,
So wird mich nichts verletzen,
Nichts fehlen was mir nützt.

Er wolle meiner Sünden
In Gnaden mich entbinden,
Durchstreichen meine Schuld;
Er wird auf mein Verbrechen
Nicht stracks das Urteil sprechen
Und haben noch Geduld.

So sei nun, Seele, seine
Und traue dem alleine,
Der dich geschaffen hat;
Es gehe, wie es gehe,
Dein Vater in der Höhe
Weiß allen Sachen Rat.«

Als das Lied aus war, gingen alle mit ehrerbietigem Gruße ruhig und still nach Hause.

Und damit nehmen auch wir Abschied vom Leser.

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