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Du nimmst hinweg das Urteil von dem Munde des Richters, bis du den elenden Sünder gerettet und mit deinem Sohne versöhnet hast.
Der heilige Bernard.
Im Herbst 1834 kam der Vicomte Alain von … in Paris an. Er zählte damals zwanzig Jahre, war ein frischer schöner Mensch, sorgfältig erzogen und von herrlicher Reinheit. – Die Erlaubnis, nach Paris zu gehen, hatte ihm seine verwitwete Mutter gegeben, der er mit zärtlicher Verehrung anhing. Sie hatte ihn ungern ziehen lassen, aber sie fürchtete, selbstsüchtig zu sein, wenn sie ihn noch länger festhielte im ländlichen Frieden des Schlosses, das sie im Puy de Dome bewohnten. Es war schließlich an der Zeit, daß er in die Welt ging. In der Stunde des Abschieds erhob sich die Mutter und gab ihm, die Tränen zurückdrängend, ihren Segen, mit dem Zeichen des Kreuzes, im Namen des Dreieinigen Gottes. Sie setzte hinzu: Que la Sainte Vierge te garde – möge dich die heilige Jungfrau behüten! – Der junge Mensch trat die Reise mit allen guten Vorsätzen an.
Er betrat aber Paris mit einer Jahresrente von achtzehntausend Goldfranken, weshalb seine Jugend den guten Vorsätzen sehr kurze Zeit standhielt. Zuerst wollte er nur eben elegant sein, was ihm natürlich vollauf gelang. Die Eleganz erhöhte die Anmut seiner Jugend und die Frauen gaben sich wenig Mühe, ihm das Entzücken zu verbergen, das sie an ihm fanden. In die erste Liebesgeschichte verlockte ihn gleichwohl sein Herz, in die späteren seine nunmehr erwachten Sinne. Und indem er auch der Macht gewahr wurde, die unbestreitbar seiner Jugend, seiner Schönheit und Eleganz innewohnte, machte er wie ein Räuber davon Gebrauch. Durch Arbeit nicht gefesselt, verfiel er der Sinnlichkeit in dem Maße, wie er sie stillte.
Genug – nach ein paar Jahren bestand sein Leben nur noch aus wohlgepflegten Lastern. Der einzige Rest von Scham, der ihm verblieb, äußerte sich darin, daß seine Briefe an die ferne Mutter immer kürzer und immer verlegener wurden. Sie erriet, woran es mit ihm war, und vertraute sich ganz der Fürbitte Unserer heiligen Jungfrau an.
Es kam aber mit Alain so weit, daß er vor nichts mehr Ehrfurcht empfand, indem er alles nur noch mit den Augen der Sinnlichkeit ansah und überhaupt nur noch mit seinen Sinnen zu denken gewohnt war. – Damit ihn aber der natürliche Ekel, der sich gegen das Laster in jedem Menschen zeitweise noch erhebt, nicht etwa nachhaltiger bedrohte, stürzte er sich jetzt in Liebesabenteuer gefährlicherer Art, um so durch den Reiz der Gefahr zu ersetzen, was an Neuheit zu mangeln begann.
Eine hübsche Krämerin, die er irgendwie kennengelernt hatte (denn die Frauen der Gesellschaft langweilten ihn manchmal), aber deren Mann mit der Kraft seiner Arme über ihre Torheit wachte, war seit einigen Tagen das Ziel seiner Wünsche. Da nun der Gatte am Sonntag Verwandte außerhalb Paris besuchen gegangen war, gedachte Alain diese Gelegenheit zu nützen. Es war aber diese Krämerin, ob aus Schamgefühl oder Verlegenheit, bleibe dahingestellt, nicht zu bewegen gewesen, zu ihm in seine Wohnung zu gehen oder auch nur die ihrige am genannten Sonntage zu verlassen. Unfähig geworden, sich etwas zu versagen, wollte sich Alain daher selber zu ihr begeben. Es war dies am ersten Sonntage im September des Jahres 1842, welcher Tag eigens genannt sei, da er für Alain eine Bedeutung erlangen sollte, die dieser noch am Morgen des Tages nicht im Geringsten vermutet hätte.
Am Abend des Sonntages also machte sich Alain zu Fuß auf den Weg; denn einen Wagen wollte er der Auffälligkeit halber nicht gebrauchen. Es war aber noch in der Dämmerung, und er fand, daß es noch zu früh sei. Auf seinem Wege kam er in langsamem Dahinschlendern an einer Kirche vorüber, die Unsere Liebe Frau zum Siege geheißen wird. In dieser Kirche fand gerade eine Abendandacht statt; es war nämlich dort die Erzbruderschaft des heiligsten und unbefleckten Herzens Mariä versammelt; woraus wohl deutlich hervorgeht, daß in der Stadt Paris nicht nur dem Fleische gedient wird. Es gingen nun gerade einige Leute in diese Kirche, und aus der sich öffnenden Türe hörte Alain den frommen Gesang herausklingen. Nicht recht wissend, was mit sich, weil es ihm ja noch zu früh war, beginnen, vielleicht auch in einer unbestimmten Erinnerung an die vergessene edlere Gewohnheit, wollte er auch für einen Augenblick eintreten, und tat es. Zur eigenen Überraschung stand er also plötzlich in der Kirche.
