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Rüstig schritt das seltsame Kleeblatt durch die regnerische Nacht fürbaß. So lange die Dunkelheit andauerte, benutzten unsere Wanderer die Landstraße und kamen so ziemlich rasch vorwärts. Glücklich erreichten sie die Gegend von Wanfried. Der Mond war gerade aufgegangen; im Osten graute der neue Tag. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel zeigte noch immer ein trübes wolkiges Angesicht. Ein paar planbedeckte Frachtwagen begegneten ihnen; einzelne Landleute gingen an ihnen vorüber; im Städtchen begann es lebendig zu werden – es schien nicht geraten, die Werrabrücke bei Wanfried zu überschreiten. Sie mußten versuchen, bei einem der nächsten Dörfer den Strom zu passieren.
Sie schlugen den Waldweg ein, der am Fuße des Muhlienbergs am Landgrafenborn und an dem Gehöfte Leisterberg vorüberführte, und erreichten nach einer Stunde Altenburschla. Es war mittlerweile schon ziemlich hell geworden. In einen Feldweg einbiegend, strebten sie, ohne das Dorf zu berühren, die Brücke über den Fluß zu gewinnen. Unweit der Brücke stießen sie auf ein einzelnes Haus von höchst eigentümlicher Bauart. Der hohe Giebel war halb hufeisenförmig gebogen; wie Widderhörner ragten die Giebelbalken an den Seiten hervor: Wände, Fenster und Türen zeigten einen grünlichen Anstrich. Am Giebel neben der Haustür prangte ein Wirtshausschild, dicht daneben las man in großen rotgeränderten, aber in leuchtendem Weiß ausgemalten Buchstaben die von großer Lebensweisheit zeugende Inschrift:
»Wer will verachten mich und die Meinen,
Mag nur betrachten sich und die Seinen.
Wer sich und die Seinen wird recht betrachten,
Wird mich und die Meinen wohl auch nicht verachten.«
Nach einem flüchtigen Blick auf die Inschrift, die selbst im Zwielicht deutlich erkennbar war, wollte der Professor vorübergehen, der Pfarrer aber blieb stehen, zog seine Uhr heraus und sagte: »Noch nicht sechs Uhr. Gottlob, das Schlimmste ist überstanden. Der Fluß bildet die Grenze.«
Er ließ seine Blicke über die Umgebung schweifen. Die Brücke, ein einfacher Holzsteg, war leer. Einzelne Landleute zogen mit dem Pfluge vorüber, in den Wiesen unten am Flusse wurde Grummet gemäht. Nirgends zeigte sich der Anschein einer Gefahr.
»Drüben ist Weimarisches Gebiet,« fuhr er fort. »Ich darf jetzt beruhigt nach Hause gehen. Lassen Sie uns, ehe wir scheiden, noch einen Abschiedstrunk tun.«
Eine Falte legte sich auf des Professors Stirn.
»Kommen Sie,« sagte dieser, »ein warmer Trunk wird Ihnen, wie uns allen nach der nächtlichen Wanderung gut tun. Der Wirt hier – ich kenne ihn – ist ein guter hessischer Patriot, der verrät Sie nicht und außerdem, wer sollte Sie hier in der famosen Verkleidung erkennen? Hernach gehts mit frischen Kräften weiter. Übrigens sind Sie bereits so gut wie in Sicherheit. Der Katzensprung da über die Brücke hat nichts mehr zu bedeuten. Der Junge wird Sie begleiten. Kommen Sie!«
Unserem Freunde brannte der Boden unter den Füßen, aber er mochte auch dem Manne, der ihm ein so großes Opfer gebracht hatte, die Bitte nicht abschlagen. Zudem, warum sollte er dessen beruhigender Versicherung, daß die Gefahr überstanden sei, keinen Glauben schenken? Zögernd gab er nach.
Sie begaben sich ins Haus und traten in die niedrige Gaststube ein. Außer einer Magd, die gerade den Fußboden scheuerte, war niemand in dem Gemache zu sehen. Der Pfarrer fragte nach dem Wirte. Ein ältlicher Mann mit einem ernsten klugen Gesicht, mit einer blauweißgestreiften Zipfelmütze auf dem grauen Haupte, trat durch eine Seitentür ein. Den Pfarrer erblickend, nahm er die Mütze ab, grüßte und fragte, ohne seiner Verwunderung über den frühen Besuch Ausdruck zu geben, in gutem Hochdeutsch höflich nach seinem Begehr. Jener bestellte Grog. Der Wirt entfernte sich.
