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In den Beziehungen des Kantonmaires zu Emilie und ihrer Mutter hatte sich in der Zwischenzeit nichts geändert. Mit einer Spannung, die nicht frei von Besorgnis war, hatte er seiner Zeit den Verlauf der polizeilichen Nachforschungen verfolgt. Er wußte es wohl: wenn Friedrich gefangen wurde, so hatte er das Spiel bei Emilie für alle Zeiten verloren. Völlig ruhig war er erst wieder geworden, als die gänzliche Erfolglosigkeit jener Bemühungen zur Gewißheit geworden war. Dennoch war er seinem Ziele bei der jungen Dame auch nicht um einen Schritt näher gekommen. Der Ermahnungen der Mutter eingedenk, beobachtete Emilie wieder mehr und mehr eine vorsichtige ruhige Freundlichkeit, seinen Werbungen aber wich sie geflissentlich und mit solchem Geschick aus, daß der unglückliche Liebhaber niemals den Mut fand, das entscheidende Wort auszusprechen. Gleichwohl gab er die Hoffnung, sie zu gewinnen, nicht auf. Ihre Sprödigkeit reizte ihn; statt seine Empfindungen abzukühlen, entfachte sie vielmehr seine Gefühle je länger je mehr zu leidenschaftlicher Glut. Je ablehnender sich Emilie zeigte, desto mehr setzte sich bei ihm der Entschluß fest, keine andere als eben sie einst heimzuführen als sein ehelich Weib. Da er recht wohl erkannte, daß der tiefere Grund ihrer Abneigung in ihrer von der seinigen so grundverschiedenen Geistesrichtung lag, so hatte er es sich in den Kopf gesetzt, um jeden Preis dieses Hindernis aus dem Wege zu räumen. So oft sich die Gelegenheit bot, malte er den beiden Frauen die Vorzüge der Napoleonischen Aera vor Augen, suchte er sie für die Ideen, für die er schwärmte, vor allem für die Idee einer allgemeinen weltbeglückenden Menschen- und Völkerverbrüderung, zu erwärmen. Seine Ausführungen hörten die Frauen meist schweigend an, doch gab es auch, wenigstens mit Emilie, zuweilen scharfe Auseinandersetzungen, sodaß die Mutter, gereifter und weniger leidenschaftlich in ihrem Fühlen und Denken als die Tochter, nachher oft Mühe hatte, die Erregte zu beschwichtigen. Sie selbst blieb, mochte auch Kurt sich ereifern, so viel er wollte, immer gleichmäßig ruhig und gefaßt. Und gerade an dieser Ruhe prallten alle seine Bemühungen ab wie an einer ehernen Mauer. Wie oft ertappte er sich dabei, daß er, von einem ihrer stets treffenden Einwände wie von einem Pfeile getroffen, mitten in seinen großsprecherischen Reden abbrechen mußte, weil er tatsächlich nichts mehr zu sagen wußte. Mit ihrem ganzen Sein und Denken wurzelnd in dem Worte Gottes, hatte sie es gelernt, aus dieser unerschöpflich reichen Rüstkammer der Wahrheit immer dasjenige Wort zu entnehmen, das wie eine scharfgeschliffene Waffe auch das festeste Gefüge seiner Beweisführung, den Knoten seiner scharfsinnigsten Einwände oft mit einem einzigen Streiche durchschnitt. Es war die Macht der Wahrheit, die ihn verstummen machte; aber weit entfernt, dieser Macht sich zu beugen, reizte ihn der erfahrene Widerstand, das Gefühl der erlittenen Niederlage nur um so mehr, seine Angriffe immer von neuem zu wiederholen So geschah es auch eines Abends im Herbste des Jahres 1811. Das Mahl war soeben abgetragen worden, als er, im Begriff, in die Loge zu gehen, mit einem Blicke durchs Fenster die Bemerkung hinwarf:
»Was die Leute in der Stadt noch so rückständig sind! Da wollen sie in dem großen Kometen, der dort am Himmel steht, wieder ein himmlisches Zeichen, eine unglückliche Vorbedeutung für den Bestand des Kaiserreiches erblicken, dieses Riesenreiches, das einen Napoleon zum Schöpfer und Herrn hat!«
Die Frauen schwiegen.
»Wenn doch einmal der dumme Aberglaube auszurotten wäre!« hob er, halb geärgert durch dieses vielsagende Schweigen, von neuem an. »Gaffen die Leute nach Kometen und Himmelszeichen; sollten dem Himmel danken, daß er ihnen in diesem Gewaltigen einen Stern hier auf Erden hat aufleuchten lassen – einen Stern des Heils, den sie anzubeten alle Ursache hätten.«
»Sprich nicht so blasphemisch, Kurt,« bemerkte Emilie in scharfem, verweisendem Tone.
»Blasphemisch, ma belle Emily? Ist das blasphemisch geredet, wenn man den Helden, den Gottgesandten, der von der Vorsehung ausersehen ist, die Ideen des reinen Menschentums ihrer Verwirklichung zuzuführen, einen Stern des Heiles nennt?«
»Es gibt nur einen Stern des Heiles, Kurt,« nahm die Mutter das Wort und sah ihn ernst, doch liebevoll an, »unsern Herrn Jesum Christum, der gekommen ist, die Sünder selig zu machen.«
»Wieder das alte Lied, chère maman?« fragte Kurt mit überlegenem Lächeln. »Glauben Sie, auch ich verehre die ideale Gestalt dieses Jesu hoch. Jedenfalls hat Jesus das unbestrittene Verdienst, den Menschen den Adel ihrer göttlichen Abstammung wieder zum Bewußtsein gebracht zu haben. Seine Lehre, daß alle Menschen Brüder, alle Kinder eines allwaltenden himmlischen Vaters und als solche gleich und frei geboren seien, finde ich erhaben. Aber wer hat diese Lehre seither beachtet? Es ist das Verdienst der Loge, das Verdienst der französischen Nation, sie aus dem Schutte der Nichtachtung und Vergessenheit wieder ausgegraben, sie ins Leben übersetzt, ins Bewußtsein der Völker übergeführt zu haben.«
»Was Du da für Christi Lehre erklärst,« bemerkte Emilie kühl, »daß alle Menschen dem allmächtigen Gott ihr Dasein verdanken, das haben auch ohne ihn schon die Menschen gewußt, das hat auch jener heidnische Dichter gewußt, dessen Worte der Apostel Paulus in seiner Predigt an die Athener erwähnt: ›Wir sind seines Geschlechts.‹ Die Lehre Christi, das solltest Du wissen, ist etwas ganz anderes. Er hat uns das Evangelium, jene wunderbare Lehre gebracht, daß wir, durch sein Verdienst erlöst, einen gnädigen Gott haben. Die an Christum glauben, Christi Verdienst glaubend ergreifen, die sind Gottes Kinder; die andern aber, die Ungläubigen, sind laut der Schrift ›Schandflecken und nicht seine Kinder‹.«
»Danke schön, ma belle Emily, für den Hieb!« versetzte der Kantonmaire und lachte. »Als ein Weltkind, das sich zu dieser idealen Anschauung nicht erheben, das einmal nicht glauben kann, daß nicht eigene Tugend, sondern ein fremdes Verdienst solle die Wirkung haben, uns dem Allvater der Welt lieb und wert zu machen, stehe ich also in deinen Augen als ein greulicher Schandfleck da.«
Entrüstet über den Spott wandte sich Emilie ab.
