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Laplace! Der Name schlug wie ein Blitz bei mir ein. Die anderen Worte erriet ich mehr, als ich sie verstand. Ich starrte und starrte mit unsicheren Augen den Mann im schwarzen Domino an. Laplace! Der Mann, nach dem der Professor fahndete, und ihr Begleiter waren ein und dieselbe Person. Den Tigermenschen hatte ich ihn im Geiste getauft, und nun war ich in seiner Gewalt. Was wollte er von mir? Was sollte ich tun?
Das waren meine ersten Gedanken. Ich konnte keine weiteren denken, denn die grollende Stimme wiederholte auf französisch:
»Rasch! Welches Stockwerk?«
Gleichzeitig spürte ich einen Griff um meinen Arm, der mich aufschreien ließ. Es war so, wie wenn der Knochen geknickt werden sollte. Was sollte ich tun? Ich suchte Ordnung in meinen Kopf zu bringen, in dem sich noch alles drehte. Was in aller Welt konnte ich tun? Unter vier Augen mit dem schwarzen Domino war ich hilflos wie ein Kind, und was wollte er von mir? Wollte er mich ermorden? Wirr im Kopf, wie ich war, erschien mir nichts wahrscheinlicher. Ich fühlte eine Welle des Schreckens über mir zusammenschlagen. Ich stieß ein unüberlegtes Geheul aus:
»Hilfe! Hil…;«
Weiter kam ich nicht. Eine Hand hatte sich um meinen Hals gelegt und ihn zusammengepreßt. Eine leise Stimme murmelte in mein Ohr:
»Geben Sie acht! Sie können genug Französisch, um mich zu verstehen. Rufen Sie noch einmal um Hilfe, dann drücke ich zu – so. In welchem Stockwerk wohnen Sie? Antworten Sie rasch!«
Das Wort »so« wurde durch einen Druck markiert, der mich heftig zwinkern ließ. Ich will nicht behaupten, daß ich alles andere verstand. Aber auch der Ungelehrigste wird in einem solchen Augenblick zum Sprachtalent. Als die Finger ihren Griff um meinen Hals lockerten, gelang es mir hervorzustammeln:
»Zweites Stockwerk … deuxième …«
»Gut.«
Er hob mich auf, als wäre ich zwei Jahre alt, und bevor ich wußte, wie mir geschah, waren wir die Treppe hinauf. Er machte eine fragende Geste nach rechts, und ich nickte. Ohne ein Wort steckte er einen Schlüssel ins Schloß, den er offenbar ebenfalls aus meiner Tasche genommen hatte. Die Tür ging auf, und wir waren in meiner Wohnung.
Eigentlich hatte ich erst jetzt Zeit, an sie zu denken. Blitzartig erinnerte ich mich an alles, was ich mir ausgemalt hatte, als wir ins Auto eingestiegen waren. Die Verräterin! Welche Rolle spielte sie in dieser Sache? War sie ein Werkzeug? Oder ließ sich denken, daß er ihr Entweichen entdeckt hatte und –
Ich konnte nicht länger nachgrübeln. Noch immer die Hand um meinen Arm gepreßt, hatte Laplace Licht angezündet und die Gardinen vorgezogen. Ich hatte Zeit, ihn zu beobachten. Er mußte älter sein, als ich anfangs geglaubt hatte. Das Haar schimmerte weiß, und das Gesicht war tief gefurcht. Aber es waren keine Falten der Erschlaffung. Ich brauchte den Blick nur eine Sekunde zu den tiefliegenden Augen zu erheben, um das bestätigt zu sehen. So aus nächster Nähe konnte ich feststellen, daß sein Brustumfang gewaltig war; er mußte sehr stark sein. Wieder verstand ich, daß eine Frau wie sie –
Laplace hatte seine Musterung meiner Person beendet.
»Wer sind Sie?« fragte er kurz angebunden.
»Ich heiße Hegel«, erwiderte ich, indem ich mich aufrichtete und denselben knappen Ton anzuschlagen versuchte. Ich weiß nicht, ob es mir gelang.
»Was sind Sie?«
»Schriftsteller.« Ich merkte, daß ich mehr französische Worte kannte, als ich selbst wußte.