»Der Mann ist einer der Burschlaer Propheten,« raunte Sträubelein unserem Freunde zu. »Sie haben gewiß schon davon gehört?«
»Ah – einer von denen, die noch in kurfürstlichen Zeiten die baldige Wendung der Dinge prophezeit und dafür in Eschwege haben sitzen müssen?«
»Jawohl, in dem Türmchen am Dünzebacher Tore. Und voriges Jahr haben sie wieder gesessen, weil sie gewagt hatten, dasselbe dem Könige Jérôme und seinem Bruder zu prophezeien. Zuletzt hat man sie jedoch wieder laufen lassen, weil man glaubte, im Oberstübchen sei es bei ihnen nicht richtig. Da irren jedoch die hochweisen Herren; die sind, besonders unser Wirt hier, so klug, wie nur irgend ein Bauersmann sein kann.«
Nach einer Weile trat der Wirt, ein paar große Gläser mit dem dampfenden Getränk in den Händen, wieder ein. »Soll der Junge auch eins?« fragte er.
»Ein kleines,« antwortete Sträubelein, »wir haben einen nassen Weg hinter uns.«
Er rührte mit dem Quirl den braunen Zucker – eine durch die Kontinentalsperre, die keinen weißen Zucker ins Land ließ, verursachte neue Erfindung – in seinem Glase um, versuchte das Getränk und sagte: »Der Grog ist viel zu schwach. Bringen Sie uns, bitte, die Rumflasche.«
Sein Begleiter sah verwundert auf – ihm war das Getränk gerade stark genug –, sagte aber nichts. Eine bedrückende Ahnung stieg in ihm auf.
Der Wirt brachte das Verlangte. »Sie haben schon eine frühe Wanderung gemacht, Herr Pfarrer,« sagte er. »Wohin geht die Reise?«
»Ich begleite nur unsern Besuch,« erwiderte Sträubelein, goß, mit den Augen blinzelnd, sich Rum zu, so viel das Glas fassen wollte und schob die Flasche unserem Freunde hin, der sie jedoch unberührt stehen ließ. »Ein Rittergutsbesitzer,« fuhr jener fort, »ein Herr von Wildungen aus der Gegend von Mühlhausen, wissen Sie; er möchte sich auf der Rückreise gern einmal die schönen Berge hier herum ansehen. Wir mußten früh aufbrechen, weil er Eile hat, noch heute nach Hause zu kommen.«
»Bei solchem Wetter?« fragte der Wirt. Mit ruhig forschendem Ausdruck richtete er das graue Auge auf den fremden Gast.
»Gerade bei solchem Wetter,« nahm der Professor lächelnd das Wort, »machen die Berge mit ihren alten Ruinen und schönen Felspartieen auf das Gemüt oft den gewaltigsten Eindruck.«
»Hm, Berge sind Berge,« meinte der Bauer und zuckte die Achseln.
»Sonst nichts neues, Meister Andres?« fragte der Pfarrer.
»Ich wüßte nit,« äußerte jener, »außer, wenn Sie das wissen wollen, daß im Schlierbach und auch hier herum, in den Wäldern bei Großburschla, seit gestern wieder so viele westfälische Gendarmen herumstreifen. Ob sie wieder jemand auf der Fährte sind?«
»So? Was hat das Volk denn bei Großburschla zu tun? Das Dorf ist ja Weimarisch.«
»Was fragen die danach?« versetzte der Wirt. Sein Blick fiel wieder auf den vermeintlichen Gutsbesitzer, der sichtlich erschrocken mit großen Augen ihn anstarrte.
»Prosit, auf eine schone Aussicht!« rief der Pfarrer und stieß mit dem Flüchtlinge an.
»Prosit,« erwiderte dieser und schlürfte von dem heißen Getränk. Der Pfarrer kostete, goß noch einmal Rum hinzu und trank dann das Glas mit einem Zuge leer.