»In der Tat, Kurt,« ließ sich die Matrone sehr ernst und sehr ruhig vernehmen, »Du bist in einem ganz verhängnisvollen Irrwahn befangen mit dieser Deiner Idee eines reinen durch keine Klassen-, Standes- und Volksunterschiede getrübten Menschentums, mit Deiner Theorie einer allgemeinen Welt- und Völkerverbrüderung nach dem von der Jakobinerloge ausgegebenen Rezept: ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹. Wie ist es nur möglich, frage ich mich oft, daß ein Mensch von gesunden Sinnen einen so heillosen Irrtum nicht durchschauen, so hartnäckig eine Idee verfechten kann, die allem gesunden Menschenverstande geradezu Hohn spricht? Die Unterschiede in der Welt – höre wohl, in der Welt – sind, durch Gottes Schöpfung und Ordnung gesetzt, doch einmal da; den Unterschied von Mann und Weib, von Eltern und Kindern, den Unterschied der Rassen- und Volkseigentümlichkeiten, den Unterschied der Individuen nach Gaben und Kräften, nach ihrer ganzen Geburtsanlage schafft Dir keine Theorie, keine menschliche Klugheit hinweg; mithin wird es auch Höhere und Niedere, Herrschende und Beherrschte, Herren und Knechte, wird es verschiedene Stände, eine Mehrheit abgegrenzter Staatswesen, verschiedene Staatseinrichtungen geben, so lange die Welt besteht, und wer daran rütteln will, der zerstört die Säulen, auf denen die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ruht. Oder wagst du zu leugnen, Kurt, daß gerade diese Zergliederung, diese anscheinend so bedauerliche Zerklüftung das Band ist, das die Welt noch einigermaßen zusammenhält, daß sie bei der angeborenen Selbstsucht der menschlichen Natur nicht vollends in Atome zerstäubt? Kannst Du bestreiten, daß gerade diese Ungleichheit ergänzend und ausgleichend wirkt, daß gerade die Abhängigkeit und Gebundenheit, in der sich die Menschen in den verschiedenen Lebensverhältnissen befinden, wie nichts anderes der Selbstsucht, den ausschweifenden zentrifugalen Neigungen des Individuums Schranken setzt, die verschiedenen Kräfte wie ein eisernes Band zu gemeinsamem Wirken zusammenschließt, die Einzelnen zwingt, mit ihren Gaben dem Wohle der Gesamtheit zu dienen? Ist es nicht Tatsache, daß diese gegenseitige Abschließung, wie sie die Gruppierung in Familien, Geschlechter, Stämme und Nationen, in Stände und Staaten mit sich bringt, die Menschheit vor sittlicher Fäulnis bewahrt, indem sie die besondern Familien-, Standes- und Volkssünden lokalisiert, in engere Grenzen bannt und so für die Allgemeinheit unschädlich macht? O dieser Wahn, von Freiheit und Gleichheit zu reden in einer Welt, die von den Sklavenketten der Sünde gebunden ist! ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ – mein Gott, wie denkt Ihr Logenbrüder Euch das nur eigentlich? Wollt Ihr die Welt zum Paradiese machen? Ihr wollt eine Art Himmelreich aufrichten auf Erden und beruft Euch dafür auf Christi Wort. Aber, lieber Kurt, mit dem Reiche, das Christus im Auge hat, das zu gründen Christus gekommen ist, ist's ein ganz, ganz ander Ding. Da, im Reiche der Gnade, ist Freiheit, da ist Gleichheit und Brüderlichkeit, aber in der Welt? O Kurt, werde doch einmal, einmal nüchtern! Wie war's denn in Frankreich? Der Verlauf der großen Revolution mit ihren grausigen Menschenschlächtereien und dem entsetzlichen Despotismus der Terroristenpartei, die Kriege, in die der gewaltsame Versuch, die jakobinische Losung ins Leben umzusetzen, die Völker gestürzt hat, zuletzt die Umwandlung der Republik in ein säbelrasselndes Caesarentum – welch ein Hohn, welch ein schneidender Hohn sind sie auf alle diese Theorien, für die du schwärmst! Das, das sind Eure vielgepriesenen Menschenrechte, Eure freimaurerischen Ideen. Eine Welt, erfüllt mit Blut und Mord, eine Welt, in der die nackteste, schrankenloseste Selbstsucht das Szepter führt, einer den andern bei Seite zu schieben, zu tyrannisieren und zu knechten sucht, das ist der Tempel, an dem Ihr Logenbrüder baut – der ›Tempel Salomos‹ in seiner wahren Gestalt. Aber so narrt der Teufel die Welt … O Kurt,« fuhr sie mit tränenfeuchten Augen fort, »wenn Du doch sehen wolltest, welch ein verderblicher Irrtum es ist, Gnade und Natur zu verwechseln, wie es so schrecklich sich rächt, wenn man auf die Natur, auf die äußeren, irdischen Verhältnisse, die natürlichen Beziehungen des Völkerlebens das übertragen will, was allein im Reiche Christi, im Reiche der Gnade Geltung hat, dort allein trotz allen äußeren Unterschieden, trotz allen Gegensätzen der Menschen- und Völkerwelt – und zwar schon längst – Wahrheit und Wirklichkeit ist. ›Mein Reich,‹ spricht unser Herr, ›ist nicht von dieser Welt.‹ Glaube mir, wer die Ordnung, die im Reiche Christi, im Reiche der Gnade, herrscht, auf die Verhältnisse der Welt übertragen will, der erzielt nichts anderes damit, als daß aller Verwirrung und Unordnung, der Zerrüttung aller Verhältnisse der Boden bereitet wird und am Ende alles über den Haufen stürzt.«
