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Die Nacht war hereingebrochen. Der Handwerksbursch hatte sich zur Ruhe begeben, aber war es die Aufregung, in die ihn das vernommene Gespräch versetzt hatte, oder was sonst – er fand keinen Schlaf. Ruhelos wälzte er sich auf seinem Lager. Die Stunden vergingen; Mitternacht war schon vorüber. Aus dem Zimmer nebenan ließen sich die schnarchenden Atemzüge des adligen Gastes hören; mit einem Gefühle von Neid horchte er darauf hin – plötzlich fuhr er betroffen auf. Das Geräusch, das er vernahm, ein eigentümlich knirschendes, sägendes Geräusch, konnte doch unmöglich allein auf Rechnung des Schlafenden kommen. Im nächsten Augenblicke war das Geräusch verstummt; nichts als das Schnarchen seines Zimmernachbars unterbrach wieder die Stille der Nacht. Schon war er geneigt, das Gehörte für eine Sinnestäuschung, für einen Betrug seiner erregten Nerven zu halten, und legte den Kopf in die Kissen zurück. Auf einmal begann das seltsame Geräusch von Neuem. Nein, das war keine Täuschung. Aus dem Raume gerade unter ihm klang es fort und fort wie das Knirschen eines metallenen Werkzeugs, einer Säge oder Feile – und jetzt unterschied er auch deutlich summende Stimmen, dazwischen leises Stöhnen, ein klägliches Ächzen. Mit einem Rufe des Schreckens: »Herr Gott, da wird eingebrochen!« warf er die Decke zur Seite und sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Bette. Während er sich, fiebernd vor Aufregung, in die Kleider warf, versuchte er gleichzeitig durch Rufen und Klopfen seinen Zimmernachbar zu wecken.
»Donner und Doria,« rief dieser, endlich erwachend, »was ist denn los?«
»Um Gotteswillen, Herr von Gehren,« gab unser Freund durch die Wand hindurch Antwort, »stehen Sie augenblicklich auf und schlagen Sie Lärm! Es sind Diebe, Einbrecher im Hause.«
»Zum Henker noch einmal, Diebe? Da soll doch –«
Im Augenblick war der Edelmann aus den Federn. Der Handwerksbursch hörte, wie mit krachendem Geräusch im Zimmer nebenan ein Stuhl umgeworfen und gleich darauf ein Fenster aufgerissen wurde. Mit einer wahren Stentorstimme rief Herr von Gehren in die Nacht hinaus: »Zu Hilfe, Diebe, Diebe!«
Unser Freund war bereits, seinen Knotenstock in der Faust, kaum notdürftig bekleidet, im Dunkeln die Treppe hinuntergestürzt. Im Flur über einen Gegenstand stolpernd, fiel er mit einem dumpfen Wehelaute zu Boden, doch schon war auch Herr von Gehren zur Stelle. Er hatte einen Schlafrock übergeworfen. Ein Pistol in der einen, ein Licht in der andern Hand, rief er: »Wo sind die Schurken?«
»Hier, wie mich dünkt,« rief, sich mühsam erhebend, der Gestürzte, »im Studier- oder im Schlafzimmer des alten Herrn.«
»Kuckuck noch einmal,« wetterte der Edelmann, »dann vorwärts marsch!«
Er stieß die Tür auf, die von innen verschlossen war. Drinnen war es jedoch merkwürdig still geworden. Als unser Wanderbursch einen Augenblick später das Gemach erreichte, war es leer; weder im Studierzimmer noch in der Schlafkammer dahinter ein Einbrecher zu sehen. Die Spitzbuben hatten, erschreckt durch den plötzlichen Lärm, das Haus verlassen, bevor sie ihr verbrecherisches Vorhaben hatten vollenden können. Nur die in den beiden Zimmern herrschende Unordnung, umgeworfene Stühle, erbrochene Schubläden, umhergestreute Wäsche und Kleidungsstücke, gaben Kunde, daß Verbrecher soeben dort ihr Wesen gehabt hatten. Eines der Fenster im Schlafraume stand offen, der Fensterladen, der es von außen schützte, war verschwunden – ein Beweis, auf welchem Wege der Einbruch sowohl wie das Entweichen der Diebe erfolgt war.