»Wie das wärmt!« sagte er und bat um ein zweites Glas. Der Wirt war kaum hinaus, das Verlangte zu holen, als die Haustür von außen geöffnet ward. Der Professor sah unruhig auf. Tritte stapften über den Flur, die Magd öffnete und ein untersetzter Mann mit einem Schnapsgesicht, dessen Kleidung den Metzger oder Viehhändler verriet, trat mit einem lärmenden: »Guten Morgen!« über die Schwelle. Unser Freund atmete beruhigt auf, der Pfarrer aber hatte kaum einen Blick auf den Eintretenden geworfen, als er, einen Ausdruck leisen Erschreckens im Antlitz, seine breitschirmige Mütze tiefer in die Stirn zog, den Arm auf den Tisch stemmte und, das Gesicht mit der Hand bedeckend, etwas vor sich hinmurmelte, das sein Begleiter nicht verstand.
Mit einem verwunderten Blick auf die Anwesenden ließ sich der neue Gast geräuschvoll hinter der zweiten Wirtstafel, den Fremden schräg gegenüber nieder. Soeben trat der Wirt wieder ein. Sein Auge streifte den neuen Gast.
»Nu, Meister,« sagte er, »de hot üch jo früh herüsgemohcht; wie gett's?«
»Wie sall's gegehn?« erwiderte der Ankömmling mit rohem Lachen; und schielte dabei nach den neuen Gästen hin. »Immer uf zwei Beinen, wie bi angern Lüten äu. Gebt mich en Männchen Brahndewin!«
Der Wirt stellte mit dem Wunsche: »Wohl bekomms!« den Grog vor den Pfarrer hin und wandte sich, den neuen Gast zu befriedigen, dessen Blicke fortwährend mit einem Ausdrucke heimlicher Neugier die Anwesenden musterten. Unserm Freunde ward es unter diesen Blicken nachgerade unbehaglich. Wie auf heißen Kohlen sitzend, sah er dem Pfarrer zu, der anscheinend mit höchstem Gleichmute den Zucker im Glase rührte.
»Christine!« rief der Wirt, der in einem Schranke herumkramte.
Des Wirtes Gattin, eine korpulente Frau, mit einem roten runden Gesichte, mit einem jener eigentümlichen spitzen Häubchen mit breiten Bändern auf dem Kopfe, wie sie noch jetzt hie und da von den Frauen jener Gegend getragen werden, trat unter die Tür, knixte nach den Gästen hin und fragte: »Was sull's, Andres?«
»Der Brahndewein hie eß alle,« sagte ihr Eheherr, »kannst mich mol en angeres Faß angestechen.«
Die Frau wollte sich entfernen, mit einem leisen Schreckensrufe fuhr sie wieder herum. Der neue Gast war aufgesprungen – fast hätte er bei der heftigen Bewegung den Tisch umgerannt –; dicht vor die Fremden hintretend, rief er überlaut: »Verdowweri, das eß mich ja, weishaftig, der Herr Pfarr Streibelein. Ich weßte doch glich, daß ich Sie gekennte. G' Morgen äu!«
Er streckte dem Pfarrer die Hand entgegen.
»Guten Morgen, Meister Hellmut!« versetzte dieser ruhig mit ernsthaftem Gesicht und zog, ohne die dargebotene Hand zu beachten, seine Mütze. »Was führt Sie so früh denn heraus? Wollen Sie auch den Vormannstein bei Treffurt besuchen?«
»Den Vormannstein?« rief der Metzger gedehnt. Verblüfft und ärgerlich zugleich zog er langsam die Hand zurück. »Nä, ich bin nur hie, mich en Kalb zu gekäufen.«
Ein furchtbares Erschrecken malte sich auf dem Gesicht des Professors. Der Name Hellmut, die Erwähnung des Kalbes rief ihm mit einemmale die Scene im Chausseehause ins Gedächtnis zurück. Im Augenblick wußte er, was er von dem Eingetretenen zu halten hatte, zugleich aber auch, in welcher Gefahr er schwebte, wenn er von dem Manne erkannt wurde. Unwillkürlich zog er den Rockkragen um sein Gesicht.
Der Metzger hatte seinen Platz wieder eingenommen. Auf einmal blitzte es in seinen wässerigen Augen auf. Mit einem schadenfroh lauernden Blick richtete er an den Pfarrer in denkbar frechstem Tone die Frage: »Bi dem Kalwe, Herr Pfarr, fällt mich was in: eß es denn wohr, was sich die Lüte verzählen, Se hätten schun emol in der Besoffenheit en Kalb för en Kind getäuft?«
Hatte der Fragende jedoch gehofft, die Lacher auf seiner Seite zu haben, so irrte er sich. Der Wirt und seine Ehehälfte standen sprachlos wie Bildsäulen ob solcher Frechheit. Mit großen Augen starrten sie bald den Pfarrer, bald den Metzger an. Auch unser Freund war betroffen. Was sollte er von dem bis dahin so hoch von ihm geachteten Geistlichen denken, wenn ein Mensch wie dieser Hellmut sich eine solche Bemerkung erlauben durfte? Gespannt wartete er, welche Antwort der Gefoppte dem frechen Menschen erteilen würde.