Mit sichtlicher Ungeduld, wenn auch in achtungvollem Schweigen, hatte Kurt zugehört. Wiederholt zuckte er zu den Worten der Mutter die Achseln. »Ich weiß es, chère maman,« erwiderte er, »daß vor Ihren Augen die Loge keine Gnade findet. In diesem Stück ist einmal nicht mit Ihnen zu streiten. Sie verstehen einfach unsere Bestrebungen nicht. Wo, sagen Sie mir, sind diese Christen, wo ist dieses Reich, dessen Glieder dieses erhabene Vorbild einer allgemeinen Verbrüderung geben? Zeigen Sie es mir! Aber« – er brach plötzlich ab und sah nach der Uhr – »wir vertrödeln die Zeit. Ich muß gehen.« Er beugte sich zu der Matrone nieder und küßte galant ihre Hand. »Leben Sie wohl, chère maman! Alle Achtung übrigens vor ihrer Beredsamkeit! Ich bezweifle, ob einer unserer Pfarrherrn im Stande wäre, so gut zu predigen wie Sie, parole d'honneur!«
»Geh, Kurt,« sagte die Mutter mit vorwurfsvollem Blick und entzog ihm die Hand, »mit solchem frivolem Spott gedenkst Du dem Stachel der Wahrheit zu entschlüpfen? Laß Dich warnen, mein lieber Sohn! Möchte es nicht zu spät sein, wenn Dir eines Tages die Augen aufgehen werden. ›Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten‹.«
Dem Kantonmaire ward's unbehaglich. Er empfahl sich und ging seiner Wege.
Die Stimmung in Stadt und Land war mittlerweile immer düsterer geworden. Der ungeheure Druck, den die Abgaben, die Kriegskontributionen, der Unterhalt des westfälischen und französischen Militärs, die vielen Truppendurchzüge, die Schikanen der Polizei und die unausgesetzt sich wiederholenden Belästigungen aller Art ausübten, hatten eine Gährung erzeugt, die das Schlimmste befürchten ließ. Schier alle Klassen der Bevölkerung waren ruiniert, das Königreich stand am Rande des Unterganges. Nun würde man immerhin dem jungen Könige Unrecht tun, wenn man die Schuld dieses finanziellen und wirtschaftlichen Niederganges seiner Staaten allein auf sein Konto schreiben wollte. Man kann nicht sagen, daß es ihm an wohlwollendem Verständnisse für die Not des Landes gefehlt hätte. Im Gegenteil: er hatte in gewissem Sinne ein Herz dafür. Durch energische Vorstellungen suchte er bis zum letzten Augenblicke die stetig sich steigernden Auflagen abzuwehren, mit denen sein kaiserlicher Bruder, im Kriege mit Spanien und England und in der Vorbereitung auf den russischen Krieg begriffen, die ohnehin so hartgedrückte Bevölkerung des Königreiches vollends überbürdete. So hatte er auch mit aller Kraft sich der Einführung der Douanenlinien widersetzt, weil die Unterbindung fast jeden Verkehrs mit dem Auslande dem Reiche fortgesetzt die größten Schädigungen zufügte, und wiederholt war es dabei zwischen ihm und dem Kaiser zu ernstlichen Zerwürfnissen gekommen; aber bei seiner Abhängigkeit von Napoleon – einer Abhängigkeit, die er selbst je länger je drückender empfand – vermochte er keine Erleichterung zu schaffen. Dazu kam, daß er, leichtlebig, genußsüchtig und verschwenderisch wie er war, mit keinem Gedanken daran dachte, sich selbst und seinem Hofe Beschränkungen aufzuerlegen. Die maßlose Verschwendung des Kasseler Hofes war selbst einem Napoleon ein Dorn im Auge, wie hätte sie vollends die Sympathien seiner Untertanen dem Könige erwerben sollen? Je mehr die Aussicht auf neue kriegerische Verwickelungen wuchs, desto mehr offenbarte sich auch die Mißstimmung der Bevölkerung. Bald hier, bald da kam man wieder Verschwörungen auf die Spur; jeden Augenblick befürchtete man Ausbrüche der Unzufriedenheit, sodaß man in Kassel schon im Dezember 1811 jede Nacht drei gesattelte und aufgezäumte Pferde für Jérôme, sechs Pferde für den Wagen seiner Gemahlin und eine Abteilung der Garde zum Schutze des Königspaares bereitzuhalten sich veranlaßt sah. Das Volk knirschte in seinen Ketten.
Auch im Werratale gährte es gewaltig. Zu allem politischen Elend hatte sich in diesen Gegenden im Frühjahr 1812 noch ein drückender Mangel an Lebensmitteln gesellt; die Ernte des vergangenen Jahres war schlecht gewesen und auch für dieses Jahr stand wieder eine schlechte Kartoffelernte in Aussicht. Die Abgaben aber mußten geleistet werden; was wunder, wenn das Volk das Joch der Fremdherrschaft immer unerträglicher fand? Immer lauter machte sich der Groll der Bevölkerung in Worten und Taten Luft, und die Strenge, womit die Behörden, der verblendete Kantonmaire vorab, jeder Äußerung des Unwillens begegnete, machte das Übel nur ärger. Als endlich Napoleons Krieg gegen Rußland ausbrach, als in diesem furchtbaren Kriege der Moloch seines unersättlichen Ehrgeizes neue ungezählte Opfer an Gut und Blut verschlang, da erreichte die Mißstimmung ihren Gipfel. Jeden Augenblick drohten Volkserhebungen auszubrechen. Die abenteuerlichsten Gerüchte schwirrten durch das Land und fanden Glauben. Die Polizei war in unausgesetzter Tätigkeit. Der Polizeipräfekt Bongars in Kassel wollte bestimmte Nachricht haben, daß der Leiter des Aufstandes von anno 9, Oberstleutnant von Dörnberg, als polnischer Jude verkleidet, wieder im Lande sei und im Werratale sein Wesen habe. Wie Gewitterschwüle lag es auf den Gemütern.
