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Elftes Kapitel.
Neue Verlegenheiten


Vergebens hatte Emilie schon in den Vormittagstunden nach einer Gelegenheit gespäht, den Kommerzienrat ins Vertrauen zu ziehen. Als es ihr endlich gegen Mittag gelang, auf einen Augenblick in den von ihm bewohnten Seitenflügel des Hauses hinüberzuschlüpfen, erfuhr sie von der Frau, die dem verwitweten Herrn den Haushalt führte, daß dieser schon seit dem frühesten Morgen verreist, und daß seine Rückkehr auf keinen Fall vor dem nächsten Tage zu erwarten sei. Was nun? Sie erwog den Gedanken, bei Bekannten in der Stadt ein Darlehen aufzunehmen und sprach ihn gegen die Mutter aus. Diese bezweifelte, ob unter den gegenwärtigen Umständen jemand den Mut haben würde, auf eine solche Bitte einzugehen. Dennoch beschloß Emilie, den Versuch zu wagen. Allerdings, in den vornehmen Beamtenkreisen, mit denen Kurts wegen die beiden Damen Beziehungen unterhielten, war in dieser Hinsicht am wenigsten zu hoffen; denen durfte sie, ohne sofort Verdacht zu erregen, überhaupt nicht mit einem solchen Anliegen kommen; und sonst war sie noch viel zu wenig mit den städtischen Verhältnissen vertraut, um im stande zu sein, sogleich die richtige Quelle zu finden. Sie hatte ihre Hoffnung auf einige Geschäftsleute gesetzt, von denen sie ihre Waren bezog. Unter dem Vorwande, einige Besorgungen zu machen, machte sie sich nachmittags auf den Weg. Allein die Mutter hatte recht gehabt: schon in dem ersten Hause, in dem sie vorsichtig eine dahingehende Anfrage stellte, machte sie eine Entdeckung, die ihr den Mut zu weiteren Versuchen der Art benahm. Man sah sie zweifelnd an, zuckte bedauernd die Achseln, machte Andeutungen, wie gefährlich es sei, in jetzigen Zeitläuften ohne Bürgschaft Geld auszuleihen und fragte, ob der Herr Bruder Kantonmaire vielleicht für sie gutsprechen würde. Aber der durfte ja eben um keinen Preis davon wissen. Sie mußte die Absicht aufgeben. Es war offenbar, die Leute ahnten den wirklichen Sachverhalt und fürchteten, durch Erfüllung ihrer Wünsche sich selbst bei den Behörden verdächtig zu machen. In der Tat hatte sich die Kunde von dem, was geschehen war, schon am Vormittage wie ein Lauffeuer im Städtlein verbreitet. Die ganze Stadt wußte bereits, daß und auch warum die Polizei in ihrer Wohnung gewesen war. Die Leute auf den Straßen raunten einander die Neuigkeit zu; die Mägde am Brunnen sprachen davon. »Habtersch geheert? Habt ihr's gehört? hieß es, »der Marburger Brofesser, hinner dem se schon lange her sin, is hier gewäsen – hier in Eschewei; he hot sine Mutter besüchen wollen, aber do is sin Stiefbroder, der Kantonmaire, dozu gekommen un hot en verroten. Hot me sin Läwestages denn schon so was von em Broder geheert?« Ein förmlicher Sagenkranz hatte sich bereits um das Ereignis gewoben. Der Kantonmaire hätte ihn selbst auf der Stelle arretieren wollen, hieß es, das hätte sich aber der Professor nicht gefallen lassen; es wäre zu einer »richtigen Keilerei« zwischen den beiden gekommen, der Professor hätte den Stiefbruder die Treppe »hinuntergeschmissen« und, während jener in fürchterlicher Wut die Polizei benachrichtigt habe, sich aus dem Staube gemacht. Wohin er jedoch geraten sein mochte, darüber zerbrachen sich die guten Leute vergebens die Köpfe. Manche wollten wissen – und ihre Vermutung traf merkwürdigerweise das Richtige – daß der Professor die Stadt noch gar nicht verlassen habe; die Damen, so munkelte man, hielten ihn irgendwo im Hause oder in der Nähe versteckt, ohne daß ihn die Polizei bis jetzt hätte finden können. Vielleicht hatte zu diesem Gerücht der Umstand Anlaß gegeben, daß die Polizei mittlerweile auch anderwärts, bei Familien, die ihr verdächtig erschienen, mit Haussuchungen vorgegangen war; aber wie das Gerücht auch entstanden sein mochte, es breitete sich von Stunde zu Stunde weiter aus und fand allgemein Glauben.