Um den Mund des Pfarrers zuckte es wie Wetterleuchten. Tausend Kobolde lauerten hinter seiner gerunzelten Stirn, in den Linien seines faltigen Gesichts, sprühten aus seinen Augen.
»Daß ich nicht wüßte,« begann er langsam, wie sich besinnend, »aber ja, dessen erinnere ich mich noch ganz genau: ich war dabei, wie einst mein Vater selig dem alten Meister Hellmut in der Viehgasse in Eschwege ein Eselein getauft hat. Aus dem Eselchen ist mittlerweile, wie ich sehe, ein recht großer Esel geworden.«
Ein schallendes Gelächter folgte den Worten. Der Wirt, seine dicke Ehehälfte, des Pfarrers Sohn, die Magd, selbst unser ernster Freund, alle lachten. Die Wirtin hielt sich, während sie hinausging, lachend die Seiten; noch aus der Küche drangen die Ausbrüche ihrer Heiterkeit herüber.
Mit offenem Munde, puterrot vor Ärger, starrte der Metzger die Gesellschaft an. Sein Blick fiel auf den Begleiter des Pfarrers. In seinem Gehirn dämmerte ein seltsamer Verdacht. Er stand abermals auf. »Heda, Sie,« wandte er sich unvermutet an unsern Freund, »zeigen Se mich doch emol Ehren Paß!«
»Ich – meinen Paß?« gab jener in anscheinender Entrüstung, innerlich jedoch tätlich erschrocken, zurück, »was fällt Ihnen ein?«
Aber so leichten Kaufes ließ sich jener nicht abspeisen.
»Was mich infällt!« rief er zornig. »Gäwen Se mich nit uf der Stelle Ehren Paß, so rufe ich den Gendarmen rin, der äwen ins Dorf rin eß, un verrote dem, wer Se sinn – der Brofesser von Grandenborn, uf den de Bolezei vigeliert, verstenn Se mich?«
Friedrich war starr. Blaß vor Schreck und Entrüstung besann er sich auf eine passende Antwort; der Pfarrer kam ihm zu Hilfe. Statt seiner das Wort ergreifend, rief dieser: »Der Professor von Grandenborn? Potz Tausend, was hat mein Freund hier, der Rittergutsbesitzer von Wildungen, mit einem Professor zu tun? Wissen Sie, Hellmut« – er richtete sich in seiner ganzen stattlichen Länge empor und sah dem Menschen mit einem zornsprühenden Blicke ins Auge – »wenn sie nicht aufhören, anständige Menschen zu belästigen, so werde ich, der Pfarrer Sträubelein, Ihnen zeigen, wo Barthel den Most holt. Hinaus!«
Er wies gebietend nach der Tür. Seine drohende Stimme, der fürchterliche Blick, womit er die Worte begleitete, seine ganze drohende Haltung hatten denn doch einige Wirkung. Der Unhold prallte zurück.
»Hellmut,« rief plötzlich eine Stimme, »kommen Se doch mol herühs!«
Es war der Wirt, der, unvermerkt durch die Seitentür verschwunden, die Worte hereingerufen hatte.
»Was soll ich?« rief der Metzger unschlüssig zurück.
»Na, kommen Se nur. Se wun doch en Kalb gekäufen, ich hon gerade eins im Stalle. Erscht awwer süllen Se mol hie dissen ahlen Nordhüser prowieren.«
Der Metzger schwankte; schließlich aber war doch die Aussicht auf einen guten Trunk zu verlockend, als daß er dem Rufe nicht hätte Folge leisten sollen. Der verdächtige Gutsbesitzer entging ihm darum noch lange nicht. Mit einem Blick auf die beiden Männer, in dem sich Furcht und Wut zu gleicher Zeit spiegelten, ging er zögernd ab.
Die Blicke der Zurückbleibenden folgten ihm. Auf einen Wink des Pfarrers zog Rudolf, auf den Zehen hinzuschleichend, leise die Tür hinter dem Metzger zu.