Auf dem Bette im Hintergrunde lag, geknebelt und gefesselt, unfähig, ein Glied zu rühren, der arme Pfarrherr. Vor ihm kniete brummend und grunzend der Edelmann und mühte sich ab, des Gefangenen Fesseln zu lösen. Mit einem Rufe des Bedauerns eilte unser Freund hinzu und begann mit gewandter Hand dem andern Beistand zu leisten. Endlich waren sie fertig, und Pfarrer Bohnewald gewann seine Sprache wieder.
»Das war Hilfe zur rechten Zeit,« stöhnte er.
Seine erste Frage war nach dem Schranke in seiner Studierstube. Herr von Gehren eilte mit dem Lichte in das Nebengemach.
»Unversehrt,« rief er fröhlich zurück. »Die Schufte haben, wie man sieht, an dem Schlosse gearbeitet, aber wir sind ihnen offenbar zu früh über den Hals gekommen. Die Schranktür ist fest verschlossen.«
Ein lautes »Gott sei Dank!« entrang sich den Lippen des Hausherrn. Ein tiefer Seufzer entquoll seiner Brust. »Mein Gott«, rief er, »wenn es den Schurken gelungen wäre, den Schrank zu öffnen und das Geld darin, mehrere tausend Taler – das Ergebnis einer Kollekte, die zur Reparatur unserer Kirche ist im Lande gesammelt worden – zu entführen! … Wie ist es nur möglich, daß sie mit der Hausgelegenheit, überhaupt mit den Verhältnissen so genauen Bescheid wußten? … Großer Gott« – er sprang, von einem Gedanken ergriffen, auf und kleidete sich hastig an – »wenn nur Rosa – wir müssen uns nach ihr umsehen.«
Halb angekleidet, wie er war, nahm er das Licht und eilte, von den beiden Männern gefolgt, nach dem Flur. Aber da kam ihnen schon, ein Licht in der Hand, das Fräulein mit schreckenbleichem Gesicht entgegen. Dore war bei ihr.
»Um Gottes willen, lieber Herr Ohm,« rief sie, »was ist hier vorgefallen?«
»Da bist Du, mein Kind,« rief der Oheim erregt und doch erleichtert zurück. »Gottlob, Du weißt also nichts. Es ist ein Einbruch versucht, aber glücklicherweise dank der Wachsamkeit unserer Gäste vereitelt worden.«
»Ein Einbruch,« wiederholte Rosa schaudernd. »Aber wie ist das möglich? Ich selbst habe am Abende wie immer, sämtliche Türen und Läden geschlossen.«
»Ja, wie?« entgegnete der Ohm, »das Fenster steht offen. Aber kommt, laßt uns nachsehen.«
Gemeinsam begab man sich nach dem Schlafgemache des Hausherrn zurück. In demselben Augenblick aber wurde es auch draußen auf der Gasse lebendig. Lichter tauchten auf; das Geräusch vieler Tritte, Menschenstimmen, lautes Rufen und Fragen tönte den Hof herauf. An die Haustür pochte es. Der Pfarrer trat hinaus und teilte den Leuten kurz das Vorgefallene mit. Alle, auch die beiden Gäste des Pfarrherrn, die gleich dem letzteren ihren Anzug vervollständigt hatten, begannen jetzt im Scheine der mitgebrachten Laternen nach der Spur der Verbrecher zu suchen. Das Fenster, durch das sie eingebrochen waren, ging auf den Garten hinaus. Zuerst fand man den Fensterladen; er war, wie die ausgebrochenen Krampen bekundeten, gewaltsamerweise ausgehoben worden; beide Flügel lagen zerbrochen auf dem kiesbestreuten Wege, der sich unter den Fenstern den Giebel entlangzog. Der Sprung der Flüchtlinge aus dem immerhin ziemlich hochgelegenen Fenster mochte den Laden zerschmettert haben. Der prachtvolle Weinstock, der den Giebel umrankte, zeigte arge Spuren der