Emilie war ratlos. Das Herz voll schwerer Gedanken trat sie den Rückweg an. Am Ausgange der Enggasse in der Nähe des Marktplatzes hatte sie eine seltsame Begegnung. Ein großer blondlockiger Junge strich an ihr vorüber und drückte ihr etwas in die Hand. Verwundert sah sie dem Knaben nach; sie kannte ihn nicht. Mit einer unauffälligen Bewegung ließ sie den Gegenstand, ein Papierknäuel, in der Seitentasche ihres Kleides verschwinden und eilte nach Hause. Dort erst unterzog sie das Blatt einer Besichtigung. Es enthielt nur wenige Worte:

Beabsichtigtes unmöglich. Nächste Nacht nach Mitternacht hierher kommen. Hier näheres erfahren.

S.

Das Wort »hierher kommen« war doppelt unterstrichen. Sie zerbrach sich den Kopf, was die Worte bedeuten sollten. Daß sie eine Nachricht an ihren Bruder enthielten, war ihr ohne Weiteres klar, ebenso, daß kein anderer als Pfarrer Sträubelein der Schreiber sein konnte. Aber worauf zielte jenes »unmöglich«? Ihr Bruder hatte vor, auf dem Flußwege über Bremen nach England zu flüchten; bezog sich darauf die Mitteilung? Dann sah es allerdings um die Rettung ihres Bruders sehr übel aus. Ihr Herz war zum Brechen schwer; dennoch beschloß sie, wenigstens vorläufig, der Mutter gegenüber von dieser Begegnung zu schweigen.

Eine eigentümliche, schwüle Stimmung herrschte Abends bei Tische. Nur der Kantonmaire, der seinen Ärger dem Anscheine nach überwunden hatte, war heiter und aufgeräumt. Galanter und aufmerksamer denn je, plauderte er geistreich von diesem und jenem, vermied es jedoch geflissentlich, die Vorkommnisse der verflossenen Nacht zu berühren. Beide Damen hatten dieselbe Empfindung: die Mißstimmung zu zerstreuen, die sein Auftreten hervorgerufen hatte, bemühte er sich nachträglich umsomehr, den Liebenswürdigen und Unbefangenen zu spielen. Wiederholt richtete er an Emilie das Wort. Der Mahnung der Mutter eingedenk, gab sie sich redliche Mühe, die Bitterkeit zu beherrschen, die sich ihrer gegen den Stiefbruder bemächtigt hatte; aber innerlich zu sehr mit ihren Sorgen beschäftigt, vermochte sie auch nicht, auf den lebhaften Ton einzugehen, den er auf einmal anzuschlagen für gut fand. Nur mit halbem Ohr hörte sie auf seine Bemerkungen hin: auf seine Fragen gab sie nur einsilbige und zerstreute Antworten. Auch die Mutter blieb still und in sich gekehrt. Sie konnte den Gedanken an Friedrich nicht los werden.

Der Kantonmaire war in seine Gemächer zurückgekehrt. In leisem Zwiegespräche berieten Mutter und Tochter, wie ihrem Flüchtlinge zu helfen sei. Endlich hatten sie ihren Entschluß gefaßt … Sie standen auf, kramten eine Weile in Kommode und Kleiderschränken herum und begannen sodann zu nähen mit einer Hast, als hinge Leben und Tod von der Beendigung ihrer Arbeit ab.

Kurz vor einhalb elf Uhr brach Emilie auf. Unbemerkt langte sie vor dem Kloster an, wo sie der Türmer bereits erwartete. Er schloß das Tor ab und führte sie auf dem Wege, den der Leser schon kennt, in die Krypte zu Friedrich. Es war ein bewegtes Wiedersehen.

Auf den Trümmern des ehemaligen Altars, über die der Türmer eine Decke gebreitet hatte, saßen die Geschwister im Scheine einer Unschlittkerze Hand in Hand und besprachen die Ereignisse des Tages. Ruhig und ernst hörte Friedrich den Mitteilungen der Schwester zu.

»Es war ja nicht anders von Kurt zu erwarten,« sagte er leise und drückte ihr die Hand.

