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Es war eine angenehme Stellung, die unser Freund als Rentmeister der freiherrlichen Güter bekleidete. Der Arbeit, die ihm als solchem oblag, war nicht so viel, daß ihm nicht reichlich Muße geblieben wäre für Studien und persönliche Liebhabereien. Der reichhaltigen Bibliothek des Freiherrn, dem Familienarchive mit seinem Schatze alter vergilbter, zum Teil noch aus dem frühen Mittelalter stammender Urkunden verdankte er manche genußreiche Stunde. Dennoch dauerte es einige Zeit, bevor er sich ganz in seine so völlig veränderte Lage hineinfinden konnte. Er hatte ein Asyl, ein sicheres Obdach gefunden. Von polizeilichen Nachforschungen erfuhr er nichts. Man schien, der vergeblichen Verfolgung müde, das Verfahren eingestellt zu haben. Freilich, es konnte, dies anzunehmen, ein Irrtum sein; immerhin hatte er hier, im Gebiete eines Fürsten, der bei aller Abhängigkeit von Napoleon wenigstens deutsch genug dachte, um sich nicht einfach als blindes Werkzeug politischer Verfolgungspläne gebrauchen zu lassen, weniger als anderswo in Deutschland für seine Sicherheit zu fürchten. Zudem machte der große Vollbart, den er sich wachsen ließ, in Verbindung mit der dunkeln Allongenperrücke und der herrschaftlichen Livree, die er nach der fürsorgenden Anordnung des Freiherrn beständig trug, seine Erscheinung für den Fremden so unkenntlich, daß in ihm schwerlich jemand den geächteten politischen »Verbrecher« vermutet hätte. Gleichwohl konnte er sich so bald noch nicht zu einem freieren Aufschwunge seines Geistes, zu einer ruhigeren Auffassung der Lage erheben.
Anfangs hatte der Reiz, den alles Neue auf das menschliche Gemüt zu üben pflegt, seinem Geiste eine gewisse erhöhte Spannkraft verliehen; aber der Reiz der Neuheit verflüchtigte sich und machte der Gewohnheit Platz; die anfängliche Befriedigung wich bald wieder einer Verzagtheit, die, nicht minder durch die traurigen Zeitverhältnisse als durch die Unsicherheit seiner Lage erzeugt, oft nahe an Mutlosigkeit grenzte. Wie ein dumpfer Druck lag die Sorge um die Zukunft auf seinem Gemüte. Der Gedanke, vielleicht für immer aus seiner akademischen Laufbahn verdrängt, vielleicht auf zeitlebens zu dem Lose eines Verbannten verurteilt zu sein, erschien ihm zuweilen ganz unerträglich. Zugleich nagte mehr als je der Schmerz um das Schicksal seines Volkes und Vaterlandes an seiner Seele. Heiß wallte es in ihm auf, wenn er der sittlichen Verheerung, dieser systematischen Verwirrung aller Rechtsbegriffe gedachte, die, eine Folge der Fremdherrschaft, wie eine Pest um sich griff und in den unterworfenen Völkern immer mehr alles Gefühl für Recht und Unrecht, für Moral, Anstand und gute Sitte untergraben und abstumpfen mußte, und seufzend fragte er sich, wie lange es wohl dauern werde, bis der allmächtige Gott die Rute seines Zornes zerbrechen, dem stolzen Emporkömmlinge, der unter den Besiegten sich geberdete wie ein Gott, der Fürsten und Völker wie ein Spielzeug behandelte, endlich sein »bis hierher und nicht weiter!« entgegenrufen würde?