Verwüstung; mehrere Latten waren eingedrückt – man sah, auf welchem Wege die Diebe das Fenster erstiegen hatten. Fußspuren liefen über die Beete hinweg durch die zerrissene Himbeerhecke bis zu der hohen Lattenumzäunung des Gartens. Ein paar junge Burschen setzten über den Zaun hinweg; man reichte ihnen Laternen hinüber; im Scheine der Lichter setzten sie draußen die Untersuchung fort. Die Spuren führten zum Dorfbache hinab, der unweit des Gartens vorüberfloß. Dort aber hörten sie völlig auf. Vergebens versuchte man, die Spur am jenseitigen Ufer wieder aufzufinden; es war nichts zu entdecken. So viel war klar: die Spitzbuben hatten durchs Wasser längseit des Baches ihren Weg genommen, aber in welcher Richtung, das war die Frage, und in der Nacht die Verfolgung aufs Ungewisse fortzusetzen, hatte keiner so rechte Lust. Immer mehr Leute waren mittlerweile dazugekommen; auch der Bürgermeister – der Maire, wie er damals hieß – hatte, von anderen benachrichtigt, sich eingestellt und besprach mit dem Pfarrer den Sachverhalt. Man tauschte miteinander Vermutungen aus; hin und her wurde gesprochen, beraten, gestritten; aber alles Reden brachte die Verbrecher nicht wieder zur Stelle. Kopfschüttelnd verließ endlich einer nach dem andern das Gehöft, und der Pfarrer begab sich mit seinen Gästen in das Haus zurück.
An Schlaf war freilich nach diesen aufregenden Vorfällen sobald nicht zu denken. In der Familienstube, einem auf der andern Seite des Flurs gelegenen größeren Gemache, saßen unsere Freunde und besprachen bei dem Scheine einiger Talgkerzen die Ereignisse der Nacht. Nur der Wanderbursch fehlte. Er hatte sich, als er vorhin mit den andern das Haus betrat, alsbald mit leisem Gutenachtgruße entfernt, dennoch war er derjenige, um den sich jetzt eigentlich die Unterhaltung drehte. »In der Tat, ein resoluter Mann, dieser Handwerksbursch,« äußerte Herr von Gehren. »Wer mag er nur sein?«
»Ein Bäckergesell namens Kleinhans,« versetzte der Pfarrer. »Wie er erzählt, stammt er aus der Werragegend. Apropos, so hat er auch auf Sie einen guten Eindruck gemacht?«
»Auf Parole, das hat er. Nach seinen Manieren sollte man übrigens kaum einen Handwerksgesellen in ihm vermuten. Ich habe mir, als er mir half, Ihre Bande zu lösen, in stiller Verwunderung seine Hände betrachtet – schlanke, wohlgepflegte, sozusagen aristokratische Hände, wie man sie schwerlich in dem Stande sonst findet.«
»Merkwürdig,« mischte sich Rosa nicht ohne einige Schüchternheit in das Gespräch, »sollte es am Ende doch wahr sein, was unsere Dora von ihm behauptet? Die schwört darauf, daß er ein verkappter Edelmann sei.«
»Ei, ei,« rief der Oheim belustigt, »wer weiß, am Ende entpuppt sich da noch der richtige Märchenprinz … Doch Spaß bei Seite« – sein Gesicht zeigte wieder den gewöhnlichen Ernst – »wie kommt Dore auf eine solche Vermutung?«
Ärgerlich über die Glutwelle, die – sie wußte selbst nicht warum – plötzlich bis in die Schläfen hinauf ihr Gesicht überflutete, war Rosa aufgestanden; sie hatte ihr Nähtischchen geöffnet und suchte nach einer Handarbeit. Mit abgewandtem Gesicht berichtete sie, was ihr Dore am Vormittage von der Brieftasche erzählt hatte. Die Herren machten verwunderte Gesichter.