»Hm! Nun, wir werden sehen. Sie erinnern sich, daß wir uns heute abend schon getroffen haben?«
»Ja. Was wollen Sie von mir?«
»Sie werden gleich erfahren, was ich von Ihnen will. Sie und ein anderer Herr hatten das Kabinet neben dem meinen. Wer war der andere Herr?«
»Ein zufälliger Bekannter.«
»Das ist nicht wahr. Auf einem Maskenball soupiert man nicht mit einem Herrn, wenn es nicht ein Freund ist.«
»Es ist trotzdem wahr. Aber ich kenne seinen Namen. Sie können ihn gern erfahren, wenn Sie wollen.«
»Wie heißt er?«
»Pitz. Er ist Lehrer des Chinesischen an der Universität.«
Ich wunderte mich mehr und mehr über die Leichtigkeit, mit der ich mich in der fremden Sprache auszudrücken vermochte. Später habe ich gefunden, daß, wenn man stark erregt ist, dies in zweierlei Art auf die Sprachfähigkeit einwirken kann. Entweder spricht man mit ungewöhnlicher Leichtigkeit, oder man verliert das Sprachvermögen ganz und gar.
»Chinesisch!«
Laplace war bei meiner letzten Antwort zusammengezuckt und schielte mich unter den gesenkten Lidern hervor an. Was in aller Welt hatte das zu bedeuten? Der Professor hatte mich lange angestarrt, als ich ihm die Details über Herrn Pitz erzählte. Nun stand dieser Laplace da und stierte mich mit ein paar Augen an, die unter den Brauen geradezu schwelten! Und warum? Weil ich erwähnt hatte, wer Herr Pitz war! Was für Geheimnisse trug nur Herr Pitz mit sich herum?
»Chinesisch!« wiederholte Laplace zum zweitenmal. »Und Sie kennen ihn nicht näher?«
»Ich weiß, wer es ist, und das habe ich Ihnen gesagt. Er ist Lehrer des Chinesischen an der Universität. Kennen Sie ihn?«
»Ich habe hier Fragen zu stellen, nicht Sie. Antworten Sie mir: Warum saßen Sie und dieser Herr Pitz da und sprachen über mich?«
»Herr Pitz und ich sollten …«
Ich sah mein Gegenüber mit der ehrlichsten Verblüffung an. Was meinte er? Herr Pitz und ich sollten über ihn gesprochen haben? Meines Wissens hatten wir über alles andere gesprochen, hauptsächlich über meinen chinesischen Mantel. Laplace warf mir einen flammenden Blick zu.
»Sie beide haben über mich gesprochen. Lügen Sie nicht! Ich rate Ihnen, lügen Sie nicht. Ich saß in dem Kabinett neben Ihnen, und nicht ein, sondern mehrere Male hörte ich Sie meinen Namen nennen. Ich habe gute Ohren. Ich veranlaßte meine Begleiterin, sich zu überzeugen, wer von mir sprach. Sie waren es und dieser Mann, von dem Sie behaupten, daß Sie ihn nicht kennen. Etwas früher saß ich an Ihrem Tisch – erinnern Sie sich daran?«
»Ich – ich erinnere mich daran.«
»Sie fixierten mich, nicht wie man gewöhnlich einen unbekannten Menschen betrachtet, sondern unablässig, wenn Sie nicht gerade die Dame in meiner Begleitung ansahen. Ist das wahr?«
»Das – das geschah unbewußt.«
»Sie gestehen es also zu. Sie haben mir ein Interesse bezeigt, dessen Grund ich zu wissen wünsche. Ich bin in der Stadt hier, um – um nach jemandem zu suchen, der mich kennt. Geben Sie mir eine Erklärung für Ihr Interesse, eine aufrichtige, und zwar rasch, wenn Sie – nun also?«
Er beendete seinen Satz nicht. Er schloß die Finger in einer Art, die nicht mißzuverstehen war. Daß er ein Monomane, wenn nicht ein Wahnsinniger war, war sicher. Wie sollte ich einem solchen das »Interesse« erklären, das ich ihm bezeigt hatte? Wie sollte ich erklären, warum ich und ein Fremder von ihm gesprochen hatten? Denn in gewisser Weise hatten wir das wirklich getan, ich erinnerte mich jetzt daran.
