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Da Maria die Morgenröte ist, welche der Sonne der Gerechtigkeit, Jesus Christus, vorausgeht und sie enthüllt, muß Maria erkannt und offenbar werden, damit auch Jesus Christus es werde.
Der selige Ludwig Maria Grignion von Montfort.
(»Vollkommene Andacht zu Maria«)
Um das Jahr 1050 gab es in der Stadt Arras eine Straße, welche Liebfrauenstraße hieß. In dieser Straße gab es schöne Häuser, aber zwei waren am schönsten, und die lagen nebeneinander; das eine gehörte einem Herrn, der hieß Normann, das andere einem Herrn von Brabant. Diese Herren genossen beide eines mächtigen Ansehens, aber sie teilten sich ungern darein, denn es wollte jeder der erste sein, und deshalb hatten sie Feindschaft.
Es hatte aber Brabant zwei Knaben, Normann einen einzigen nur. Normanns Knabe jedoch, Peter Normann geheißen, schloß insgeheim Freundschaft mit Ithar, dem einen der Knaben des Herren Brabant.
In ihrer Kindheit schlossen sie insgeheim diese Freundschaft, und davon wußten die Väter nicht, denn sie durften es durchaus nicht wissen, wegen der Feindschaft zwischen den Häusern. Es waren nämlich die Knaben voreinander sorglich und strenge behütet, und sie sollten nach dem Willen der Väter keines gemeinsamen Umganges pflegen.
Aber Peter Normann und Ithar Brabant gingen zu ein und demselben Kaplan, zusammen mit den anderen Knaben ihres Alters, denn dieser unterwies sie gemeinsam in der Lehre des Heils.
Zuerst redete Peter Normann kein Wort zu Ithar Brabant und Ithar Brabant nicht zu Peter Normann, weil sie wußten, daß sie Feinde sein sollten. Aber der Kaplan setzte die Knaben einen neben den andern, und wenn sie schon ein anderes Mal sich anders setzen wollten, setzte er sie wieder nebeneinander. Peter Normann tat jedoch so, als sähe er den Ithar Brabant nicht, und dieser tat ebenso.
Es nahte indes die Zeit, daß alle die Knaben zum Tische des Herren gehen sollten. Und der Kaplan sagte am Tage zuvor: Alle Menschen sind Kinder Adams und Evas, denn insgesamt alle haben in der geschaffenen Ordnung nur den einen Adam zum Stammvater, Eva aber zur Mutter. Darum werden die Menschen sündhaft geboren, nämlich aus Adam und Eva, die im Paradiese sündhaft geworden sind. Mit der Sünde ist Feindschaft zwischen die Menschen gekommen, Kain erschlug Abel, seinen Bruder. – Es haben jedoch die Menschen in der Ordnung des neuen und ewigen Bundes einen neuen Stammvater, Christus Jesus, den neuen Adam, alle insgesamt diesen einen, den einen und einzigen Christus, Sohn des lebendigen Gottes, geboren aus Maria der Jungfrau, Christus Jesus, der uns am Kreuze erlöst hat. Es haben die Menschen im Neuen Bund all insgesamt die gemeinsame Mutter, sind nämlich durch Christus Jesus dieser einen Mutter all zu Kindern geworden, Maria der viellieben Frau. – Und der Kaplan erhob seine Stimme, wenn schon nur ein wenig, und sagte: Zwischen die Kinder Marias ist durch Christus Jesus Gottesfrieden gesetzt, die liebreiche Freundschaft. Darum wenn unter euch allfällig heute noch Feindschaft ist, so können die Feinde nicht zu des liebsten Herrn Tisch hingehen und das Brot der Liebe nicht essen, es sei denn, sie versöhnen sich am heutige« Tage. Darum, wenn unter euch noch eine Feindschaft ist, sollen die Feinde in die Kirche zu Unserer Lieben Jungfrau gehen, und dieses sollen sie tun noch am heutigen Tag, und mögen Freunde dort werden; denn so ziemt es den Kindern Marias, der einen Mutter Maria.