»Seltsame Geschichte,« murmelte der Edelmann und trommelte mit den Fingern auf dem Tische. »Sollte er – hm, unmöglich wäre es nicht.«
»Was meinen Sie?« fragte der Pfarrer. Er sah den Edelmann forschend an.
»Ich hatte,« erwiderte dieser, »auf meiner Reise ein kleines Abenteuer. Es war just an dem Tage, da ich hier ankam. In einem kleinen Städtchen – den Namen habe ich leider vergessen – mit der Postkutsche angekommen, gedachte ich ein wenig Mittagsrast zu halten. Wie sich das schwerfällige Gefährt dem Gasthofe nähert, erblicke ich dort zu meiner Verwunderung ein paar Gendarmen zu Pferd, von einem Haufen Volkes umringt. Ich wende mich an einen Mann, der gerade vorübergeht, und frage, was los sei. ›Sie fahnden auf einen,‹ sagt der und macht, während ihm der Schalk aus den Augen blitzt, ein Gesicht, daß ein Maler daran hätte Studien machen können: ›soll etwas Vornehmes sein, 'n Professor an der hohen Schul' oder so was; hat gewiß die Geschichte mit dem Oberstleutnant Emmerich mitgemacht, was weiß ich? Na, 's wird wohl noch 'ne Weil' dauern, bis sie ihn haben. Erst gefangen, dann gehangen, sprach der Schinderhannes und drehte dem Landreiter eine Nase. Adjes!‹ War ich nicht schon neugierig, so wurde ichs jetzt. Es war ein ordentlicher Lärm vor dem Gasthofe. Ich strecke den Kopf aus dem Wagenfenster und sehe mir die Geschichte an. Die Gendarmen, ein paar schnauzbärtige Franzosen, schrieen und wetterten auf Deutsch und Französisch in den Haufen hinein, drohten, das Deutsche schauerlich radebrechend, mit den schrecklichsten Strafen für den, der den Hochverräter hausen und herbergen oder seinen Aufenthalt verheimlichen würde, und versprachen wiederum das Blaue vom Himmel herunter, wenn jemand angeben wollte, wo er zu finden. Die Leute standen da und gafften, die Weiber kicherten, die Männer zuckten gleichmütig die Achseln, aber die ergötzlichen Gesichter, die sie bei den Rodomontaden der Polizeimänner machten, waren schier unbezahlbar. Keiner wollte etwas von dem Flüchtlinge wissen. Ein alter, verwetterter Bauer mit einer blauen Zipfelmütze, die ihm schief auf dem Ohre saß, und einem Pfeifenstummel im Munde, wandte den Kopf und sah mich. Sofort deutete er mit dem Stummel auf mich. ›Aha,‹ rief er mit listigem Augenzwinkern – und um seine Mundwinkel zuckte ein grimmiger Hohn – ›dort kimmt so einer, der kann den Musjehs Bescheid gän. geben. Heda, Sie, sind Sä nit der verteuwelte Mann, der Professer, der unserem Herrn Könige »Immer Lustik« hat an den Kragen gewollt?‹ Im Nu fuhren alle Köpfe herum. Die Leute sowohl wie die Gendarmen sahen mich verwundert, zweifelnd an. Meine Gestalt, mein ganzes Aussehen mochte den Franzmännern doch zu wenig mit dem Signalement des Verfolgten stimmen, das sie jedenfalls bei sich hatten, oder doch? Sie nahmen mich richtig ins Verhör und fragten nach meinem Passe. Na, die Gesichter, als sie die Papiere in Ordnung fanden, als sie merkten, daß ich Ausländer war. Die Geschichte hatte mich übrigens, so ergötzlich sie war, geärgert; als das Examen vorüber war, fragte ich ziemlich ironisch; › Voilà, Messieurs, das ist ein häßlicher Handel; das Geschäft in Deutschland bringt Ihnen wohl tüchtig ein?‹ Die Umstehenden verbissen ein Lachen; ein paar halbwüchsige Jungen drehten den Reitern hinterrücks eine Nase, die Franzmänner machten verdutzte Gesichter – ich glaube übrigens, sie hatten mich gar nicht verstanden – dann aber fingen sie mit vielen foudres und mille tonnerres ihr Kauderwelsch wieder von vorne an, da sie absolut dabei blieben, der bougre, der Flüchtling, müsse dort durchgekommen oder irgendwo in der Nähe versteckt sein. Ich kümmerte mich nicht weiter um sie, verließ den Wagen und ging in den Gasthof. Ich hatte,« schloß der Erzähler, »die ergötzliche Scene rein wieder vergessen – man erlebt ja heutiges Tages dergleichen zu oft –, sonst hätte ich sie längst erzählt. Es wäre, auf Parole, doch merkwürdig, wenn Ihr Schützling mit meinem Abenteuer in Zusammenhang stände.«
Er schwieg.