»Monsieur«, begann ich unsicher, »ich werde Ihnen alles erklären, wenn ich kann … Es ist wahr, ich habe Sie bei Tisch gemustert, aber …«
»Keine Ausflüchte! Daß Sie mich bei Tisch angestarrt haben, ist nicht das Wichtigste. Woher kannten Sie meinen Namen? Warum sprachen Sie mit diesem Pitz von mir? Und was haben Sie gesagt?«
»Monsieur, alles, was ich sagte, alles, was ich Herrn Pitz fragte, war, ob er Sie kenne – ich meine jemanden Ihres Namens.«
»Aha! Das haben Sie getan! Und warum?«
»Weil mich jemand gerade heute morgen danach gefragt hatte – und ich – Sie wissen, man wiederholt manchmal solche Fragen –«
»Aha! Tut man das? Und das war die ganze Ursache?«
»Ich schwöre es.«
»Hahaha! Überaus wahrscheinlich!«
»Monsieur, ich schwöre es.«
»Ich lasse mich nicht mit Ihren Schwüren abspeisen. Was wissen Sie von mir?«
»Nichts.«
»Und dennoch erkundigen Sie sich nach mir! Sie bezeigen großes Interesse für einen Unbekannten, nicht wahr? Und Ihr Freund Pitz, was wußte der von mir zu erzählen?«
»Nichts.«
»Aber er kannte meinen Namen?«
»Nein.«
»Und trotzdem hörte ich meinen Namen nennen, mindestens ein halbes dutzendmal! Sie lügen!«
Er beugte sich über mich. Mir war zumute, wie einem armen Alpendorf zumute sein mag, wenn der große Bergsturz über ihm hängt und bereit ist niederzufallen. Plötzlich richtete er sich wieder auf.
»Bis jetzt haben Sie mir keine einzige Erklärung gegeben. Ja, Sie haben versucht, eine zu geben. Jemand hat Sie heute früh nach mir gefragt. Wer war dieser Jemand?«
»Ein zufälliger Bekannter.«
»Wiederum ein zufälliger Bekannter! Sie haben viele von der Sorte! Sie haben zu viele davon! Wer war Ihr Freund von heute morgen?«
»Ein Ausländer.«
»Ein Ausländer? Näher bestimmt?«
»Ein Engländer.«
»Ein Engländer! Nicht ein Amerikaner?«
»Nein, ein Engländer, ein …«
Ich brach ab. Es fiel mir ein, was für einen Beruf dieser Engländer hatte. Und ich war mir klar darüber, welche Wirkung seine Erwähnung auf Laplace haben würde.
Ich hörte ihn zum zweitenmal fragen:
»Ein Engländer? Sein Name?«
»Ich – ich kenne ihn nicht.«
»Sie« – Laplace trat einen kleinen Schritt näher auf mich zu – »Sie haben Pech. Ich rate Ihnen, Ihr Gedächtnis aufzufrischen. Der Name dieses Ausländers?«
Ich weiß, daß ich nunmehr endgültig allen Respekt beim Leser verloren habe. Ich kann mir also gestatten, aufrichtig zu sein. Als Laplace diesen Schritt auf mich zu machte und ich seinen Riesenkörper wieder über mir schweben sah, bekam ich mit einem Male solche Angst, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Meine Zunge war so trocken, daß ich sie kaum zu rühren vermochte, als ich sagte:
»Monsieur, ich versichere Ihnen – ich kenne seinen Namen nicht, aber ich kenne den seines Chefs – Graham.«
»Und was hat er für einen Beruf?«
Nun waren wir trotz alledem dahin gekommen. Mit einer letzten Kraftanstrengung blickte ich dem Franzosen in die Augen.
Sollte ich versuchen zu lügen? Der Blick dieser schwarzen Augen, die über mir brüteten wie ein Gewitterhimmel, nahm mir den letzten Rest jenes Mutes, der zu einer Lüge erforderlich ist.
»Detektiv«, antwortete ich, ohne daß ich das Wort selbst hörte.
Das Gewitter brach nicht los. Merkwürdigerweise blieb es still. Hatte ich mir unnötige Sorgen gemacht? In den letzten zehn Minuten war ich so felsenfest überzeugt gewesen, in welcher Art von Angelegenheit Mr. Graham und sein Assistent Laplace suchten, daß ich mir von der Preisgabe ihres Berufes nur ein Resultat erwartet hatte. Es sah jedoch aus, als hätte ich mich getäuscht. Ich wagte einen scheuen Blick auf den Mann über mir. Er sah mit einem sonderbaren Ausdruck auf mich herab. Den einen Mundwinkel herabgezogen, war seine Miene zu einer starren Grimasse geworden. Er sah aus, als versuchte er zu lächeln. Es war kein geglückter Versuch. Endlich ergriff er wieder das Wort.