Am darauf folgenden Montag betrat ein vornehm gekleideter Mann die Sakristei der Kirche »Unserer Lieben Frau zum Siege« und bat den Pfarrer um eine besondere Unterredung. Der Pfarrer führte ihn sogleich in sein Zimmer.
Dort angelangt, begann der fremde Besucher zu sprechen, und er sagte: »Hochwürdiger Herr, Sie haben vor sich einen Menschen, der von Laster strotzt. Ich weiß nicht, was größer ist: meine Schamlosigkeit oder der Abscheu, mit dem ich mich selber verachte. Aber ich verachte mich grenzenlos. Ich ersticke vor Lasterhaftigkeit – und noch mehr ersticke ich an meinem Abscheu gegen mich selbst. Helfen Sie mir, helfen Sie!«
Der Priester war nicht wenig erstaunt, aber er faßte sich um so rascher und antwortete lächelnd: »Sie irren sich, lieber Herr, Sie irren sich ganz gewaltig. Ihnen ist schon geholfen! In dem Augenblick, in dem mir ein Mensch sagt, daß er ersticke an Abscheu gegen sich selbst, weiß ich vielmehr, daß er zum erstenmal wieder an die freie Luft gekommen ist! An die Luft der Barmherzigkeit Jesu! Fassen Sie sich, lieber Herr, freuen Sie sich! Es ist nur die Gottesluft, die ungewohnte Gottesluft, die Sie benommen macht! Gnade ist es, lieber Herr, die allerfrischeste Gnade, die Sie überwältigt haben muß!« – Und er segnete ihn sogleich mit dem Zeichen des Kreuzes.
Darauf erzählte, nicht ohne Tränen, der Besucher, daß er gestern, ohne eigene Absicht, in die Kirche getreten sei und der Andacht der Erzbruderschaft Mariä beigewohnt habe. Zuerst habe ein Bischof die Kanzel bestiegen, er habe ihm ganz gleichgültig zugehört. Dann aber habe er, der Pfarrer, von der Kanzel herab den Brief eines jungen Menschen verlesen, der sich darin als Sünder bekannt und um Gebet für seine Bekehrung gebeten habe. Daraufhin habe der Pfarrer mit unendlicher Wärme die Versammlung zur Anrufung Marias, der Zuflucht der Sünder, für diesen Menschen ermuntert und selber das Gebet begonnen.
»In diesem Augenblick«, fuhr der Besucher fort, »war ich plötzlich wie vom Blitze getroffen, so furchtbar erschüttert! Was jener Sünder in seinem Briefe bekannt hat, ist gleichsam eine Kinderei gegen mein Leben in den letzten acht Jahren … Dieses mein Leben nun habe ich in diesem einzigen Augenblick, wie im Licht eines Blitzes, überleuchtet gesehen – und der Anblick war so unnennbar häßlich, von einer solchen Scheußlichkeit, daß ich Mühe hatte, nicht laut hinauszuschreien, ja, meine ganze Schande in die Halle der Kirche hinauszuschreien! Ich stand nun gerade an der Seitenkapelle vor dem Liebfrauenaltar, das hatte ich zuerst gar nicht bemerkt. Im Bedürfnis, mich aus der Menge zu flüchten, um nicht vor ihren Augen zusammenzubrechen, habe ich mich in diese Kapelle gestürzt. Was dort in mir vorgegangen ist, zwischen der heiligen Jungfrau und mir, vermag ich noch gar nicht mit Worten zu sagen. Aber ein Bild kam mir vor Augen, das Bild meines Abschieds von meiner Mutter, die mir damals gesagt hat: Möge dich die Jungfrau behüten … Sicher ist, daß ich jetzt nicht mehr so weiterleben kann. Ich gehe an Selbstverachtung zugrunde, wenn ich nicht sogleich ein anderes Leben beginne. Aber das will ich, das will ich … ohne allen Verzug …«
Der so sprach, war niemand anders als der Vicomte Alain. Er begann nicht nur ein anderes Leben, sondern setzte es auch fort und verharrte in ihm. Dieser Bekehrte gehörte in der Tat späterhin zu den christlichsten Edelleuten Frankreichs, ausgezeichnet durch wahrhafte Tugend und dafür bekannt, daß er sie ohne alle Abirrung übte.
Der Tag aber, an dem seine Bekehrung erfolgte, war der Tag Mariä Namen. An eben diesem Tage hatte seine Mutter, wie er alsbald durch ihren Brief erfuhr, der heiligsten Jungfrau das eigene Leben angeboten, damit Marias Fürbitte ihrem Sohne die Gnade der Umkehr erwirke; der Brief brachte daher dem Edelmann auch die Nachricht, daß seine Mutter in einen Marienorden eintreten werde. –