Unter solchen Umständen brach der Winter, der furchtbare Winter von 1812 herein.
Ein Schrei des Entsetzens ging durch die Welt, als das berühmte neunundzwanzigste Bulletin vom 3. Dezember das längst Geahnte, Gefürchtete zur Gewißheit erhob – den harrenden Völkern das furchtbare Schicksal der großen Armee verkündete. Der Eindruck der Kunde war überwältigend. »Das hat Gott getan –
›Mit Mann und Roß und Wagen
Hat sie der Herr geschlagen!‹« –
die Erkenntnis schlug in den Massen ein wie ein Blitz. Wie ein schmetternder Donnerschlag rüttelte die Kunde die schlafenden Gewissen wach. Manch einem aufgeklärten frivolen Weltkinde, das den Glauben an Gott und sein Wort längst als einen überwundenen Standpunkt abgestreift hatte, dämmerte wieder eine Ahnung auf von dem Dasein eines starken und eifrigen, heiligen und gerechten Gottes; manch einer, der so lange im Sinnengenusse die höchste Würze des Daseins erblickt, in Leichtsinn und Lastern nach französischen Mustern seine Tage dahingelebt hatte, fühlte, wie von eisigen Schauern des Todes gepackt, den rächenden, vergeltenden Arm einer ewigen Gerechtigkeit, hörte durch die Klagelaute und Todesseufzer der Erschlagenen hindurch im Geiste schon die Posaunentöne des jüngsten Gerichts …
Fast in allen Familien herrschte Trauer. Von 23 000 Mann, die allein das Königreich Westfalen zu dem Zuge nach Rußland gestellt hatte, kehrten nur 2000 Mann mit 280 Offizieren im kläglichsten Zustande zurück. Die übrigen alle – so viele ihrer nicht als russische Gefangene einem noch schrecklicheren Schicksale in den Bergwerken Sibiriens entgegensahen – schliefen auf den Eisfeldern Rußlands den Todesschlaf. Das gesamte Kriegsmaterial war vernichtet. Und als wäre es noch nicht genug des Jammers, so begann jetzt im Hinblick auf den nahenden Entscheidungskampf der Korse abermals Anforderungen zu stellen, die das Königreich vollends in Grund ruinierten. Neue Rekrutierungen wurden angeordnet, neue Kontributionen auferlegt, neue Lieferungen von den Bewohnern Westfalens beansprucht; sie wurden zuletzt ohne jede Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit des Landes und seiner Bewohner über den Kopf des Königs hinweg von Napoleon und dessen Generalen einfach ausgeschrieben und ihre Gewährung durch die Drohung von Gewaltmaßregeln erzwungen. Die Not begann ins Riesengroße zu wachsen.
Und dennoch, gerade in dieser Zeit der furchtbarsten Not entfaltete die Hoffnung auf das nahende Ende der Fremdherrschaft ihre Schwingen. Die Wellenschläge der großen Bewegung, die mit dem erwachenden Frühlinge – einem Völkerfrühling im wahren Sinne des Wortes – durch die Lande ging, pflanzten sich bis in die entlegensten Täler fort. Der Freiheitskrieg hatte seinen Anfang genommen; mit Spannung sah man in Hessen dem Ausgange entgegen.
Gegen Mitte April war General von Hammerstein, der Flügeladjutant des Königs, der fähigste unter den deutschen Offizieren des westfälischen Heeres – er hatte in Rußland die Kavalleriebrigade des achten Armeekorps mit Auszeichnung geführt – mit seinen Truppen nach Heiligenstadt aufgebrochen, um die bereits von Norden und Osten vordringenden Russen und Preußen in Schach zu halten. Eines seiner Regimenter, das zweite Linienregiment und eine Abteilung Kavallerie war nach Eschwege detachiert worden. Eine ungeheure Aufregung verursachte es in der Werrastadt, als wenige Tage später schon die Nachricht von den Niederlagen eintraf, die einzelne seiner Truppenteile bei Duderstadt und bei Ebersdorf in der Nähe von Nordhausen erlitten hatten. Die Aufregung wuchs, als sich am Morgen des 19. April, gerade am Ostermontage die Kunde verbreitete, daß ein preußischer Major (von Hellwig), nachdem er den rheinbündlerischen (bairischen) Truppen, die in Langensalza lagen, eine gesalzene Niederlage bereitet, in der Nacht zuvor Wanfried besetzt und die von Eschwege zur Deckung des Werraüberganges dorthin gesandte Rekognoszierungspatrouille – eine Kompagnie Infanterie und eine Eskadron Husaren – aufgehoben habe. Den Franzosen und ihren Freunden begann der Boden unter den Füßen zu wanken. Eine gewaltige Bestürzung herrschte am Kasseler Hofe. Viele französische Familien, die in Kassel ihren Wohnsitz genommen hatten, reisten ab; schon wurde die Abreise des Königs ernstlich erwogen, schon jetzt der Schatz des Hofes an Juwelen und andern Kostbarkeiten nach Frankreich geschickt, da brachte der Vormarsch der französischen Divisionen über Eisenach und Weimar noch einmal die Rettung. Die russischen und preußischen Reiterscharen, die keine Infanterie hinter sich hatten, zogen sich zurück, und den Franzosen begann der Kamm aufs neue zu schwellen. Dennoch war die Lage des Königs mißlich genug.
Die westfälischen Truppen hatten sich schlecht bewährt. Ihre Sympathien waren bei dem Feinde. In den acht Tagen, die Hammerstein in Heiligenstadt zugebracht hatte, waren allein an die zweitausend Mann desertiert. Hatte die Konskription schon im spanischen Kriege den französischen Behörden außerordentlich viel Mühe gemacht, so war sie jetzt mit doppelten Schwierigkeiten verbunden. Ungeachtet der schärfsten Strafmandate, ungeachtet der abschreckenden Strafexempel, die man an den wieder eingefangenen Deserteuren vollzog – wie mancher junge Mann hauchte jetzt abermals unter den Kugeln französischer Scharfschützen auf dem Kratzenberge bei Kassel sein Leben aus! – brachen die Konskribierten täglich zu Dutzenden, oft zu Hunderten aus den Standlagern aus.
