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3

Eines Abends spät hatte ich Dienst in der rosaroten Galerie. An dem einen Ende dieser Galerie lag der Palast »Denke an die Erziehung«, wo Seine Majestät wohnte. Ihre Majestät die Kaiserin-Witwe wohnte in dem westlichen Palast, dem Palast »Die nie versiegende Quelle«. Ich stand gerade im Gespräch mit meinem Vorgesetzten, dem Eunuchen Wang, als sich die Tür der verehrungswürdigen Gemächer öffnete und Seine Majestät sich zeigte, gefolgt von den Eunuchen Hsu und Wei. Es war das erstemal, daß ich des Himmelsgeborenen aus nächster Nähe ansichtig wurde; zitternd fiel ich zu Boden, ohne es zu wagen, ihm ins Antlitz zu schauen. Plötzlich hörte ich ihn zu meinem Vorgesetzten Wang sprechen und schlug verstohlen den Blick auf. Ich sah, daß er jung war, kaum älter als ich selbst, und den Zügen nach seiner Mutter glich. Sein Antlitz verriet jedoch, daß er Wein getrunken – ich sage das mit aller untertänigen Ehrerbietung –, und als er sprach, war es offenbar, daß der Gott des Weines seine Stimme mit der seinen vermengte.

»Ha, mein Freund Wang! Was ist das für ein Säugling, den du da in deinen Künsten unterweisest?« rief er.

Ich senkte erneut den Blick und neigte mich demütig neunmal bis zur Erde, was Seine Majestät jedoch gar nicht zu bemerken schien. Der Eunuch Wang erwiderte:

»Sein Name ist Sung-Ching, und er steht seit mehreren Jahren unter meiner Leitung im Dienst des Erhabenen. Es ist meine Hoffnung, daß es mir gelungen ist, ihn zu einem treuen Diener des Herrschers über zehntausend Jahre auszubilden.«

Tung-Chih brach in Lachen aus.

»Das läßt sich hören«, sagte er. »Ich will seine Treue heute nacht erproben. Er soll mir folgen!«

Er begann dem Ausgang der Galerie zuzuschreiten. Wang zupfte mich heftig am Ärmel und schob mich dem Himmelsgeborenen nach, während er mir zuraunte:

»Eile dich! Eile dich! Eine seltene Gnade des Himmels … Eile dich! Laß mich morgen alles wissen, so daß ich die Mütterliche Tugend auf dem laufenden halten kann … Du wirst später Geld von mir bekommen.«

Ich hörte kaum, was er sagte. Während ich in den Fußstapfen des Himmelsgeborenen durch die geschlängelten Gänge des Palastes schritt, schwindelte mir, als ginge ich am Rande eines Abgrundes. Wir kamen an Eunuchen vorbei, die sich zur Erde neigten, und an mandschurischen Soldaten, die regungslos ihre Waffen präsentierten. So erregt war ich, daß mir Dinge auffielen, die ich jeden Tag zu sehen gewohnt war, wie die Zwergbäumchen in den blauen Porzellantöpfen, die unter der Dynastie Ming gepflanzt sein sollten und nicht mehr als drei Handbreit hoch waren, und die Schnitzereien der Holzsäulen, die der Fackelrauch geschwärzt hatte. Ich merkte auch, daß der Boden unter meinen Füßen von vielen Schritten glatt war. Aber wohin es ging, darauf vergaß ich zu achten, bis wir vor einem Tor einer Steinmauer standen. Es wurde von zwei Soldaten bewacht, die sich beeilten, es aufzureißen, als sie unser ansichtig wurden. Draußen hielt eine Sänfte. Seine Majestät stieg ein, und es ging durch neue Höfe und Gänge, bis wir wieder vor einem Tor standen. Dieses Tor erkannte ich. Es war das Ruhmreiche Tor des Westens, das in die Chinesenstadt führte. Wollte Seine Majestät den Palast verlassen?