»So – und nun schnell hinaus,« flüsterte Sträubelein, »die Zeche berichtige ich nachher.«
»Bitte, das ist meine Sache, Herr Pfarrer,« gab Friedrich leise zurück. Er stand auf, und drückte der Magd, die mit großen Augen der Entwickelung dieser Scene gefolgt war, ein Fünffrankenstück in die Hand. »Unsere Zeche,« flüsterte er; »was übrig bleibt, ist für Dich.«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Sie verließen geräuschlos die Stube.
In größter Eile schritten sie über die Brücke. Plötzlich hörten sie hinter sich ein lautes: »Halt! Heda, wun Se woll gewarten!«
Der Metzger war aus dem Hause gestürzt. Voll Ärger, daß ihm der Vogel entschlüpft war, nahm er in vollem Laufe die Verfolgung auf.
Ohne sich umzusehen, beschleunigten die drei ihre Schritte. Immer näher kam der Verfolger.
»Was machen wir?« fragte der Professor beklommen. »Hätte ich nur ein Pistol zur Hand, den frechen Kerl uns vom Leibe zu halten!«
»Hier ist eins,« rief Rudolf. Zur großen Überraschung der beiden Männer zog er ein kleines Terzerol aus der Tasche.
»Gib mirs, mein Junge,« bat der Flüchtling. »Ist's auch geladen?«
Der Knabe nickte und reichte ihm verstohlen die Waffe. Der Pfarrer, der inzwischen alle möglichen Möglichkeiten in seinem Kopfe erwogen hatte, ohne aus dieser fatalen Klemme einen Ausweg zu finden, machte ein verdutztes Gesicht. Wo hatte der Blitzjunge das Pistol auf einmal her? »Ein Geschenk, Vater, von meinem Spielkameraden Eduard von Kurdell,« sagte Rudolf, der seinen verwunderten Blick aufgefangen hatte: »ein Glück, daß ich sogleich dran dachte, als Sie mich heute Morgen weckten.«
Der keuchende Verfolger war inzwischen bis auf wenige Schritte herangekommen. Plötzlich wandte sich Friedrich und erhob das Pistol.
»Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle Kehrt machen,« rief er, den Finger am Drücker, blitzenden Auges, »so schieße ich Sie nieder, wie einen räudigen Hund! Ich werde Sie lehren, friedliche Leute zu belästigen!«
Der Verfolger prallte zurück. »Dunnerwehre!« An so ein Ding wie eine Pistole hatte er allerdings nicht gedacht. Wie ein Tiger im Käfige glotzte er bald den Flüchtling, bald die drohende Waffe an. »Herr, Se wären doch nit geschießen?«
»Zurück Mann,« rief jener mit dröhnender Stimme, »oder ich gebe auf der Stelle Feuer! Herr Pfarrer Sträubelein ist Zeuge, wie Sie mich zur Notwehr gereizt haben. Wird's jetzt?«
Der Unhold besann sich nicht länger. Wie ein wildes Tier, das vor dem entschlossenen Blicke des Menschen die Flucht ergreift, ging er rücklings, anfangs langsam, dann immer schneller zurück: zuletzt wandte er sich und floh, als hätte er Feuer hinter sich, ins Dorf zurück.
Mit beschleunigten Schritten eilten jene den Grund entlang.
»Dummes Zeug,« brummte Sträubelein, »an den Burschen, den Hellmut, hätte ich mein Lebtag nicht gedacht. Na, und gut war's doch, daß wir bei dem Propheten eingekehrt sind. Was der von den Gendarmen sagte, das sollte, ich habe es wohl bemerkt, eine Warnung sein. Sah Sie nicht umsonst so merkwürdig an, der schlaue Andres. Die Gegend von Großburschla müssen wir meiden. Ich rate, wir schlagen uns jetzt in die Büsche und steuern auf den ›Kessel‹ bei Weisenborn zu. Den schuftigen Franzmännern wollen wir schon ein Schnippchen schlagen.«
Sie wandten sich seitwärts und eilten in den Wald. Kaum hatten sie jedoch einige hundert Schritte im Gebüsch bergaufwärts zurückgelegt, so wurde es unten im Tale vor dem Dörflein lebendig. Stimmen tönten aus dem Grunde herauf. Die Schnitter schienen jemand, der von drüben kam, eine Antwort zu geben. Betroffen sahen unsere Freunde zurück. Ihre Blicke suchten die wallende Nebelflut zu durchdringen. Gestalten bewegten sich über die Brücke. Uniformen tauchten aus dem Nebel auf und blinkende Waffen.