Der Kantonmaire hatte während der ganzen Zeit eine eigentümliche Haltung gezeigt. Im vergangenen Spätherbst, in jener Zeit, da die Nachrichten aus Rußland immer spärlicher wurden und die Ahnung des Entsetzlichen immer mehr die Gemüter ergriff, hatte er sich desto mehr in Siegeshoffnungen eingewiegt. Während niemand mehr den gefälschten Siegesberichten des westfälischen Moniteurs Glauben schenkte, während es vorkam, daß Geistliche, indem sie auf ergangene Weisung die angeblichen Siege von der Kanzel bekannt gaben, mit aufgehobenen Händen über die Schulter rückwärts wiesen und durch diese Bewegung das gerade Gegenteil des Gesagten bekundeten, hatte er sich erst recht in den Traum der Unbesiegbarkeit seines Helden hineingelebt. Daß der Stern des großen Napoleon im Erlöschen begriffen sei – der Gedanke wäre ihm auch nicht von ferne gekommen. Je schwieriger die Bevölkerung wurde, je offener sich die Stimmung in Stadt und Land gegen die Franzosen und ihren Anhang wandte, desto verbissener trug er seine Franzosenfreundschaft zur Schau, desto rücksichtsloser gab er seiner gegenteiligen Gesinnung bei jeder sich bietenden Gelegenheit Ausdruck, damit jedoch nichts anderes erreichend, als daß er je länger je mehr allgemeinem Hasse anheimfiel und sich selbst seine Stellung in jeder Beziehung erschwerte. Als aber dann doch die Katastrophe hereinbrach, als das Bulletin vom 3. Dezember an der wirklichen Sachlage keinen Zweifel mehr ließ, da traf ihn die Nachricht wie ein Donnerschlag. Was er nicht für möglich gehalten hatte, war Tatsache geworden: der Gewaltige, den er wie einen Halbgott verehrt hatte, lag, der Strahlenkrone vermeintlicher Unbesiegbarkeit entkleidet, ein Überwundener, am Boden. Unwillkürlich fuhr ihm das Wort durch den Sinn, das sein verschollener Halbbruder einst in einer Stunde peinlichen Angedenkens geäußert hatte: sollte der Stern, zu dem er – wie lauteten doch Friedrichs Worte? – ›in abgöttischer Verehrung emporschaute‹, wirklich gleich einem flackernden Irrlicht erlöschen? Tagelang ging er wie betäubt einher; stumm und verdrossen nahm er seine Mahlzeiten ein; selbst für die Damen hatte er kaum noch ein freundliches Wort; seiner Umgebung war er nahezu ungenießbar geworden. Was mochte in seiner Seele vorgehen?
Es dauerte wochenlang, bis sein Geist das gestörte Gleichgewicht wiederfand. Die überraschende Schnelligkeit, mit der Napoleon eine neue Armee wie aus dem Boden zu zaubern gewußt hatte, die Schlagfertigkeit, mit der er, der Besiegte, seinen Feinden aufs neue die Stirn bot, gab ihm die frühere Zuversicht wieder. Er hatte doch recht gehabt: ein Stern wie Napoleon konnte nicht untergehen …
Die ersten Scharmützel auf dem Kriegsschauplatze, die kleinen Niederlagen der westfälischen Truppen an Hessens Grenzen regten ihn nicht sonderlich auf. Die Proklamationen, die König Friedrich Wilhelm III. und der russische General Wittgenstein an die Bewohner Westfalens erließen, ihre Aufforderung, einen Landsturm zu bilden und das Schwert gegen ihre Unterdrücker zu ergreifen, hatten, wie er mit Genugtuung wahrnahm, im Großen und Ganzen wenig Erfolg gehabt: es fehlte eben an Männern, die Mut und Ansehen genug gehabt hätten, die Organisation einer allgemeinen Volksbewaffnung kräftig durchzuführen. Die Anwesenheit des französischen Militärs im Lande, sowie die Grausamkeit, mit der die Gegenden an der unteren Elbe und Weser, besonders die Einwohner von Lüneburg, für den Jubel büßen mußten, mit dem sie seiner Zeit die Ankunft der Russen und Preußen unter den Generalen Tettenborn, Wittgenstein, Czernitscheff und Dörnberg begrüßt hatten, schreckten von dem Versuche einer allgemeinen Volkserhebung zurück. Auch die Hoffnungen, die man in dieser Beziehung auf das Lützowsche Freikorps gesetzt hatte, erfüllten sich nicht. Nach dem Plane Scharnhorsts bestimmt, den Stock einer großen westdeutschen Volksarmee nach dem Muster der preußischen Landwehr zu bilden, hatte dieses Korps im Hinblick auf den erwarteten Volksaufstand die Gegenden westlich der Elbe zu seiner Operationsbasis gemacht; aber der erhoffte Zulauf in Masse blieb aus. Wozu also Befürchtungen hegen um den schließlichen Ausgang des Kampfes, um den Bestand des Königreiches und der Napoleonischen Dynastie? Als dann gar in den ersten Tagen des Mai die erste größere Schlacht bei Großgörschen oder Lützen ungünstig für die Verbündeten auslief, da war er wieder ganz der Alte, sein Benehmen zuversichtlicher und herrischer denn je.
Derart standen die Sachen, als sich eines Tages in der Werrastadt plötzlich die Kunde verbreitete: der König ist da!