Doch suchten ihn auch freundliche Bilder und Vorstellungen heim. Oft stand er, wenn abends die Dämmerung einbrach, in einer der tiefen Fensternischen seines Zimmers und sah träumerisch in die herrliche Landschaft hinaus. Über einen Ringwall von doppelten Mauern und Gräben hinweg – sie stammten noch aus der Zeit, da das Schloß seine Rolle als Bergfeste behauptete – und über einen teilweise bewaldeten Abhang hinab glitt der Blick in ein lauschiges Wiesental, aus dessen äußerstem Winkel die Turmspitze einer Dorfkirche winkte. Jenseits des Grundes dehnte sich ein malerischer Höhenzug. Terrassenförmig ragten die bewaldeten Berge über einander, bis sie, in bläulichem Dufte verschwimmend, im fernen Hintergrunde mit der Kette des Thüringerwaldes verschmolzen. Dort hinter den Bergen lag seine Heimat. Wieder sah er sich in dem stillen Hinterstübchen, dem traulichen Heim seiner Lieben in der Werrastadt. Wieder empfand er jenes tiefwehmütige und doch zugleich so beglückende Gefühl, das ihn damals erfüllt hatte, als er, zum letztenmale daheim, zwischen Mutter und Schwester auf dem Divan saß, zum letzenmale in die treuen Augen derer sah, die – er wußte es – Tag um Tag für ihn beteten. Die Rührung übermannte ihn, wenn er ihrer aufopfernden Liebe gedachte. Wie gern hätte er ihnen von seinem Geschick Nachricht gegeben, aber er sah keine Möglichkeit. Der Post durfte er, da vor den spionierenden Augen der Polizei selbst das Briefgeheimnis nicht sicher war, keine Mitteilung anvertrauen, und eine andere Gelegenheit gab es auch nicht. Er mußte sich wohl oder übel auf die Zukunft vertrösten, bis vielleicht ein besonderer Glücksfall ihm eine Gelegenheit zuführte.
Und noch ein anderes gar freundliches Bild tauchte aus dem Schoße seiner Erinnerungen auf. Fernab in ein stilles Pfarrhaus trug ihn der Flug seiner Gedanken. Wieder und wieder zogen die dortigen Erlebnisse an seinem Geiste vorüber; wieder und wieder sah er jene sanftschimmernden nußbraunen Augensterne auf sich gerichtet – und wieder durchströmte jenes wonniglich süße, schmerzvoll beglückende Gefühl seine Brust, das er damals empfunden hatte, als er von Rosa Abschied nahm.
Eine schöne Zeit waren für ihn die Winterabende. Da saßen, während draußen der Sturm um die Dächer und Zinnen des Schlosses heulte, der Hausherr und sein Gast in dem wohldurchwärmten Erkergemache, dem Arbeitszimmer des Freiherrn, und spielten Schach oder lasen einander aus Büchern und Zeitungen vor, tauschten ihre Gedanken über das Gelesene aus und besprachen die Tagesereignisse mit einander. Zuweilen gesellte sich noch ein dritter, der Pfarrer des Dörfleins, dazu. Mit diesem Manne, der, eine seltene Erscheinung in jener Zeit, gleich Pfarrer Bohnewald noch fest an dem alten Bibelglauben hing und in jeder Beziehung ein Gesinnungsgenosse des Freiherrn war, entspannen sich wiederholt die ernstesten Gespräche, Gespräche, die für unsern Freund nach der langen Zeit geistlicher Dürre, die hinter ihm lag, nicht weniger als die fleißig besuchten Predigten des Pfarrers eine Quelle unaussprechlichen Segens wurden. In solchen Stunden dünkte er sich wie in eine liebliche grüne Oase versetzt. So war es, alles in allem genommen, doch ein ganz glückliches, idyllisches Stillleben, das man führte.
Jahre vergingen. In den persönlichen Verhältnissen unsers Freundes brachten sie nur insoweit eine Veränderung, als er sich je länger je mehr mit seinem Lose aussöhnte, als sich je länger je mehr die gegenseitige Freundschaft befestigte, die ihn mit dem hochherzigen Freiherrn verband. Auch in der politischen Welt deutete nichts auf einen baldigen Umschwung der Verhältnisse hin. Napoleons Macht schien unüberwindlich zu sein; sein Stern strahlte heller als je. Österreich lag nach dem Kriege von 1809 wehrlos am Boden, jede Freiheitsbewegung in Deutschland war mit eiserner Faust erdrückt, auch der Aufstand der Tyroler unter Andreas Hofer war im Blute seines Leiters erstickt worden; der heldenmütige Freiheitskampf hatte mit der vollständigen Unterwerfung des kleinen Völkleins geendet. Mit unglaublicher Pracht, unter einem Strudel rauschender Vergnügungen war des Korsen Vermählung mit der österreichischen Kaisertochter gefeiert worden; durch die nachfolgende Geburt eines Thronerben erschien der Bestand seiner Dynastie vollends wie für alle Zeiten gesichert. Könige und Fürsten bildeten die Paladine seines gewaltigen Reiches, Künstler und Dichter priesen seinen Ruhm, die größten Geister der Zeit fanden eine Ehre darin, mit hündischem Schweifwedeln sich um seinen Triumphwagen zu drängen. Sein Stirnrunzeln machte die Völker und ihre Gewaltigen zittern. Die halbe Welt lag dem Eroberer zu Füßen.