Mit äußerster Spannung waren Oheim und Nichte der Erzählung gefolgt. Mit ernstem Gesicht sah jener eine ganze Weile vor sich nieder. Mit einem Seufzer erhob er endlich das Haupt.
»Was soll man dazu sagen?« bemerkte er. »Ich weiß nicht, soll ich's bedauern, oder soll ich erfreut sein, daß Ihre Mitteilungen nun vollends den durchsichtigen Schleier zerrissen haben, unter dessen Schutze ich bis dato ziemlich unbefangen mit dem jungen Manne verkehrte? Denn auch ich zweifele jetzt keinen Augenblick mehr daran, daß er ein politischer Flüchtling ist. Item, sei es immerhin – um so besser wird man im Stande sein, etwaigen Nachforschungen der Behörden zu begegnen und hat vielleicht auch Gelegenheit, sich dem Verfolgten noch in anderer Hinsicht nützlich zu zeigen.«
» Bon, mein lieber Herr Pfarrer,« bemerkte der Gast, »und vergessen Sie nicht, wenn ein solcher Fall eintreten sollte, daß Sie an mir einen Freund und Bundesgenossen haben. Eins wundert mich übrigens, daß Ihnen beiden, wie es scheint, noch nichts von der Verfolgung eines Professors bekannt geworden ist. Sie lesen, wie ich gesehen habe, den Kasseler Moniteur; sollte das Blatt keine Bekanntmachung der Art enthalten haben?«
»Ich muß sie übersehen haben,« erwiderte der Pfarrer. »Die Lektüre dieser Bekanntmachungen ist überhaupt aus gewissen Gründen nicht meine Liebhaberei. Apropos,« er sah das Fräulein an – »da fällt mir ein, Rosa, etwas anderes fand ich neulich darin, darüber Du Dich höchlich verwundern wirst: unser verwunschenes Schloß auf dem Mosberge hat wieder einen Herrn, und weißt Du, welchen?«
»Habe keine Ahnung, Herr Oheim,« versetzte sie lebhaft; »wer ist's?«
»Unser Besuch von neulich, der schöne Franzose, der Duc de la Garde.«
Mit erstauntem Gesicht fiel ihm Rosa ins Wort: »Ist's möglich, der?«
»Eben der und sein Schwager, der Marquis. Man munkelte ja – Du wirst Dich erinnern – schon vor Wochen davon, daß die beiden Herren, der Duc und sein Schwager, die Absicht hätten, das Gut anzukaufen und das alte Schloß, trotz der Spuk- und Gespenstergeschichten, die man sich davon in der Gegend erzählt, wieder in wohnlichen Stand zu setzen.«
»Darf ich erfahren,« fragte Herr von Gehren und zog die Augenbrauen hoch, »von wem hier die Rede ist?«
»O gewiß,« antwortete sein Freund, »die Sache ist durchaus kein Geheimnis. Eines Tages – es sind etwa acht Wochen her – hielt vor der Krone, dem ältesten und angesehensten Gasthofe unseres Nachbarstädtchens, eine geschlossene Kutsche. Die kostbare Ausstattung des Gefährts, der Silberbeschlag des fürstlich aufgezäumten Gespanns, das augenscheinlich von edelster Rasse war, die farbenreiche Livree von Kutscher und Diener machten sofort Aufsehen. Im Handumdrehen verbreitete sich das Gerücht, eine fürstliche Familie – die geschäftige Fama munkelte sogar von einer Verwandtschaft mit dem Kasseler Hofe – habe im Städtlein Herberge genommen. Es waren zwei Herren und zwei Damen, die man dem Gefährt hatte entsteigen sehen, zwei durch Wechselheirat, wie es hieß, verbundene Geschwisterpaare, der eine Herr und die eine Dame eben so schön und stattlich, wie