Karl Borromäus Heinrich
Menschen von Gottes Gnaden
Karl Borromäus Heinrich

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Die Beichte

»Irgend etwas muß geschehen, irgend etwas muß ich tun,« sprach Baron Frangart zu sich selber, als er das Hotel verließ, ... »wie soll ich sonst glauben, daß ich überhaupt lebe! ... Denn alles Leben beweist sich nur durch die Tat! ... Irgend etwas muß ich tun ...«

Baron Frangart lenkte seine Schritte zum Liebfrauendom. Er wollte Gott zunächst und dann den Beichtvater um Rat fragen.

Der Beichtvater des jungen Barons war ein alter italienischer Prälat, der nicht eigentlich zur praktischen Seelsorge, sondern, wie sein Beichtkind vermuten konnte, vielleicht in Erfüllung einer geheimen päpstlichen Mission in München lebte. Immerhin nahm er einigen ihm persönlich empfohlenen Menschen, wie zum Beispiel Baron Frangart, der von Bonaventura an ihn gewiesen worden war, regelmäßig die Beichte ab. Er war ein feiner alter Prälat mit weißen Haaren und tiefliegenden Augen voll stiller Glut und voll verklärten Schmerzes über die Welt. Er kannte die Welt.

Und Fritz Freiherr von Frangart begann seine Beichte mit den rituellen Worten:

»Ich armer sündiger Mensch klage mich an vor Gott dem Allmächtigen und Euch, Priester an Gottes Statt, daß ich seit meiner letzten Beichte wiederum gesündigt habe! ...«

Der Prälat begann zu fragen über das erste der zehn Gebote:

»Habt Ihr jemals an Gott gezweifelt? oder an der Lehre Seiner heiligen Kirche? Habt Ihr die täglichen Gebete nicht vergessen? Seid Ihr nicht unandächtig und zerstreut dabei gewesen?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

Der Prälat fragte in betreff des zweiten und drittes Gebotes:

»Habt Ihr den Namen Gottes nie im Leichtsinn eitel genannt? Habt Ihr nie über Gott geklagt? Habt Ihr nie Seiner im Zorn geflucht?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

Im vierten Gebote fragte der Prälat nicht, ob das Beichtkind gegen seine Eltern und gegen den Gehorsam gesündigt habe; denn er wußte, daß diese tot seien. Aber er fragte ihn: »Habt Ihr das Andenken Eurer Eltern niemals entweiht, niemals durch Gedanken oder Worte oder Taten?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

»Gehen wir zum fünften Gebot!« sagte der Prälat. »Habt Ihr Eure Mitmenschen niemals mit Wissen verletzt, geschädigt, beleidigt, verdächtigt, in Gedanken, Worten oder Taten?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

»Sechstes Gebot: Seid Ihr nicht unkeusch gewesen in der Tat? Habt Ihr nicht unkeusch gesprochen? Habt Ihr nicht freiwillig Unkeusches gedacht oder gesehen?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

»Siebentes Gebot: Habt Ihr nicht gestohlen, Geliehenes nicht zurückgegeben, Gefundenes nicht behalten?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

»Achtes Gebot: Habt Ihr nicht gelogen, freiwillig, im Scherz oder aus Not?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals Vater!«

»Neuntes und zehntes Gebot: Habt Ihr nicht begehrt Eures Nächsten Hausfrau und nicht Eures Nächsten Gut, in Gedanken, Worten oder Werken?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

»Gebote der Kirche: Habt Ihr nicht der Fasten vergessen oder der sonntäglichen Messe oder des heiligen Sakramentes der Beichte und des Allerheiligsten Sakramentes des Altares?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

»Habt Ihr auch nicht etwa eine der neun fremden Sünden begangen oder eine der vier himmelschreienden?«

Baron Frangart antwortete, der Wahrheit gemäß: »Niemals, Vater!«

*

Dies alles hatte der Prälat – ein alter feiner Prälat, der die Welt kannte – in immer steigenderem Tone und in immer tieferem Mitleid gefragt; Baron Frangart seinerseits hatte immer leiser und immer schmerzlicher darauf geantwortet.