»Ein Engländer, der Detektiv ist! Ich kenne keine Engländer, die Detektive sind, und keine solchen Engländer haben Anlaß, mich zu suchen. Wo wohnt Ihr englischer Freund?«
»Rosenvangetsallee 31.«
»Das ist eine Adresse, die Sie Gelegenheit haben werden aufzuschreiben. Auf Ihrem Tisch liegt Papier. Sie sagten ja, Sie seien Schriftsteller?«
»Ja.«
»Soviel ich sehen kann, steht auf Ihrem Papier keine geschriebene Zeile?«
»Ich – ich bin in letzter Zeit nicht mehr sehr fleißig gewesen.«
»Hm, wir wollen sehen, ob etwas von dem, was Sie erzählen, wahr ist. Fürs erste will ich Ihren englischen Freund sehen. Nehmen Sie die Feder und schreiben Sie – kennt er Ihre Handschrift?«
»Nein. Ich habe ihn heute zum ersten Male besucht.«
»Sie halten mit einer gewissen Hartnäckigkeit an Ihren Angaben fest. Wir wollen sehen, ob sie es wert sind. Warum haben Sie ihn heute aufgesucht?«
»Wegen einer Angelegenheit, die ich der Polizei nicht anvertrauen konnte.«
»Einer Angelegenheit von Wichtigkeit?«
»Ja, zum mindesten für mich selbst.«
»War Mister Graham derselben Ansicht?«
»Ja.«
»Es ist also wahrscheinlich, daß er kommt, wenn Sie ihm schreiben, es sei etwas vorgefallen?«
»Ich hoffe es in Ihrem Interesse. Schreiben Sie also!«
»Was soll ich schreiben?«
»Zum Teufel, Sie sind doch Schriftsteller! Das überlasse ich Ihnen selbst. Schreiben Sie einen Brief, der Mister Graham herbeischafft – es war doch Mister Graham, der von mir sprach?«
»Nein, sein Sekretär.«
»Gut, dann schreiben Sie einen Brief, der seinen Sekretär herbeischafft. Aber schreiben Sie französisch oder englisch. Sie haben zehn Minuten Zeit dazu. Es ist gleich vier Uhr, und vor fünf will ich meinen unbekannten Freund hier haben.«
»Aber wie soll der Brief hinkom…;«
»Schreiben Sie!«
Laplace setzte sich in den Sessel, von dem ich aufgestanden war, und ich nahm am Schreibtisch Platz. Ich hatte oft mit schwerem Herzen daran Platz genommen, doch selten mit schwererem als heute. Der Franzose war offenbar verrückt, wenn auch in der logischen Weise seiner Nation. Ich war völlig in seiner Gewalt, und meine Aussicht, ihm zu entrinnen, schien auf einem Brief an einen Menschen basiert zu sein, den ich kaum kannte. Dabei war es meine Pflicht, ihn irgendwie zu verständigen, was er riskierte und in welche Lage er geraten konnte. Er mußte doch wenigstens bewaffnet kommen. Und das sollte ich in einer fremden Sprache zustande bringen.
Ich wählte englisch. Allerdings bin ich im Englischen noch weniger bewandert als im Französischen, aber ich hoffte, daß dies auch bei Laplace der Fall sein werde, und daß er darum gegen das, was ich schrieb, weniger kritisch sein würde. Nach zehn Minuten war es mir gelungen, folgenden Brief zusammenzubringen:
»Lieber Mr. Graham!
Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie um diese Zeit mit einem Briefe belästige, aber es sind Dinge vorgefallen, die mich in eine überaus eigentümliche Lage gebracht haben. Ich wäre Ihnen ungemein dankbar, wenn Sie mir Ihren Sekretär zu Hilfe senden wollten, da ich einen Besuch habe, der mich hindert, mein Haus zu verlassen. Noch einmal, dies ist von größter Bedeutung für mich.
Ihr aufrichtig ergebener Freund
Richard Hegel.«
Ich hatte »Ihr aufrichtig ergebener Freund« gewählt, weil diese Unterschrift mir einen tieferen Sinn zu bergen schien. Auch »Besuch, der mich hindert, mein Haus zu verlassen«, schien mir gut formuliert. Mr. Graham und sein Assistent mußten sich ja gewundert haben, daß ich gar nicht mehr an ihren Tisch zurückkam. Dies konnte freilich andere Gründe haben – und hatte sie auch anfangs gehabt – allein – –
Ich reichte den Brief Laplace, und er las ihn durch. Dann sah er mich mit mürrisch heruntergezogenen Mundwinkeln an. Sollte das ein Lächeln vorstellen?