Dennoch ließen sich tiefer blickende Geister nicht täuschen. Im Schoße der überwundenen Völker bereiteten sich Erscheinungen vor, die gleich dem drohenden Wetterleuchten vor dem Gewitter, gleich dem dumpfen unterirdischen Grollen vor dem Ausbruch eines Vulkans schon das Nahen der Stunde verkündeten, wo der gewaltige, aus Blut und Eisen gezimmerte Bau Napoleonischer Herrlichkeit zusammenbrechen und auf seinen Trümmern eine neue Ordnung der Dinge erstehen sollte, Unter dem Adel wie in den breiten Schichten des Volkes in Stadt und Land gährte es gewaltig. Schon die kühne Waffentat des Braunschweigers Ferdinand, der nach dem Frieden von Schönbrunn im Jahre 1809 sich in löwenmutigem Kampfe mit einer mehr als zehnfachen Übermacht mit seiner »schwarzen Schar« siegreich zur Weser durchschlug und glücklich die schützenden Gestade Englands erreichte, hatte Tausende harrender, seufzender Seelen angemutet wie die Weissagung einer besseren Zeit. Schon wurde von Männern wie dem Freiherrn von und zum Stein, dem Minister Hardenberg, Scharnhorst u. a. der Boden für eine künftige Volkserhebung in Preußen geebnet; Dichter wie Ernst Moritz Arndt, der Turnvater Jahn u. a. zündeten das Feuer patriotischer Begeisterung unter der deutschen Jugend an; vielerorten bildeten sich Vereine, die nach dem Muster des aufgelösten Tugendbundes sich die Pflege vaterländischen Sinnes und Geistes zur Aufgabe machten und in den Gemütern die Hoffnung einer besseren Zukunft nährten.
Auch die Bewohner von Falkenhagen waren nicht unberührt geblieben von den Wellenschlägen der Zeit. Lebhafter als je wurden in dem Erkerzimmer des Freiherrn die Ereignisse des Tages besprochen. Von jeder Reise, die jener in die nicht ferne Residenzstadt unternahm, kehrte er mit einer Menge neuer Nachrichten zurück, die, ein unerschöpflicher Stoff der Unterhaltung, auf Wochen hinaus den Gegenstand ihrer abendlichen Gespräche bildeten. Eines Abends – es war in der Weihnachtszeit des Jahres 1811 – trat er, soeben erst von einer solchen Reise zurückgekehrt, ganz aufgeregt bei seinem Rentmeister ein; ohne sich erst Zeit zur Begrüßung zu nehmen, hob er an:
»Raten Sie mal, mein Lieber, was ich für eine Nachricht bringe. Ha, Sie raten es nicht – nun, ich wills Ihnen sagen: es gibt Krieg – Krieg mit Rußland …«
»Also doch!« rief Friedrich emporschnellend. »Endlich Krieg mit der einzigen noch widerstandsfähigen Macht auf dem Kontinent … Ist es auch wahr?«
»Es ist, wie ich sage,« versetzte der Freiherr. »Napoleon schäumt vor Wut. Die Freundschaft mit dem Zaren, na, sie war ja schon, wissen Sie, wackelig genug seit dem Tage, da der Korse den Verwandten Alexanders, den Herzog von Oldenburg, seines Landes beraubte. Vollends böses Blut hat sodann der famose Zolltarif bei Napoleon gemacht, mit dem der Zar dessen Forderung, die englische Einfuhr von Kaffee und Zucker in Rußland zu verbieten, beantwortet hat. Ha, das war dem Korsen ein Schlag ins Angesicht, daß der Zar es wagen konnte, statt dem englischen Handel vielmehr dem französischen den russischen Markt zu verschließen! Da war die Situation schon heikel genug. Jetzt aber ist die Freundschaft ganz und gar in die Brüche gegangen. Der Zar hat die Zurückziehung der französischen Besatzungen aus Preußen und Pommern gefordert und damit in Wirklichkeit das Signal zum Kriege gegeben. Was sagen Sie nun?«
»Was ich dazu sage?« entgegnete Friedrich von Grandenborn und holte tief Atem. »Möge es, das wünsche ich von ganzem Herzen, der Anfang vom Ende sein!«
»Dazu sage ich mit Herz und Mund Amen,« rief der Freiherr. »Na, und das sage ich: wenn ich den Tag erlebe, wo unser deutsches Volk mit diesem Glücksritter und Leuteschinder, diesem Land- und Thronräuber Abrechnung halten wird, dann bleibe ich nicht daheim hinter dem Ofen sitzen, so wahr ich Joachim heiße!« …
Fast noch früher, als beide ahnen konnten, sollte der Wunsch in Erfüllung gehen. Der Krieg brach aus. An der Spitze seiner »großen Armee« trat der Korse den Marsch nach Rußland an. Ein von Gott Geschlagener kehrte er ohne sie nach Frankreich zurück. Die große Armee lag in den Eisfeldern Rußlands, in den Fluten der Beresina begraben. Halb Europa trauerte.