Auch das Tor der Chinesenstadt war von Soldaten bewacht. Offenbar sahen sie den Kaiser nicht zum erstenmal um diese Tageszeit erscheinen. Das Tor sprang vor uns auf, und die Kulis setzten ihren Marsch fort. Der Weg war ihnen offenbar bekannt, so wie die Sänfte der Wache am Tore vertraut gewesen war. Wir passierten Straßen um Straßen, die meistenteils schliefen, und kamen in Gassen, bei denen dies nicht der Fall war. Ich sah Gesindel schlimmster Sorte, sah Bettler, Opiumraucher, Trinker. Zuweilen durcheilten wir ein besseres Viertel, aber nur, um uns wieder in ein schlechteres zu begeben. Hie und da fiel das Licht von Papierlaternen auf uns, und ich starrte die Eunuchen Hsu und Wei an. Wohin ging es? Aber ihre Gesichter blickten ausdruckslos, und als ich ein einziges Mal das Antlitz des Kaisers zu betrachten wagte, sah ich zu meinem Erstaunen, daß Seine Majestät mich beobachtete. Ich beeilte mich, die Augen niederzuschlagen. Endlich erreichten wir ein Viertel, das ich nach Beschreibungen erkannte, denn es enthielt Häuser, die in der Art der weißen Barbaren gebaut waren. Es war ein Viertel, wo sie sich mit dem ärgsten Gelichter aus Su-Chow und anderen südlichen Häfen nach ihrem Geschmack eingerichtet hatten. Hier hielt die Sänfte endlich an, und der Kaiser stieg aus. Mit all dem Respekt, den ein Untertan dem Herrscher schuldet, sah ich Seine Majestät an. Hatte er hierher kommen wollen? Sicherlich hatten sich die Kulis geirrt. Tung-Chih, der meinen Blick bemerkte, brach in Gelächter aus.

»Seht diesen Sung an!« rief er. »Schaut er nicht drein wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird? Wahrhaftig, er errötet, wenn ich zu ihm spreche. Aber es liegt nichts Unziemliches darin, eine Person mit einem Lamm zu vergleichen. Das Lamm ist das Muster des höfischen Betragens, da es auf die Knie fällt, wenn es an seiner Mutter säugt.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des niedrigen Hauses, vor dem wir uns befanden. Über seinem Eingang hing eine Tafel mit der Inschrift: »Das Haus der fünf Sinne.« Ein alter Mann mit einem Turban auf dem Kopf lugte vorsichtig heraus. Als er Tung-Chih erblickte, verneigte er sich bis zur Erde, indem er Segenssprüche murmelte. Tung-Chih machte mit seinen Fingernägeln, die lang und sichelförmig waren, eine Bewegung durch die Luft.

»Platz«, sagte er kurz.

Der Alte zog, bis zum Boden gebückt, rücklings ab. Hinter Tung-Chih traten die Eunuchen Hsu und Wei sowie ich ins Haus.

Der Raum, in den wir kamen, war niedrig und in einer Weise eingerichtet, wie ich es noch niemals gesehen hatte. Lampen von fremdartiger Form, von denen einige gelbe Zungen durch ein schmales Glasrohr streckten und einen widerlichen Gestank verbreiteten, hingen von der Decke auf drei Tische herab, um die Bänke und Armsessel mit vielfarbigen Kissen angeordnet waren. Auf den Tischen standen Flaschen von verschiedenen Formen, und auf den Stühlen lümmelten Männer, denen man ihre Ausschweifungen ansah, gefüllte Gläser vor sich und Pfeifen zwischen den Lippen. Zu meinem unaussprechlichen Staunen sah ich, daß an einem Tische zwei fremde weiße Teufel saßen. Ich starrte den Eunuchen Hsu an. Es war offenbar, daß dieser schon früher hier gewesen sein mußte, denn als Antwort auf meinen entsetzten Blick murmelte er:

»Das ist der Lieblingsaufenthalt des Sohnes des Himmels. Der Alte, der uns geöffnet hat, ist ein mohammedanischer Renegat aus den südlichen Provinzen.«

»Aber die weißen Teufel?« stammelte ich, kaum den Sinn seiner Worte erfassend.

»Ihretwegen kommt der Sohn des Himmels her. Sie haben Getränke von unbekannter Stärke hergebracht und erzählen große und zahlreiche Lügen. Siehst du nicht, daß der Renegat das Zimmer so eingerichtet hat, wie die weißen Teufel ihre Zimmer einrichten?«

Ich starrte abermals um mich. Wie konnte sich der Himmelsgeborene herablassen, diesen Ort zu besuchen? Mußte sich seine Seele nicht vor Ekel empören? Bemerkte er nicht das widerliche Aussehen dieser Männer? Der eine von ihnen hatte blaue Augen, und was das bedeutet, geht ja genugsam aus den Klassikern hervor. So dachte ich, aber die Eunuchen Hsu und Wei standen regungslos wie zwei Bildsäulen, und der Sohn des Himmels rief plötzlich unerhörtes Entsetzen in mir hervor. Er nahm auf einer Bank an dem Tisch, an welchem die zwei weißen Personen saßen, Platz, sie waren bei seinem Eintritt nicht einmal zu Boden gefallen. Ich war so gelähmt, daß ich nur wie im Traum den Himmelsgeborenen zu dem Renegaten sagen hörte:

»Reiche mir Wein von der Sorte, die der Franzose mitgebracht hat.«

Erst jetzt gelang es mir, meinen Widerwillen zu überwinden und die zwei Personen zu mustern. Sie waren beide von höherem Wuchs, als ich zu sehen gewohnt war, aber im übrigen glichen sie einander nicht. Der eine war mager mit einem länglichen Gesicht. Er war es, der blaue Augen hatte. Und sein Haar glich dem einer Ziege. Sein Aussehen erfüllte mich ausschließlich mit Abscheu und Furcht. Dies war bei der Erscheinung des anderen nicht in so hohem Maße der Fall. Er war von etwas kleinerem Wuchs, aber breiter über der Brust. Er erweckte den Eindruck, als wäre er sehr kräftig. Seine Augen waren schwarz und blitzend. Wenn er sprach, machte er viele Bewegungen mit den Händen, manchmal drehte er die Handflächen nach außen, wie um zu betteln, und dann zog er wieder die Schultern in die Höhe wie ein Stier, der stoßen will. Es fiel mir auf, daß diese beiden Männer jung waren – so wie Seine Majestät und meine eigene Verächtlichkeit. Sie sprachen unsere Sprache. Aber wenn sie das taten, erinnerten sie mich an plappernde Affen. Jetzt nahm der ziegenhaarige Barbar seine Pfeife aus dem Mund und fragte:

»Es schmeckt Euer Majestät also noch immer?«

Der Renegat hatte einen Becher Wein von der Farbe des Opals hingestellt. Tung-Chih tat, anstatt zu antworten, einen tiefen Zug aus dem Becher, dann sagte er:

»Dieser Wein übertrifft unseren Reiswein an Geschmack und Stärke ebensosehr wie die ausländischen Feuerwaffen unsere Bogen. Er wirft seine Beute unfehlbar zu Boden. Ich erinnere mich nicht, in welcher Weise und in welcher Gesellschaft ich in den Palast zurückkehrte, als ich das letztemal davon trank. Ich weiß nur, daß ich mir tugendhaft, weise und mutig vorkam wie König Wen. Bei dem Morgenempfang am folgenden Tage war ich blind, taub und stumm wie ein buddhistischer Mönch, jedoch ohne seine übrigen heiligen Eigenschaften.«

Der freche Barbar brach über die Worte des Himmelsgeborenen in schallendes Gelächter aus, ohne daß dies seinen (des Erhabenen) Zorn erregte.

»Euer Majestät scheinen jedenfalls nach Hause gekommen zu sein«, höhnte er schamlos. »Das hätte ich an Euer Majestät Stelle kaum unternommen. Nun, und was sagt man im Palaste zu solchen Sachen?«

Der Sohn des Himmels betrachtete ihn mit festem Blick, bevor er antwortete:

»Was man im Palaste sagt, geht mich ebensoviel an, wie was man hier in Mao-Changs Haus redet.«

Der ziegenhaarige Barbar schwieg. Der andere, der, wie ich später erfuhr, Franzose war und den Namen Laplace führte, nahm das Wort:

»Und warum suchen Euer Majestät, obwohl Euch der kaiserliche Palast zur Verfügung steht, uns arme Schlucker in Mao-Changs Haus auf?«

Tung-Chih schaute ihn an und bemerkte mit einem Gähnen:

»Der Obereunuch Li-Lien-Ying hat mit den Zerstreuungen, die er in letzter Zeit veranstaltet, keine glückliche Hand gezeigt. Weder die dressierten Tiere aus Japan noch die Tänzerinnen aus Kanton waren unterhaltend. Und dabei waren mehrere der letzteren weiße Frauen.«

»Euer Majestät Worte sind im Grunde genommen höchst schmeichelhaft«, lachte der Franzose Laplace. »Aber ich möchte wetten, daß keine der Tänzerinnen aus Frankreich war. Sonst, glaube ich, wären Euer Majestät die nächste Zeit aus Mao-Changs Haus ferngeblieben.«

»Nein«, bestätigte Tung-Chih, »keine von ihnen war aus Frankreich. Sind denn die französischen Frauen so unterhaltend?«

Laplace zuckte die Achseln, so wie es die schwarzen Barbaren zu tun lieben, und zog die Augenbrauen zum Haaransatz empor.

»Was sagen Euer Majestät zu diesem opalfarbenen Wein?« fragte er.