Sie übergab ihm den Zettel, den jener Knabe ihr zugesteckt hatte. Er las ihn, hielt das Blatt an die Flamme des Lichts und ließ es langsam verbrennen. Er nahm die Sache viel ruhiger, als die Schwester erwartet hatte.

»Mit der Schiffahrt ist es jebenfalls nichts,« bemerkte er. »Hoffentlich bleibt mir der Weg nach Osten – nach Rußland – noch offen. Ich habe mir vielerlei in der Nacht überlegt, Emilchen. Ich gehe, sobald ich mit Sträubelein werde gesprochen haben, fürs erste nach Falkenhagen. Herr von Gehren wird mir helfen. Er wird mich beraten, wie ich am besten an die russische Grenze gelange.«

»O mein Bruder,« rief Emilie erleichtert, »das wäre ein Gedanke. Und was die Mittel zur Reise betrifft, sie wenigstens haben sich trotz allem gefunden.«

Sie griff in die Tasche, zog einen kleinen Karton hervor und drückte ihn dem Bruder in die Hand. Verwundert hob dieser den Deckel ab. Ein Frauengürtel lag in der Schachtel: er zog ihn heraus und bemerkte, daß er gepolstert und mit einer Anzahl kleiner harter Gegenstände gefüllt war.

»Was ist das?« fragte er und sah die Schwester befremdet an.

»Unsere Brillanten,« flüsterte Emilie. »Ein Gürtel, unter den Kleidern getragen, erschien uns als der beste Bergungsort.«

»Aber Emilie, liebstes Schwesterlein,« rief Friedrich bewegt, »Du denkst doch nicht, daß ich das – das annehmen werde?«

»Unserm Mütterlein und Deiner Schwester zu lieb wirst Du es annehmen, mein Friedrich,« entgegnete Emilie fest. »Was bedeutet uns der glitzernde Tand, wenn wir damit das Leben des Sohnes und Bruders erkaufen können?«

»Aber Ihr lieben guten Herzen,« wandte er ein, »wenn die Flucht nun am Ende mißglückte, so wären sie Euch ja verloren für alle Zeit – und Euer Opfer wäre vergeblich gebracht.«

»Dann hätten sie für uns erst recht keine Bedeutung mehr,« flüsterte Emilie und drängte die aufquellenden Tränen zurück. »Aber nein, mein Friedrich, Gott im Himmel wird nicht zulassen, daß Du den Verfolgern in die Hände fällst. Wir werden mit Inbrunst Tag und Nacht für Dich beten.«

Friedrich besann sich. »Nun gut, mein Schwesterlein,« sagte er, »ich nehme das Opfer, jedoch nur als Darlehen, hörst Du, an. Fristet mir Gott das Leben, so zahle ich seiner Zeit Euch alles mit Zinsen zurück.«

Der Greis, der sich mittlerweile in dem Gange zu tun gemacht hatte, trat wieder in die Kapelle.

»Mamsellchen, bliewen Se noch lange?« fragte er. »Ich muß nuf un de Stünne abgeblosen: Se kun hie gebliewen, bis ich wedder kumme, awwer wann Se weggen wun –«

»Ich gehe, Vater Börner.« Emilie stand auf. »Mein Bruder wird noch ein Stündchen schlafen müssen; hernach ist doch keine Zeit mehr dazu. Und nicht wahr, Ihr sorgt mir dafür, daß er glücklich zur Stadt hinauskommt? Gott im Himmel wirds Euch lohnen, und wir selbst –«

»Machen Se mich doch kine Gauden, Mamsellchen,« fiel ihr der Alte ins Wort. »Se hon mich so veel an miner kranken Ahlen gedohn, das vergesse ich Se Ihr Läwestages nit. Nä« – er schüttelte den Kopf – »de Franzosen süllen en emol nit gekregen. Ich breng' 'n schon rüs, hon Se nur kinne Sorge.«

»Nun denn, Adieu, Friedrich.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, »behüt' Dich Gott!«

»Behüt' Dich Gott, meine liebe, liebe Schwester! Grüß mir die Mutter … Gott behüt' Euch beide!«

Wortlos hielten die Geschwister einander umschlungen. Endlich riß sich Emilie los. Im nächsten Augenblicke war ihre schlanke Gestalt in dem Gange verschwunden …

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