Alle Knaben gingen aber heim, denn sie waren gut Freund, allmiteinander. Als Vorletzter jedoch ging Peter Normann aus dem Raume, als Letzter ein Stück hinter ihm ging Ithar Brabant. Peter Normann schaute sich keineswegs um nach Ithar Brabant, und dieser schaute nicht zu ihm vor.
Es ging aber Peter Normann in die Kirche, geheißen zu Unserer Lieben Frau. Als er dort vor dem Bild Mariä der Mutter stand, kam Ithar Brabant und stellte sich neben ihn hin.
Sagte Peter Normann, und dieses war sein erstes Wort: Du bist da. Erwiderte Ithar Brabant: Du bist auch da.
Sagte Peter Normann: Wenn du es meinem Vater nicht sagst, sondern gar keinem Menschen, so will ich dein Freund sein.
Erwidert Ithar Brabant: Auch ich will dein Freund sein, wenn du es meinem Vater nicht sagst, sondern gar keinem Menschen.
Sie versprachen einander, es niemand zu sagen, und so waren sie insgeheim Freunde geworden. Dann verließen sie die Kirche und draußen sagte Peter Normann: Vielleicht meinst du, daß ich dich fürchte, oder warum meinst du, daß ich dein Freund geworden bin? – Erwiderte Ithar: Schäme dich, daß du mich fragst, denn du weißt schon warum. – Da lachte Peter Normann und sagte ja. Sie gaben sich auch die Hand und damit galt es.
In ihrer geheimen Freundschaft erwuchsen die Knaben zu fröhlicher Jugend. Als sie aber groß genug waren, offenbarten sie ihren Vätern, daß sie schon lang sich von Herzen zugetan waren. Der alte Normann sagte zu Peter: Du hast mich verraten. Aber Peter erzählte ihm den Hergang der Dinge. Da entgegnete der alte Normann kein Wort, als jedoch der alte Brabant in der Tagung des Rates eine Sache vertrat, erhob sich Normann und sagte, sie schiene ihm gut so. Darüber staunte Brabant und die ganze Versammlung. Als die Väter gestorben waren, zogen Peter Normann und Ithar Brabant an ihrer Statt in den Rat ein. Und sie hielten die Freundschaft, die sie vor dem Angesichte der Jungfrau sich zugelobt hatten, getreulich. Das Gemeinwesen von Arras erblühte, weil zwischen diesen Mächtigen der Gottesfrieden herrschte.
Wie schon gemeldet, hatte Ithar Brabant einen Bruder. Dieser jedoch liebte den Peter Normann gar wenig und sagte einmal zu ihm: Durch meinen Bruder bist du zu hoher Ehre gekommen, ohne ihn wärest du nichts. Aber Ithar, mein Bruder, ist ein herrlicher Mensch. – Er sagte dieses aber vor Zeugen. Es geriet deshalb Peter in mächtigen Zorn und forderte ihn zum Zweikampf heraus. Da ging jener zu seinem Bruder hin, erzählte den Hergang und sagte: Dein Freund hat mich zum Zweikampf gefordert. Ithar erwiderte: Warum hast du den Handel begonnen? Jener erwiderte ihm: Weil ich dich liebe, Bruderherz. Den Peter Normann aber mag ich nicht. – Da umarmte ihn Ithar und sagte: Es kommt ein bitterer Tag, wie es auch kommen mag.
Peter erschlug am andern Tage den Bruder des Ithar Brabant im Zweikampf. Da wurden Ithar Brabant und Peter Normann zu Todfeinden.
Arras aber, von der Fehde dieser mächtigen Herren zerrissen, litt Schaden. Und es geschahen furchtbare Dinge von beiden Seiten. Auch verließen Peter und Ithar ihre nachbarlichen Häuser; von ihren Getreuen umgeben, wohnte der eine jetzt an dem einen, der andere am andern Ende der Stadt. Ihre Haufen lieferten sich blutige Kämpfe.