die beiden anderen von ausnehmender Häßlichkeit. Merkwürdig war jedoch, daß der schöne, stattliche Herr zur Gemahlin die häßliche Dame und umgekehrt die schöne Dame den häßlichen Herrn zum Gemahl haben sollte. All das flog wie ein Lauffeuer durch das Städtchen, bei dessen kleinbürgerlichem Stilleben alles, was irgendwie vom alltäglichen Laufe der Dinge abweicht, wie ein ungewöhnliches Ereignis wirkt. Bei dem lebhaften Verkehre, der zwischen der kleinen Amtsstadt und den Landleuten der Umgegend besteht, konnte es nicht fehlen, daß das Gerücht ihrer Ankunft schon nach wenigen Tagen auch in den Dörfern die Runde machte. In den bäuerlichen Spinnstuben sowohl wie in den Pfarrhäusern und Edelhöfen der Gegend bildeten, von dem Nimbus der Sage umstrahlt, die geheimnisvollen Fremden das Tagesgespräch. Sie schienen es aber auch just darauf anzulegen, daß das Geraune und Gerede nicht wieder verstummte. Das große Leben, das sie führen, die üppigen Gastmähler, zu denen Adlige und Bürgerliche, zumeist Honoratioren des Städtleins, eingeladen werden, wobei der Champagner in Strömen fließen, und die tollste Laune, die lustigste, frivolste Ausgelassenheit das Szepter schwingen soll, haben, sage ich Ihnen, von sich reden gemacht. Ernste Leute schütteln die Köpfe und klagen – klagen über den Niedergang guter alter deutscher Sitte und Zucht. Mindere freilich finden ihre Rechnung dabei; die Fremden bringen Geld ins Land, und unsere Herrlein im Amtsstädtchen werfen damit förmlich um sich. Zudem wissen sie durch ihre Liebenswürdigkeit im Verkehr selbst manchen zu bezaubern, der sonst für französische Einflüsse ziemlich unzugänglich war. Bei den Gutsbesitzern der Gegend, adligen und nichtadligen, hie und da auch in Pfarrhäusern, haben sie Besuche gemacht; so machten sie, das heißt, nicht die Damen, sondern die Herren, eines Tages auch hier ihre Erscheinung – zum nicht geringen Schrecken meiner Nichte – gelt, mein Kind?«
»Nun ja,« gab Rosa lächelnd zu, »es war auch keine Kleinigkeit so mitten in der Feldarbeit – ich half mir, so gut ich konnte; die Herren mußten vorlieb nehmen.«
»Was sie auch pflichtschuldigst getan haben. Wenigstens ließen Sie Deinem Eingemachten alle Ehre widerfahren. Sie entwickelten,« wandte sich der Pfarrherr an den Edelmann, »viel Liebenswürdigkeit, besonders der schöne Duc de la Garde; gleichwohl war ich froh, als sich die Herrschaften wieder empfahlen.«
»Und ich auch,« ergänzte die Nichte mit tiefem Atemzuge. »So tadellos auch ihr sonstiges Benehmen war, ihre Blicke gefielen mir nicht. Besonders der Blick des häßlichen Marquis hatte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, einen Ausdruck, daß man sich vor ihm fürchten konnte. Auch ihre Neugier war unangenehm. Alles wollten sie sehen, und der Herr Oheim war gutmütig und zuvorkommend genug, auf alle ihre – freilich mit äußerster Liebenswürdigkeit vorgetragenen – Bitten einzugehen. Ich bin durchaus nicht erbaut von der Aussicht so naher Nachbarschaft, die diese Ihre Nachricht, liebster Herr Oheim, uns eröffnet.«