Des Pfarrers Miene verfinsterte sich. »Der Schuft,« murmelte er, »so hat er uns richtig die Gendarmerie auf den Hals gehetzt!« Er kämpfte mit einem Entschlusse.
»Junge,« wandte er sich plötzlich an Rudolf, »Du kennst doch den Weg zum Kessel?«
»Ja, Vater.«
»Und von Weisenborn, immer im Walde an Rambach vorüber nach Wolfmannsgehau?«
Der Junge nickte.
»Gut, ich verlasse mich auf Dich.«
Sträubelein reichte dem Flüchtlinge die Hand. »Herr Professor, leben Sie wohl,« sagte er. »Nach der Begegnung da mit dem Hellmut gedachte ich eigentlich Sie noch weiter begleiten zu müssen; aber es ist besser, ich gehe zurück. Ich schlage mich seitwärts durch den Wald und gehe dann, als käme ich von Großburschla, direkt den Leuten entgegen. Will sehen, sie auf eine falsche Fährte zu bringen. Behüt' Sie Gott!«
Bewegt drückte Friedrich des Pfarrers Hand. »Lieber Herr Pfarrer, leben Sie wohl! Gott vergelt' Ihnen alles!«
Der Pfarrer entfernte sich eilig. Einen Seitenweg einschlagend, verschwand er im Walde. Die Zurückbleibenden beschleunigten ihre Schritte. Rudolf wußte Bescheid. Wieder und wieder schlug er Richtwege ein, die, über die Höhe führend, beide rasch ihrem vorläufigen Ziele näher brachten. Die Stimmen im Tale waren verstummt, von den Gendarmen nichts mehr zu sehen. Ob des Pfarrers List gelungen war?
Ungefährdet erreichten beide den »Kessel«, jenen tiefen Taleinschnitt, der zwischen der Kraburg und dem Heldrastein sich ins Gebirg hineinschmiegt. Oberhalb Weisenborn bogen sie, die Feldmark des Dorfes vermeidend, zur Linken um und stiegen, Rambach seitwärts lassend, über Stock und Stein, durch Wälder und Schluchten, das Gebirge hinan. Ein paar Bäche kreuzten ihren Pfad; sie wateten ohne Weiteres hindurch.
Endlich sahen sie die ragende Felsmauer des Heldrasteins vor sich, Nebelschwaden flogen wie ein wallender Schleier an den Abhängen hin, aber die Höhen glänzten im Sonnenlicht. Gleich Myriaden funkelnder Diamanten schimmerte von Bäumen und Sträuchern der Tau. Die Sonne, die seither, durch den Nebel verdeckt, nur wie eine mattgelbe Scheibe am Himmel gestanden hatte, schien allmählich den Sieg über die wogenden Nebelmassen davonzutragen. Der Tag versprach schön zu werden.
Doch noch waren nicht alle Hindernisse überwunden. Im Begriffe, den letzten der steilen Gehänge zu ersteigen, hörten unsere Wanderer plötzlich einen Ton, der sie erschreckte. Stimmen wurden laut und Waffen klirrten vor ihnen im Gehölz.
»Da sind sie wieder,« flüsterte der Junge. »Schnell hier hinauf!«
Eine schmale Schlucht, an deren Rändern Hagebuttenstauden, vermischt mit Brombeergenist, wucherten, zog sich seitwärts die Höhe hinan. Wie eine Gemse begann der Knabe, unter den Dornen hinwegschlüpfend, den Abhang emporzuklettern. Nur mit Mühe vermochte der Flüchtling zu folgen. Endlich waren sie oben. Sie traten aus dem Dickicht und sahen sich um. Eine bewaldete Hochfläche dehnte sich vor ihnen aus. Aus der Ferne hörten sie Stimmen. Der Knabe warf sich auf die Erde, drückte das Ohr an den Boden und lauschte.
»Der ganze Wald,« flüsterte er, indem er sich erhob, und machte ein betroffenes Gesicht, »steckt voll Gendarmen. Was machen wir? Hier oben läuft die Grenze vorüber und der Weg nach Wolfmannsgehau. Aber wie kommen wir hinüber? Wo in aller Welt kommen nur auf einmal die vielen Gendarmen her?«
Der Flüchtling seufzte. »Ja, wo kommen sie her?«
Die zogen sich wieder in das Dickicht zurück.