»O nein«, sagte er kurz. »Streichen Sie: zu Hilfe. Das klingt, als wollten Sie ihn eher warnen zu kommen, als herbeirufen. Ich hoffe in Ihrem eigenen Interesse, daß Sie das letztere wollen. Schreiben Sie nochmals, aber es muß rasch gehen.«
Ich atmete unwillkürlich erleichtert auf. Den Ausdruck, den er beanstandete, hatte ich allerdings nicht ohne tieferen Sinn geschrieben, aber es schien mir, daß dieser unausgesprochene Sinn ohnehin schon aus dem Brief hervorging. Die beiden anderen Wendungen mußten einem aufmerksamen Leser genügen. Und Mr. Graham, der sich mit Philosophie befaßte, mußte ja ein aufmerksamer Leser sein.
Ich schrieb den Brief eiligst noch einmal, steckte ihn in einen Umschlag und schrieb die Adresse. Dann sah ich meinen ungebetenen Gast erwartungsvoll an. Ich hegte die Hoffnung, daß er auf die Straße gehen würde, um einen Vorbeipassierenden aufzuhalten und den Brief auf diese Weise zu befördern. Was ich tun würde, wenn er mich allein ließ, war mir noch nicht recht klar, aber daß ich etwas tun würde, stand für mich fest. Doch Laplace vereitelte meine Hoffnungen.
Als er den Brief in der Hand hielt, stieß er einen leisen Pfiff aus: u–u–u–it.
Ich starrte ihn an. Er sah aus, als erwarte er, daß daraufhin etwas geschehen würde. Was? Hatte er einen Geist zu seiner Verfügung wie Aladdin? Es zeigte sich, daß er etwas zu seiner Verfügung hatte, aber es war kein Geist, wenn es auch ebenso rasch und geräuschlos kam. Kaum zwanzig Sekunden nach seinem Pfiff drehte sich der Türgriff langsam um. Ich zuckte zusammen. Ich hatte draußen keine Schritte vernommen. Jetzt bewegte sich die Tür lautlos in ihren Angeln. Was kam da?
Es war eine Person, die ich völlig vergessen hatte – der chinesische Diener von Laplace. Er stand plötzlich im Zimmer, mit ebenso ausdruckslosem Gesicht wie sonst. Es war, als hätte er seit Jahren in meinem Hause gewohnt und Laplace bedient. Seine schwarzen Steinkohlenaugen blinzelten schläfrig gegen das elektrische Licht. Ich begriff, daß er die ganze Zeit dagewesen sein mußte, obwohl ich ihn, wirr im Kopf nach der Autofahrt mit ihr, nicht gesehen hatte.
Laplace reichte ihm den Brief und murmelte etwas in einer mir unbekannten Sprache. Der Diener verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war, die Tür schloß sich, und ich war wieder allein mit meinem Gast. Ich sank müde auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch zusammen. Laplace hatte sich in den Sessel gesetzt, eine lange Zigarre hervorgezogen und sie angezündet. Er begann mit halbgeschlossenen Augen zu rauchen. Ich hoffte sehnsüchtig, daß er sie ganz schließen würde. Sah er mich? Ich machte ein paar verstohlene Bewegungen, um mich davon zu überzeugen. Es machte den Eindruck, als ob er nichts merkte. Konnte ich ihn irgendwie überrumpeln? Mußte ich hier sitzen und das Ergebnis meines Briefes abwarten? Und was würde das Resultat sein?