»Dennoch werden wir uns schon wohl oder übel mit dem Gedanken vertraut machen müssen, Röschen,« bemerkte der Oheim. »Ich denke, daß wir nicht allzuoft mit ihnen werden in Berührung kommen. Wenigstens werde ich Sorge tragen, daß der Verkehr, wofern er nicht ganz zu vermeiden, auf das äußerste eingeschränkt bleibt.«
Er wandte sich wieder an den Gast: »Nun, was sagen Sie, mein lieber Herr von Gehren, zu dieser unserer neuesten Acquisition?«
Der Edelmann, der mit großer Aufmerksamkeit der Erzählung und dem sich daran knüpfenden Zwiegespräche zwischen Oheim und Nichte gefolgt war, zuckte mit bedeutsamer Miene die Achseln. »Steht es überhaupt so fest,« fragte er, »daß die Herren von Adel sind?«
Der Prediger sah verwundert auf. »Nun, ich denke doch,« erwiderte er betroffen. »Hierorts,« fuhr er zögernd fort, »zweifelt daran kein Mensch. Warum auch? Geld wenigstens und vornehme Allüren haben die Leutlein, das muß ihnen der Neid lassen.«
Herr von Gehren zuckte die Achseln. »Mag sein,« bemerkte er gleichmütig. »Aber wie viele dieser welschen Herren, die, mit ihren Reichtümern prunkend, sich heutzutage unter uns breit machen, mögen ihren Besitz wohl auf ehrlichem Wege erworben haben? Pardon, aber ich kann mir nun einmal nicht helfen, alle diese französischen Ducs, Comtes und Marquis, mit denen die französische Wirtschaft unser Deutschland beglückt hat, was sind sie denn? Gauner, Hochstapler, Prahlhänse und Windbeutel, nichts anderes. Das ganze Pack taugt nichts. Schon die Emigranten der neunziger Jahre waren fast durchweg Hallunken. Habe sie kennen gelernt, als ich damals, ein blutjunger Leutnant, die Feldzüge am Rheine mitmachte. Ausgelernte Mädchenjäger, Lärmmacher und Windbeutel waren sie samt und sonders.«
Der Prediger wiegte mit einem schmerzlichen Lächeln das Haupt. »Ihr Urteil klingt hart,« sagte er, »aber freilich – im Allgemeinen mögen Sie recht haben. Immerhin gibts ja auch Ausnahmen.«
Die große Wanduhr neben der Tür hob zum Schlage aus.
»Halb vier Uhr,« flüsterte Rosa.
»Schon halb vier,« wiederholte der Ohm. Er stand auf. »Wenn es Ihnen recht ist, lieber Freund – ich mache den Vorschlag, daß wir versuchen, noch ein wenig zu ruhen. Von den Einbrechern werden wir wohl in dieser Nacht nichts mehr zu fürchten haben.«
»Hm,« machte Herr von Gehren, dem noch immer die Erzählung des Pfarrers im Kopfe herumging, indem er sich gleichfalls erhob, »denke ja auch, aber – besser ist besser. Ich akzeptiere Ihren Vorschlag, verehrter Freund, unter der Bedingung, daß Sie mir gestatten, in Ihrer Nähe zu bleiben. Ich werde auf dem Kanapee Ihrer Studierstube schlafen.«
»Aber, mein lieber Herr von Gehren,« widersprach der Prediger, »Sie glauben doch nicht, daß ich das zugeben werde? Gehen Sie nur getrost auf Ihr Zimmer. Es hat wirklich für diese Nacht keine Not mehr.«
»Ich glaube auch nicht,« meinte die Nichte, die ans Fenster getreten war. »Der Mond ist aufgegangen, und in einer halben Stunde zieht allmählich der Tag herauf; da hat es wirklich keine Gefahr mehr. Uebrigens stehen um diese Zeit auch die Leute im Dorfe auf.«
Zögernd gab Herr von Gehren nach. Man verabschiedete sich and begab sich zur Ruhe.