Es war so. Nach der Lützener Schlacht, die in Kassel als ein großer Sieg gefeiert wurde, hatte auch Jérôme wieder neuen Mut gewonnen. Die Gährung der Gemüter zu beschwichtigen, die gerade im Werratale in bedrohlicher Weise um sich gegriffen hatte, war er auf den Gedanken gekommen, der Stadt persönlich einen Besuch abzustatten. Umgeben von seiner Leibwache, von einigen Hofbeamten und einem kleinen Dienertrosse begleitet, erschien er unvermutet vor dem neuen Tore. In aller Stille nahm er auf dem Schlosse Quartier. Aber noch desselben Tages erging durch den Unterpräfekten an sämtliche Würdenträger und Honoratioren der Stadt, an Stadträte, Pfarrer und königliche Beamte, an die Zunftmeister und Vorsteher der Gilden die Aufforderung, zu bestimmter Stunde am folgenden Vormittage sich auf dem Schlosse einzufinden und Sr. Majestät zu präsentieren. Dem Kantonmaire, der von dieser Audienz ganz besondere Erwartungen hegte, schlug das Herz höher. In seiner Galauniform – blauem mit Samt und Scharlach ausgeschlagenem und mit reicher Goldstickerei verziertem Fracke, kurzer gestickter Weste und langen enganschließenden Beinkleidern – auf dem Kopfe den plüschbezogenen dreieckigen Federhut, den Degen an der Seite, trat er hocherhobenen Hauptes zur bestimmten Zeit den Gang nach dem Schlosse an. Traurigen Angesichts sah ihm Emilie durch das Fenster der Vorderstube, des Prunkgemaches der beiden Damen, nach. Ein verächtliches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Sie wandte sich an die stickende Mutter:
»Da geht er hin, just als hätte er, ein Napoleon im Kleinen, die Welt im Sacke. Der Narr – und denkt nicht mit einem Gedanken daran, daß diese ganze schwindelhafte Napoleonische Herrlichkeit schon über Nacht in Scherben gehen kann … Was nur den König bewogen haben mag, Kassel, wo es sich so ›lustik‹ leben läßt, zu verlassen und die kleine Landstadt mit der zweifelhaften Ehre seines Besuches zu beglücken?«
»Kind, Kind,« mahnte die Mutter und sah von ihrer Handarbeit auf, »sei vorsichtig! Wenn Dich das Mädchen, die Emma, hörte –«
»Pah, warum so ängstlich, mein Mütterlein?« fiel ihr Emilie ins Wort. Sie beugte sich zu ihr nieder, schlang die Arme um ihren Hals und sah ihr mit einem lächelnden Blick ins Auge. »Was habe ich doch gesagt, das nicht meinetwegen die ganze Stadt hören könnte? Wissen Sie, was ich bedaure?«
Liebkosend strich die Mutter ihr über das goldblonde Haar. »Und was wäre das?« fragte sie mit einem zärtlichen Blicke.
»Daß ich kein Mann bin!« rief Emilie leuchtenden Auges, »daß ich jetzt, wo der deutsche Michel anfängt sich aufzuraffen aus seiner Schmach und die Ketten der Knechtschaft abzuschütteln, muß stille zu Hause sitzen, während Männer und Jünglinge kämpfen … O, wie beneide ich Rudolf, den wackeren Jungen, daß ich nicht wie er zum Schwerte greifen darf … Schrecklich, als ein Weib zur Untätigkeit verurteilt zu sein, wo man mit allen Fasern möchte dabei sein, des Vaterlandes Schmach an den Feinden zu rächen.«
Die Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. Sinnend blickte sie der Tochter in das vor Erregung glühende Angesicht.
»Ei, ei«, sagte sie leise, nicht ohne einen Anflug mütterlichen Stolzes, »wie kommen meinem Kinde solche Gedanken? Kurage hast Du, traun, das muß auch der Feind Dir lassen. Aber ein Glück, daß mein Töchterlein nun einmal kein Mann ist, daß ich nicht auch um Dich noch mich ängstigen muß. An dem Jammer um den einen, sollt' ich denken, hätte ich arme Frau gerade genug.« Sie seufzte.
»Sie denken an Friedrich?« fragte Emilie.
Die Mutter nickte. »Ich habe Sorge um ihn,« flüsterte sie. »So oft ich auch versuche, die ängstlichen Gedanken abzuschütteln, sie kehren immer wieder. Nicht ein Brief von ihm in allen den Jahren, nicht die geringste Nachricht, was aus ihm geworden ist, wie es ihm in der Fremde ergeht, ob er überhaupt noch lebt – es ist so schwer für ein Mutterherz. Diese Ungewißheit hat etwas furchtbar Bedrückendes.«
»Ich glaube, mein Mütterlein sorgt sich ganz ohne Grund,« versetzte Emilie heiter. Sie setzte sich zu der Mutter Füßen auf den samtgepolsterten Fußschemel nieder, schmiegte weich und zärtlich ihre Wange an der Bekümmerten Hand und sah mit hellem Blicke zu ihr auf. »Wer weiß,« sagte sie, »wie oft Friedrich versucht haben mag, uns Nachricht zu geben? Tot ist er ganz gewiß nicht – darüber hätten uns schon die Zeitungen Kunde gebracht. Ein Mann wie Friedrich, ein Professor, dessen Name das Ächtungsdekret eines Napoleon überall bekannt gemacht hat, mag wohl eine Zeitlang in der Stille und Verborgenheit leben, aber sterben – nein, das glaube ich nicht. Wissen Sie« – sie dämpfte geheimnisvoll ihre Stimme – »was ich glaube? Ich hatte gestern wieder einmal Gelegenheit, mit Pfarrer Sträubelein ein paar Worte zu wechseln. Ich fragte ihn, ob er von Rudolf gute Nachrichten habe. Ja, sagt er, die Lützower haben wieder ein siegreiches Gefecht gehabt, und der Junge ist heil und gesund. Ich erzählte ihm von unsern Sorgen um Friedrich. Er aber lächelte und meinte, wir sollten nur ohne Sorge sein. Er selbst würde sich gar nicht wundern, wenn die zwei, Friedrich und sein Lützowscher Jäger, uns eines Tages, beide mit kriegerischen Lorbeeren geschmückt, ihre Aufwartung machten. Sehen Sie, mein Mütterlein, dasselbe denke auch ich.«
»So meint Ihr beide, daß er Soldat geworden sei?«
»Natürlich.«
Die Matrone lächelte trüb. »Ein geringer Trost für eine Mutter … Aber immerhin, wüßt' ich, daß es wirklich so ist – für's Vaterland gäb' ich ihn gerne hin. Wo trafst Du den Pfarrer?«
»Drüben bei dem Kommerzienrat. Ein Glück nur, daß Kurt nichts von unsern Beziehungen zu diesem von ihm so bitter gehaßten Manne ahnt; wer weiß, was er uns wieder für eine Szene machen würde.«