Aber gleich dem Bergstrome, der von des Winters Strenge in eisigen Banden gehalten, sobald die ersten Frühlingsstürme brausen, seine starre Eisdecke sprengt, mit elementarer Gewalt das hemmende Eisgeröll bei Seite schiebt und schäumend und tosend das Land überflutet, so brach jetzt, in kühnem Freiheitsdrange seine Ketten zerbrechend, sich der geknechtete Volksgeist Bahn.
»Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!« …
Wie der zündende Funke ins Pulverfaß, so schlug, widerhallend von der Oder bis zum Rhein, vom Fels bis zum Meer, der Aufruf ein, den König Friedrich Wilhelm III. von Preußen am 17. März jenes für immer denkwürdigen Jahres 1813 von Breslau aus an sein Volk erließ. Überall riefen die königlichen Worte den Sturm der Begeisterung wach, die Herzen zum Freiheitskampfe wider die welschen Unterdrücker entflammend, und abermals hallten Deutschlands Gefilde wider von Kanonendonner und Schlachtenlärm, boten deutsche Männer, der Freiheit eine Gasse zu brechen, todesmutig die Brust den Mordschwertern des korsischen Menschenwürgers dar …
Alle Stände hatte die Begeisterung erfaßt. Alt und Jung, Männer und Jünglinge, Greise im Silberhaar und halbwüchsige Knaben eilten zu den Fahnen. Der Beamte verließ sein Bureau, der Handwerker die Werkstatt, der Bauer den Pflug, der Edelmann sein Schloß, um auf dem Felde der Ehre für des Vaterlandes Rettung das Leben zu wagen. Die Hörsäle der Universitäten, die Kunstwerkstätten der Künstler standen leer; Professoren, Studenten, Bildhauer, Maler, Dichter, stürzten, Feder und Palette, Meißel und Grabstichel mit dem Schwerte, die Stätten friedlichen Wirkens mit dem Schlachtfelde vertauschend, sich mit Begeisterung in den völkerbefreienden »heiligen« Kampf.
Die brandenden Wogen der Begeisterung, die damals die deutschen Gauen durchfluteten, waren auch über Schloß Falkenhagen, und nicht vergebens, hinweggebraust. Herr von Gehren hatte sein Wort von jenem Abende eingelöst. Wie hätte er, der ehemalige Krieger, der alte Haudegen, daheim bleiben können, wo tausende seiner Standesgenossen, fortgerissen von der Glut der Begeisterung, die heimische Scholle verließen, um mit deutschen Hieben die welschen Unterdrücker aus dem Lande zu jagen? Und wie hätte ein Mann wie Friedrich von Grandenborn es über sich vermocht, in stiller Zurückgezogenheit, dem Schauplatze der Ereignisse entrückt, die Rolle des müßigen Zuschauers zu spielen? Jetzt konnten die Brillanten, deren sich ihm zu Liebe Mutter und Schwester entäußert hatten, erst ihre angemessene Verwendung finden. Sie wurden mit Hilfe seines Freundes zu Geld gemacht, mit dem Erlöse die Kosten einer anständigen Equipierung bestritten und der Rest in einem sicheren Bankhause deponiert. Der Freiherr bestellte sein Haus. Friedrich aber schrieb jetzt, wo er von einer Entdeckung nichts mehr zu fürchten hatte, den ersten Brief nach Haus, einen Brief, worin er ausführlich seine Schicksale schilderte und Mutter und Schwester von seinem Vorhaben unterrichtete, der aber, wie wir sogleich hinzufügen wollen, bei den unsicheren Postverhältnissen jener Zeit niemals den Ort seiner Bestimmung erreichte. Nachdem solchermaßen alles vorbereitet war, brachen die beiden Freunde eines schönen Tages im Aprilmonat nach dem Hauptquartier der Verbündeten auf, um als Kriegsfreiwillige mit Offiziersrang in die Reihen der russisch-deutschen Legion, eines der in der Bildung begriffenen Freikorps, zu treten.