Nach einer langen Weile des Schweigens begann der Prälat: »In uns allen liegt das Sündhafte verborgen ...« – »Ja, es liegt wohl auch in mir, ich beichte es, Vater ...« – »In uns allen liegt das Sündhafte und Ihr habt mir nicht eine Tat der Sünde gebeichtet! ...« – »Ich weiß von keiner, Vater.« – »So seid Ihr der heiligste aller Menschen oder der unglücklichste!« – »Ich habe nichts von dem getan, wonach Ihr mich gefragt habt ...«

*

Der Prälat – ein alter feiner Prälat, der die Welt kannte – schwieg lange. Endlich fragte er: »Wenn Ihr nichts Sündhaftes getan habt, – was habt Ihr denn überhaupt getan?« – »Nichts, Vater! ...« flüsterte tonlos der junge Baron Frangart ... »Nichts, Vater, aber ich möchte etwas tun, ich muß etwas tun, und da ich keine Sünde tun will, bin ich zu Euch gekommen, um Euch zu fragen, was ich sonst tun kann ...« – »Es gibt nur Eines zu tun, und daß Ihr dies Eine nicht getan, sondern unterlassen habt, dies ist Eure große Sünde ...« – »Was ist es, Vater?« – »Nur dies Eine: das Werk der Liebe.« Mit schwerstem Nachdruck hatte der Prälat die Worte gesprochen.

Nach diesen Worten entstand im Beichtstuhl ein Schweigen, wie es selbst im Beichtstuhle, geschweige denn irgendwo draußen in der Welt, noch nie gehört worden ist. Und nach einiger Zeit schauderte denn auch dem Prälaten davor. »Mein lieber Sohn!« begann er zärtlich, »was wollt Ihr nun tun?«

»Das Werk der Liebe, Vater!«

»Das wäre? ...«

»Ich weiß noch nicht recht, was ... Jedenfalls werde ich zum Beispiel noch heute der Hilfskasse für verarmte Adelige soviel überweisen, als ich zurzeit überhaupt entbehren kann ...«

»Tut es immerhin, es ist besser als nichts, es ist ein Werk der Liebe, aber nicht das Werk der Liebe ...«

»Was ist es, Vater?«

»Mein lieber Sohn, es ist das Werk, das am Ende steht. Die wenigsten vollbringen es, die meisten kommen über seine Vorbereitungen nicht hinaus.«

»So sagt mir zunächst, Vater, welches seine Vorbereitungen sind! ...«

*

Der Prälat – ein alter feiner Prälat, der die Welt kannte – atmete tief auf. »Mein lieber Sohn, von den Vorbereitungen kann ich Euch nur Beispiele nennen. Also zum Beispiel: Ihr seht das junge Mädchen dort am Altar. Es kommt immer in meine Messe, weil Ihr dahinkommt. Es sucht Euch immer mit den Augen. Es liebt Euch. Habt Ihr das noch nicht bemerkt?«

»Schon lange, Vater, aber ich will seine Liebe nicht, weil ich sie nicht erwidern kann.«

»Liebt Ihr überhaupt ein Mädchen?«

»Nein, Vater.«

»Habt Ihr nie ein Mädchen geliebt?«

»Nein, Vater.«

»Nun, so geht wenigstens zu dieser dort hin und dankt ihr einmal für ihre Liebe. Vielleicht liebt sie Euch so, das ihr das allein genügen wird ... Es gibt solche Menschen. – Sie ist schön und es wird Euch wenig Überwindung kosten.«

»Gebt mir noch ein Beispiel!«

»Nun, dort vorn kniet eine alte Frau, seht Ihr sie? – sie weint gerade ... Geht hin und streichelt sie, denn vielleicht fehlt es ihr an Teilnahme. Sie zu streicheln wird Euch schon mehr Überwindung kosten.«

»Gebt mir noch ein Beispiel!«

»Ja, gern. Ihr habt wohl eine Bedienerin zu Hause? Ja, nicht wahr. Gut, fragt sie heute abend, wie es den Leuten geht, die sie lieb hat ... Dies wird Euch wohl am meisten Überwindung kosten, mein lieber Sohn, eine solche Frage an Eure Bedienerin zu richten.«

»Ja, es ist schwer,« antwortete Baron Frangart, aber sagt mir nun, was ist das Werk der Liebe?«

Der Prälat – ein alter feiner Prälat, der die Welt kannte – schwieg zunächst.