»Der gute Sträubelein,« flüsterte die Mutter. »Es ist nur zum Verwundern, wie er selbst noch immer so heil und glatt ist davongekommen. Weißt Du, Kind, ich fürchte, er spielt zuweilen wirklich ein sehr gewagtes und zudem nicht immer lauteres Spiel. Wie er es nur angestellt haben mag, auch neulich wieder bei der Konskription die Behörden glauben zu machen, daß in dem Jahrgange in seinem Kirchspiele nur Mädchen geboren wären? … Aber merkwürdigerweise, es ist ihm gelungen. Kein einziger aus Schwebda ist zu den Fahnen eingezogen worden.«
Über Emiliens Gesicht flog ein Lächeln. »Kurts Zorn über den Bericht,« sagte sie, »war freilich ganz furchtbar. Wer weiß, was für Dinge da hinter den Kulissen sind vorgegangen. Ich vermute, die Furcht, bei der aufgeregten Landbevölkerung in dieser kritischen Zeit Unruhen zu erregen, hat die Behörden abgeschreckt, der Sache auf den Grund zu gehen … Item,« fuhr sie in großem Ernste fort, »ich gönne es den Familien, gönne es den armen Müttern von ganzem Herzen, denen so das Unglück erspart geblieben ist, ihre Söhne dem Menschenschlächter Napoleon auf die Schlachtbank zu liefern … Wie furchtbar muß es nicht in Rußland gewesen sein. Wenn man die Schilderungen des jungen Holzapfel hört, kommt einen das Grausen an. Die Rache Gottes ist im Anzuge begriffen, das muß ja ein Blinder sehen. Aber Kurt – es ist unbegreiflich – sieht und merkt gar nichts.«
»Er will nichts merken,« versetzte die Mutter traurig. »In seine kosmopolitischen Ideen verrannt, sieht er mit sehenden Augen nicht, hört er mit hörenden Ohren nicht, welche Stunde es an der Zeitenuhr hat geschlagen. Auf meine warnende Stimme« – sie seufzte tief auf – »hört er nicht; ich bin ja nur eine Frau, die nach seiner Meinung nicht viel versteht. Nun kommt noch dazu, daß unser eins gerade in den wichtigsten Lebensfragen so gar allein steht in der Stadt. Wie soll es da möglich sein, daß ein Mann wie Kurt auf uns höre? … Nicht einmal die Geistlichen stehen auf unserer Seite; kein einziger Geistlicher weit und breit, der uns verstünde! Ach, so wenig sie auch politisch mit Kurt harmonieren – im Grunde und in der Hauptsache sind sie so blind wie er selber. Männer der ›Aufklärung‹, Rationalisten, wie sie mehr oder weniger alle sind, wissen sie, leider, so wenig wie Kurt, was Christentum und christliche Kirche ist und was Welt … So findet er überall, bei Freund und Feind, nur Wasser auf seine kosmopolitische Mühle, findet er, ihnen allen überlegen an Schärfe des Denkens wie an logischer Konsequenz, überall nur Nahrung für seine Ideen – und eben darum auch für seine Vergötterung des Korsen und der französischen Nation, in denen er nun einmal die Bannerträger dieser Ideen erblickt …
»Ach, Kind,« fuhr sie in überaus schmerzlichem Tone fort, »wie traurig, wie unsäglich traurig ist's doch um unsere kirchlichen Verhältnisse bestellt! Es ist, als hätte die Christenheit aus einem Taumelbecher getrunken. Die Wahrheit, Gottes Wort, das Licht von oben wollen sie nicht – jeder läuft irgend einem besonderen Götzen, jeder einem andern Irrlicht nach, die einen dem Papste, die andern der Vernunft, die dem Napoleon, die der Freiheitsgöttin mit der phrygischen Mütze – bis sie alle mit einander im Sumpfe des Verderbens liegen. Es ist zum Herzbrechen …«
»Es kann auch wieder anders werden, mein Mütterlein,« tröstete Emilie. »Das furchtbare Schicksal der großen Armee, wo Gottes Hand, Gottes starker Arm so sichtbar in die Ereignisse eingegriffen hat, ist doch für viele eine ernste Lehre gewesen.«
»Das ist freilich wahr,« stimmte die Greisin zu, »und Gott gebe, daß der Eindruck, den diese Lehre gemacht hat, sich nicht so bald wieder im Gedächtnis unsers Volkes verwische. Ach, wenn mit der Wendung, die wir aus diesem Kriege für das äußere Geschick unseres deutschen Gesamtvaterlandes erhoffen, sich zugleich eine Wiedergeburt der deutschen Christenheit, eine Besserung unserer so schrecklich traurigen Kirchenverhältnisse verknüpfte, fürwahr, auf meinen Knieen wollte ich unserm Herrn dafür danken.«
Zwei Stunden waren nach dieser Unterredung vergangen, als Kurt vom Schlosse zurückkehrte. Glückstrahlenden Gesichts trat er, noch in voller Galauniform, bei den Damen ein.
» Parole d'honneur«, hob er sogleich nach kurzer Begrüßung an und warf sich in einen Sessel, »das war schön. Denken Sie sich, chère maman, die Auszeichnung: in langer Unterredung, deren Majestät mich in liebenswürdigster Weise zu würdigen geruhten, haben dieselbe mir meine demnächstige Berufung ins Ministerium in Aussicht gestellt. Man habe, bemerkte der königliche Herr, mit Genugtuung höheren Orts den Eifer bemerkt, womit ich den schlechten Gesinnungen der Bürgerschaft entgegengetreten sei. ›Ja, so ist's, messieurs,‹ wandte sich Majestät flammenden Auges zu den Zunftmeistern und den Mitgliedern des Magistrats, ›schlimme Gerüchte sind es, die Uns über die Gesinnungen in dieser Stadt sind zu Ohren gekommen, und ich muß sehr bitten, daß Sie, die Leiter der Bürgerschaft, diesen Gesinnungen künftig kräftiger, als es geschehen, entgegentreten, daß Sie die Herren Citoyens Bürger. mit allem Nachdruck belehren, daß sie sich besserer Gesinnungen zu befleißigen haben. Ich will dem Lande, sagen Sie das, ein wirklicher Landesvater sein; ich hege die besten Absichten gegen das Volk, an dessen Spitze ein gütiges Geschick mich berufen hat, aber ich erwarte auch, daß ich in meinen Bemühungen, das Wohl meiner Untertanen zu fördern, auf die loyale Gesinnung aller derer rechne, denen gleich mir die Ruhe des Staates und das Wohl meiner Untertanen am Herzen liegt.‹ Wahrhaftig, so –«
»Merkwürdig!« fiel Emilie dem Eifrigen mit ironischem Lächeln in die Rede.