Der Rauch der Zigarre stieg in dicken Spiralen auf, wogte durchs Zimmer und zitterte in der stillstehenden Luft. Laplaces Augen funkelten matt unter den Lidern. Plötzlich merkte ich, daß meine Gedanken in die Irre zu gehen begannen. Ich hatte in den letzten Tagen und Nächten kaum fünf Stunden geschlafen. Ich hatte etliches konsumiert und allerlei recht anstrengende Erlebnisse gehabt. Wo befand ich mich eigentlich? Saß ich im Lehnstuhl vor meinem Schreibtisch? Unsinn. Ich stand ja in jenem Zimmer in dem schwarzen Hause … der Rauch, der aufstieg, stammte nicht von Laplaces Zigarre, er kam von den brennenden Holzspänen vor dem Buddhabild … es war nicht Laplace, der da saß; wer war überhaupt Laplace? Es war das Buddhabild, nein, es war der Chinese, der mich in der Dunkelheit gehetzt hatte, nein, es war Mr. Graham im Sultangewand …
Ja, wie denn? Ich war plötzlich erwacht. Da saß Laplace mir gegenüber, so wirklich wie nur je, und mit dem gleichen geistesabwesenden Blick. Hie und da fiel eine Aschensäule von seiner Zigarre. Ich wollte ihn bitten, auf meinen Teppich achtzugeben, aber ich wagte es nicht. Sieh da! Es war nicht Laplace, der da saß, es war ein Tiger; er hatte nur ein Auge, es war ein einäugiger Tiger, der mir gegenübersaß! Das Auge war wund. Es floß Blut daraus; nein, nicht Blut, sondern Feuer in kleinen Bächen; ganz so wie es Feuer geregnet hatte, als sie mich küßte … Plötzlich saß ich wieder in dem Auto; sie lag über mir, ihre heiße Zunge brannte auf meinen Lippen; ihre Glieder schlangen sich um mich wie Seetang; ich ließ mich von ihrem Kuß ersticken – ah, Geliebte, Geliebte – –
Was war dies?
Ich war hellwach. Ich wollte aufstehen, aber es gelang mir nicht. Meine Hände lagen an den Körper gebunden, und Laplace war im Begriff, mir einen Knebel in den Mund zu pressen. Das hatte mein Traumgesicht hervorgerufen.
Wahnsinnig vor Wut machte ich eine titanische Anstrengung, um mich zu befreien. Und sollte es mich das Leben kosten, ich wollte mich wenigstens schlagen, nicht wie ein zusammengebundenes Huhn daliegen und auf Laplaces Gnadenstoß warten. Vor Anstrengung schwollen die Adern an meinen Schläfen an wie Stricke, aber das war auch alles, was sie bewirkte. Ich war von einer allzu erfahrenen Hand gebunden worden. Laplace murmelte über mir:
»Still! Er kommt – still!«
Die letzte Warnung war kaum nötig. Ich sank in meinen Banden zusammen, keuchend und von dem Knebel halb erstickt. Laplace hob mich auf wie ein totes Ding und trug mich in das nächste Zimmer, mein Schlafzimmer, von dem aus ich das beleuchtete Arbeitszimmer überblicken konnte. Er hatte mich eben auf das aufgeschlagene Bett geworfen, als ich die Tür des Arbeitszimmers aufgehen hörte. Ich sah etwas von der Gestalt des Professors und hörte ihn fragen:
»Herr Hegel! Wo stecken Sie denn? Ihre Tür stand offen und ich –«
Dann folgte ein Krach, der die Summe mehrerer Ereignisse repräsentierte.
Laplace machte einen Sprung mitten in das Arbeitszimmer hinein. Der Professor zog blitzschnell einen Revolver aus der Tasche, aber ebenso blitzschnell schleuderte Laplaces geballte Faust die Hand, die den Revolver hielt, in die Höhe. Es war ein Schlag, von dem ich glaubte, daß er dem Professor den Arm abgerissen hätte. Tatsächlich sank dieser schwer herab, aber gleichzeitig schnellte sein linker in die Höhe. Bevor Laplace es sich versah, stieß eine geballte Faust unter seine Kinnlade. Er taumelte, und eine kurze Sekunde hoffte ich, daß er besiegt sei. Aber er war zu stark. Er erholte sich, und mit einem dumpfen Knurren fiel er über den anderen her. Jetzt konnte es keinen Zweifel geben, daß dessen Hand verletzt oder gelähmt war.
Der Professor machte noch einige Ausfälle, aber nur mit der linken Hand, und ein Kampf mit der linken Hand gegen Laplace war von vornherein entschieden. Nach anderthalb Minuten hatte Laplace ihn auf meinen Diwan geschleudert und ihn trotz seines wütenden Widerstandes ebenso wehrlos gemacht wie mich. Erst als dies geschehen war, fiel ein Wort. Laplace richtete sich auf und keuchte, als er seinen überwundenen Gegner sah.
»Ah? Endlich! Sie!«
Er schwieg eine Sekunde und fügte hinzu:
»Sie hier! Das wagte ich wirklich nicht zu hoffen! Und Sie sind also Detektiv geworden?«