»Mein lieber Sohn,« hub er endlich mit einem mitleidigen Seufzer an, »ach, mein lieber Sohn, wenn Ihr nur einmal die Vorbereitungen getan habt! Ihr werdet vielleicht viele Enttäuschungen an den Menschen dabei erleben. Sucht Euch damit abzufinden ... Und kommt vielleicht ein anderes Mal zu mir und fragt mich nach dem eigentlichen Werk ...«

»Oh sagt es mir heute schon, Vater!«

»Ach, mein lieber Sohn! ...«

»Bitte, sagt es, Vater!«

»Wenn Ihr es durchaus wollt ... So hört: Geht hin, mein lieber Sohn, und sucht von allen Menschen, die es gibt, die niedrigsten! Und dort verschenkt Euch ein Mal, nur ein einziges Mal selbst! Dann habt Ihr das Werk der Liebe vollbracht! Aber während Ihr es vollbringt, denkt nicht daran, daß Ihr das Werk vollbringen wollt; denn dies würde Eure Überwindung erleichtern. Sucht Euch – es gibt deren genug – einen menschlichen Grund für ein himmlisches Werk. Dann erst wird es schwer genug für Euch sein, damit es Gott als Euer Werk der Liebe würdige ...«

*

Baron Frangart hatte eben den Beichtstuhl verlassen.

Er trat ruhig auf das junge Mädchen zu, das ihn schon so oft mit den Augen gesucht hatte. Er verneigte sich und sagte leise: »Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, wenn ich Sie störe. Aber ich glaube, Sie sind mir gut. Und ich möchte Ihnen dafür danken.«

»Nicht hier,« antwortete sie flüsternd, »nachher draußen ... Überhaupt, ich bin ein anständiges Mädchen, und wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie Sich schon gefälligst zu meinen Eltern bemühen ...«

Baron Frangart zuckte zusammen. Aber er beherrschte sich und ging zu der alten Frau vor. Er streichelte ihr leise die weißen Haare und sprach mit gedämpfter Stimme:

»Mutter, Sie haben wohl viel zu leiden?«

»Ach, gnädiger Herr, nur ein wenig wanns einem besser gehen tät, nur ein wenig! ... Wann ich meiner Tochter nur ein kleines goldenes Broscherl auf Weihnachten schenken könnt! ...«

Baron Frangart zuckte wieder zusammen, aber er zog seine Geldbörse aus der Tasche und schenkte ihren ganzen Inhalt der Frau.

Baron Frangart saß in seinem Fauteuil am Kamin und läutete der jungen Bedienerin: »Nun, Erna, es kommt Sie wohl hart an, auf Weihnachten allein zu sein. Wollen Sie vielleicht für heute abend zu Ihren Angehörigen heimgehen?«

»Meine Eltern sind schon gestorben, Herr Baron.«

»Oh, das tut mir leid. Aber vielleicht haben Sie sonst jemand lieb, bei dem Sie also heute lieber wären als bei mir? ...«

»Ja, wenn mir der Herr Baron die Ehre erweisen wollen – kein Verhältnis hab ich nämlich nicht, also ...«

Baron Frangart zuckte zusammen, schenkte ihr einen Fünfzigmarkschein, sagte ihr, daß sie für heute die Freiheit habe, zu tun, was ihr beliebe, und entließ sie ...

Schmerzlich lächelnd lehnte sich der junge Baron in sein Fauteuil zurück, sich bangen Träumereien hingebend. Aber dann bezwang er sich und verjagte die Erinnerung an die drei Enttäuschungen, die »das Werk« vorbereitet hatten. Sodann bezwang er sich noch einmal und verbot sich, an das, was er nun vorhatte, anders als in rein menschlichem Sinne zu denken ... Und als Mitternacht schon längst vorüber war, dachte er noch immer an das rein Menschliche; so natürlich, wie es seiner menschlichen Natur gemäß war ...


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