»Ich finde ihn vortrefflich«, erklärte Tung-Chih. »Je mehr ich davon trinke, desto weiser und mächtiger komme ich mir vor. Aber erzähle mir doch von den französischen Frauen!«

»Wenn Euer Majestät«, erwiderte der Franzose Laplace, »von dem opalfarbenen Wein trinken, brauchen Euer Majestät keinen anderen Poeten, um die französischen Frauen zu beschreiben, es wäre denn den gelben Champagner. Ich für mein Teil habe die Frauen des Ostens nie so deutlich vor mir gesehen, als wenn ich Opium geraucht hatte. Da Euer Majestät poetische Begabung besitzen, müssen Sie die französischen Frauen in diesem Becher ebenso deutlich vor sich sehen, wie man ferne Dinge in der Kristallkugel eines Magiers sieht.«

Der alte Schankwirt mischte sich mit zitternder Stimme in das Gespräch.

»Es ist überaus gefährlich, einen Magier zu besuchen«, murmelte er. »Man setzt sich der furchtbaren Rache der Dämonen aus. Ich weiß es, denn in Kanton suchte ich den Zauberer auf, der mir für einen Tael die Zukunft enthüllte. Kurz darauf erholten sich meine drei Frauen, die an den Pocken krank waren, und ich selbst mußte infolge eines Mißverständnisses der Behörden aus Kanton fliehen. Allah hat uns allen Umgang mit Zauberkünstlern auf das bestimmteste verboten.«

»Wenn ich nicht irre«, sagte Laplace, »hat Allah auch auf das bestimmteste allen Umgang mit Wein verboten. Wenigstens hat er es den Mohammedanern in Arabien und Indien untersagt. Sollte er in China toleranter gewesen sein?«

Der alte Schankwirt wich entsetzt zurück. Tung-Chih, der den Mohammedanismus mißbilligte, benützte diesen Augenblick, um ihm zuzurufen: »Wein!«

An allen Gliedern zitternd, mußte der alte Renegat dem Befehl des Himmelsgeborenen nachkommen.

Tung-Chih fuhr fort:

»Sage mir, sind die französischen Frauen herrschsüchtig?«

»Ob sie herrschsüchtig sind? Welche Frau ist es nicht! Es gibt nur ein Mittel, sich nicht von einer Frau beherrschen zu lassen, das ist, sich von vielen beherrschen zu lassen. Indem man sie miteinander verfeindet, kann man möglicherweise selbst die Herrschaft erringen. Oder es wenigstens glauben, was auf eins herauskommt.«

»Du bist sicherlich Sittenlehrer in deinem Heimatlande gewesen«, meinte Tung-Chih.

»Sittenlehrer! Euer Majestät belieben zu scherzen wie gewöhnlich. Ich war eher das Gegenteil. Aber vielleicht besitze ich die Voraussetzungen, hierzulande Sittenlehrer zu werden?«

»Wie kannst du glauben, daß das möglich wäre?« lehnte Tung-Chih ab. »Du kennst ja nicht einmal die Namen unserer klassischen Schriftsteller. Oder hast du von Tao-Te-King gehört, den Vier Büchern, oder dem Shi-king, Shu-king und Li-ki?«

Laplace zog die Schultern bis über die Ohren hinauf und machte ein bekümmertes Gesicht.

»Ich sehe ein, daß ein Unstern über mir waltet, wohin ich mich auch in der Welt wenden mag«, sagte er.

»Mehr zum Trinken, Mao-Chang!« rief der Himmelsgeborene. »Es ist besser, vom Wein beherrscht zu werden als von den Frauen. Ich muß es wissen!«

Es war für mein untertäniges Auge sichtbar, daß der Gott des Weines während des Aufenthaltes in diesem Schankzimmer mehr und mehr die Herrschaft über Seine Majestät erlangt hatte. Seine letzten Worte hatten mich stutzig gemacht. Es war offenbar, daß auch die weißen Teufel unverschämt genug waren, dies zu bemerken, denn der ziegenhaarige Barbar nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte mit einem frechen Lächeln:

»Sind Euer Majestät endlich die Augen aufgegangen? Wahrhaftig, es war höchste Zeit! Wie steht es mit der Witwe? Wäre es nicht angebracht, ihr den Laufpaß zu geben?«

Ich schreibe die Worte des amerikanischen Hundes genau so nieder, wie sie fielen. Der Staub von vierzig Jahren konnte mich nicht dazu bringen, sie zu vergessen.