Solche Mißachtung des angelobten heiligen Friedens forderte den Himmel heraus. Es zog Pestilenz ein in Arras, welche der schwarze Tod genannt wird. Und es entvölkerten sich die Häuser durch Seuche und Feindseligkeiten.
Das Wehklagen der Weiber und Kinder erbarmte Unsere vielliebe Frau. Sie zeigte sich im Traume dem Peter Normann und dem Ithar Brabant, jedem einzeln; denn sie liebte sie noch von ihrem Knabengelöbnis her, dessen sie eingedenk blieb, obgleich es gebrochen war. Im Traum aber befahl sie jedem einzeln, er solle zu Lambert gehen, dem Bischof, und ihm offenbaren: er werde aus ihren, der Jungfrau Händen, das Heil und Licht gegen Pestilenz und Finsternis des Elends, worinnen die Stadt Arras versunken, empfangen.
Normann ging zuerst zum Bischof und erzählte ihm die Erscheinung; allein dieser hielt sie für einen Traum und achtete nicht darauf. Währenddessen aber fand sich auch Ithar ein und richtete, ohne von Normann zu wissen, seinen Auftrag aus. Der Bischof entgegnete, daß soeben auch Peter Normann bei ihm gewesen sei und das Gleiche erzählt habe. »Wie?? Peter Normann?« schrie Ithar, »der Mörder meines Bruders! wo ist er, daß ich ihn erschlage, bevor er dies Haus verläßt?!«
Es erkannte aber der Bischof hieraus, daß diese beiden Männer, die solche Todfeinde waren, nicht aus Zufall, sondern auf göttliche Anordnung durch Marias Befehl vor ihm erschienen seien. Deshalb beschwor er den Ithar, er solle doch nur einen Augenblick lang überlegen, was es bedeute, daß ihnen die allerseligste Jungfrau einen gleichen Befehl und dieses Befehles Gnade gerade ihnen erteilt habe. Maria selbst, die Mutter des Erlösers! Könne die Liebreiche ihm ein herzlicheres und ein deutlicheres Zeichen geben, daß er solle nach dem Beispiele des Erlösers nunmehr, und vor allem andern, dem Feinde von Herzen vergeben. Ob er denn der Mensch sei, seiner Mutter die Erfüllung einer Bitte zu verweigern. Wie wäre er, Lambert, froh, wenn ihn die Mutter je einer so lieben Bitte würdigen möchte. – Mit solchen und ähnlichen Worten bestürmte er das Herz des Herrn Ithar Brabant. Dieser sah finster zu Boden, aber er gedachte der freundlichen Knabenzeit und wie sie sich damals vor der liebreichen Mutter die Freundschaft angelobt hatten. – Der Bischof erlahmte unterdes nicht, sondern er sagte: Ihr könnt mir glauben, lieber Herr, daß Euer Bruder sich im Himmel für Unsere Mutter wird freuen, wenn Ihr Euch jetzt mit Peter Normann versöhnt! –
Diesmal hatte der Bischof das Wort gesagt, dem Ithar Brabant nimmer zu widerstehen vermochte. Er verzieh seinem Feinde um Christi willen von ganzem Herzen, und ließ ihn durch den Bischof bitten, er solle allein in die Kirche Unserer Lieben Frau kommen, er aber ginge ihm voraus, allein und ohne alle Begleitung und erwarte ihn dort. –
Vor dem Altar, wo einst Peter Normann als Knabe seiner geharrt, harrte nun Ithar, und als Peter Normann erschienen, umarmten sie sich beide und versprachen der Jungfrau aufs neue Gottesfrieden und Freundschaft. Und jetzt genasen die Menschen der Stadt Arras von der Seuche des schwarzen Todes und von allem zerfleischenden Haß. – Der Haß nämlich, was ist er denn anderes als selbst eine Seuche und schwarzer Tod? – Die Liebe aber das Heil gegen seine Pestilenz, das Licht in der Finsternis des Elends. Fürwahr, dieses ist ja der Liebe Herrlichkeit: daß sie zeugt und leuchtet in die Zeit und fortbrennt in die Ewigkeit! Amen.