»Was findet ma belle Emily merkwürdig?« fragte der Kantonmaire hastig und sah die junge Dame forschend an.
»Daß Majestät sich so fließend in deutscher Sprache auszudrücken wußten. Ich hab' immer geglaubt, König Jérôme sei des Deutschen nicht sonderlich mächtig.«
Kurt lachte. »Ah so!« sagte er. »Natürlich bedienten sich Majestät der französischen Sprache. Graf von Waldenburg-Truchseß ein Herr aus schwäbischem Geschlecht, der mit seiner Frau, einer geborenen Prinzessin von Hohenzollern-Hechingen, in Begleitung der Königin Katharina (einer württembergischen Prinzessin) ins Land gekommen war., der sich in des Königs Gefolge befindet, mußte den Herren, die sehr verblüffte Gesichter machten, die königliche Ansprache übersetzen. Apropos, für Dich, Emilie, habe ich noch eine besondere Ueberraschung in petto. Nachdem Majestät die Ansprache beendet hatten, wurden sie gegen alle sehr freundlich. Jeden einzelnen ließ der König sich vorstellen, wechselte mit jedem ein paar huldvolle Worte und kündete zuletzt an, daß er, der Stadt einen Beweis seiner landesväterlichen Gesinnung zu geben, gesonnen sei, für den heutigen Abend eine fête zu veranstalten. Sämtliche Anwesende mit ihren Frauen und Töchtern seien dazu eingeladen, jedes lästige Zeremoniell, jeder Zwang der Etikette, jede außergewöhnliche Prachtentfaltung solle dabei ausgeschlossen sein, niemand solle anders als in seinem gewöhnlichen Gesellschaftsanzuge, die Frauen und Jungfrauen des Bürgerstandes in ihrer üblichen Feiertagstracht erscheinen, so sei es sein ausdrücklicher Wunsch. Er erwarte bestimmt, daß keiner sich ausschließen werde. Dann geruhten Majestät, noch einmal an mich das Wort zu richten. Er fragte nach meinen verwandtschaftlichen Verhältnissen. Ich antwortete, wie mir's der Augenblick eingab, und er hörte sehr aufmerksam zu. ›Ah, Mutter und Schwester,‹ sagte er, ›der – Name von Grandenborn ist mir nicht unbekannt, habe von den Beziehungen der Familie zu dem früheren Hofe gehört – und noch manches andere,‹ fügte er lächelnd hinzu. ›Sehr interessante Sache, certainement. Und mademoiselle Emilie, gewiß eine schöne junge Dame, wie?‹ Ich konnte« – Kurt sah lächelnd Emilien an – »nicht umhin zu bejahen, das wirst Du mir glauben, ma chère. Er darauf: › Voilà, mon ami, die Damen dürfen nicht fehlen am heutigen Abend. Wollen Sie, mein guter Kantonmaire, mich den Damen empfehlen und ihnen vermelden, daß ich ganz bestimmt auf ihr Erscheinen rechne. Ihre Gegenwart wird mir eine ganz besondere Freude sein.‹ So, das ist's, mes chères, was ich Ihnen zu vermelden die Ehre habe.«
Beide Damen waren blaß geworden. Auf eine solche Botschaft waren sie freilich nicht im mindesten vorbereitet. Nicht Freude, sondern Erschrecken malte sich auf ihren Gesichtern.
Emilie fand zuerst die Sprache wieder. Mit zuckenden Lippen bemerkte sie: »Da hat uns der Herr Bruder allerdings eine ganz außerordentliche Überraschung bereitet, nicht wahr, liebe Mutter? Schade nur, daß wir beide so wenig empfänglich sind für die schmeichelhafte Auszeichnung, die uns Dein Herr König hat zugedacht.«
» Dein Herr König!« rief der Kantonmaire gereizt. »Ich bitte Dich, ma chère, zu bedenken, daß alle Antipathie, womit Du das gegenwärtige Regime zu betrachten beliebst, an der Tatsache nichts ändern kann, daß König Jérôme nun einmal der Herrscher des Landes ist. Du wirst die Einladung annehmen so gut, wie ich das auch von unserer Frau Mutter erwarte.«
Seine Stimme klang drohend, befehlend. Emilie wollte antworten; die Mutter kam ihr zuvor.
»Zankt Euch nicht, Kinder,« sagte sie beschwichtigend. »Die Sache will überlegt sein, mein Sohn. Du kennst unsere Gefühle, unsere Gesinnung. Ich bitte, uns Zeit zur Überlegung zu lassen.«
» Bon, maman, und ich hoffe, daß die Überlegung den Entschluß zeitigen wird, die ehrenvolle Einladung nicht abzulehnen. Ich bitte zu bedenken, daß die Wünsche eines Fürsten allezeit so gut wie Befehle sind.«
Mit diesen mit Nachdruck gesprochenen Worten verließ der Kantonmaire das Zimmer.
Die Überlegung fiel wirklich nach seinen Wünschen aus. So große Überwindung der Entschluß den Damen auch kostete – um Kurts willen, der dem Könige sein Wort gegeben hatte, fügten sie sich. Nachdem sie alle Möglichkeiten besprochen und sich über das Verhalten verständigt hatten, das sie zu beobachten gesonnen waren, teilten sie Kurt ihren Entschluß mit. Er war glücklich. Ein kleiner Vorbehalt, von dem der Leser seiner Zeit Kunde erhalten wird, war freilich dabei. Doch er tröstete sich. Waren die Damen, so dachte er, erst einmal dort, so war es kaum denkbar, daß sich nicht alles zur Zufriedenheit fügen würde.