Seine Majestät antwortete nicht auf die Worte des Amerikaners. Aber seine Augen blickten ihn mit einem eigentümlichen Ausdruck unverwandt an. Mir fiel plötzlich ein, bei wem ich einen ähnlichen Ausdruck gesehen hatte. Es war in den Augen seiner Mutter, eines Tages, als sie einen Bericht entgegennahm. Der Mann, der ihn ablegte, war ein Eunuch, und die Nachricht war ihr von großem Nutzen, weshalb der Eunuch kurz darauf wegen allzu vielen Wissens geköpft wurde. Ganz so, wie die Mütterliche Tugend diesen Eunuchen angeblickt hatte, betrachtete nun Tung-Chih den Amerikaner. Aber ohne etwas zu merken, fuhr dieser fort:

»Nun ja, man flüstert so allerlei, und wer Ohren hat, der hört zu! Ich begreife, daß Euer Majestät sich nicht nach mehr Frauen solcher Art sehnt. Noch eine wäre, Gott helfe mir …«

»Du bist betrunken!« rief der Franzose Laplace, und ich sah, wie er Nevill (den Amerikaner) unter dem Tisch heftig mit dem Fuß trat. »Euer Majestät dürfen nicht zu viel darüber nachdenken, was ein Amerikaner daherredet, wenn er nüchtern ist, geschweige denn, wenn er betrunken ist!«

Tung-Chih schaute ihn rätselvoll an.

»Wer weiß?« murmelte er. »Der Betrunkene, der Narr und der Prophet sind eins, behauptet das Sprichwort.«

Nevill schien im Begriff, etwas zu erwidern, aber zum zweiten Male berührte Laplaces Fuß unter dem Tisch heftig sein Schienenbein. Nevill verzerrte das Gesicht schmerzlich und schwieg, und Laplace, der den Kaiser nicht aus den Augen gelassen hatte, sagte:

»Wer weiß übrigens? Vielleicht kann man auch in den Phantasien eines betrunkenen Amerikaners ein Goldkorn finden. Meine Ehrfurcht vor Euer Majestät ist so groß, daß ich bereit bin, sogar das zuzugeben, wenn Euer Majestät es für wahr erklären. Davon bitte ich Euer Majestät überzeugt zu sein.«

»Wovon bittest du mich überzeugt zu sein?« fragte Tung-Chih und winkte zum fünften Male Mao-Chang. »Wiederhole, was du gesagt hast, aber sprich langsam, denn alles scheint mir so unbegreiflich rasch zu gehen. Sieh her! Kaum habe ich Mao-Chang gewinkt, da steht auch schon der Wein auf dem Tisch.«

»Ich bat Euer Majestät, davon überzeugt zu sein«, wiederholte Laplace, »daß ich auf ein Wort von Euer Majestät bis zu meinem letzten Blutstropfen baue. Und ich bin bereit, den Kampf gegen alle aufzunehmen, die sich dem widersetzen, was der Kaiser sagt – wer und was sie auch sein mögen! Der Kaiser muß Kaiser in seinem Lande sein.«

Er hatte langsam und mit Nachdruck gesprochen, und Tung-Chih war seinen Worten gefolgt. Seine Majestät saß lange regungslos da, die Augen von einem Schleier überzogen, gleich dem, der die Augen der Vögel bedeckt, wenn sie schlafen oder einschlummern wollen. Endlich wandte er sich Laplace zu und flüsterte:

»Du bist klug und mutig. Sei nicht allzu klug. Das kann gefährlich sein, hier in … aber ich habe Vertrauen zu dir, denn …«

Hier verstummte Seine Majestät und wandte den Blick wieder von dem Franzosen ab.

Oft habe ich seit diesem Tage über die Bedeutung einer feinen und höfischen Ausdrucksweise (in den wir Chinesen sicherlich alle anderen Völker übertreffen) nachgedacht. Was war der Unterschied zwischen dem, was Nevill, und dem, was Laplace sprach? Nichts! Und doch las ich in den Augen des Himmelsgeborenen, daß er Nevills Tod im Sinn hatte, während Laplaces Worte ihm zu Herzen gingen. Wahrlich, die Formen sind wichtiger als das, was sie enthalten. Ich habe dies während meines Aufenthaltes bei den weißen Barbaren immer mehr eingesehen.

Noch viele weitere Worte fielen, die ich vergessen habe. Endlich brachen wir aus Mao-Changs Haus auf, und, um die Wahrheit zu sagen, das erhabene Auge war bereits zum Schlummer geschlossen, und die kaiserliche Stimme sprach die Sprache des Schlummers. Dennoch ging unsere Heimkehr ohne Hindernis vonstatten, und um die Stunde des Tigers (drei Uhr morgens) erreichten wir den Palast Yang-Hsin-Min, wo der Eunuch Wang ungeduldig auf mich wartete. Aber ich speiste ihn mit allgemeinen Redensarten ab. Warum sollte ich mein Wissen für einen Tael verraten, von dem es noch fraglich war, ob ich ihn überhaupt bekam?


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