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Der Zug, der den Pater Bonaventura gegen München führte, war gerade in Ingolstadt ausgelaufen. Die Reisenden mußten die Betten der Schlafwagen verlassen und sich ankleiden. Pater Bonaventura, der ja in Deutschland sein Ordenskleid nicht tragen durfte, steckte heute in einem karrierten englischen Reiseanzug. Er lächelte, als er sich, im Spiegel des Coupés, in diesem weltlichen Äußern erblickte. Seit beinahe zehn Jahren, ja, seit 1884, hatte er ununterbrochen das Habit seines Ordens getragen. Wie merkwürdig, daß er das Kleid der Welt, das er bei der Hochzeit seines Freundes ausgezogen hatte, nunmehr bei seiner Beerdigung zum ersten Male wieder anzog!
Draußen schien es Tag werden zu wollen; aber man sah nichts von der Landschaft, da ein dichter Nebel alles verdeckte.
Pater Bonaventura blickte, wie zufällig, nochmals in den Spiegel. Er fand, daß er sich immerhin noch gut machte in diesem englischen Stoff. Plötzlich ertappte er sich bei seinen Gedanken und errötete. In leiser Verwirrung fing er an zu beten und suchte den weltlichen Sinn zu verscheuchen. Er betete, bis der Zug durch den dichtesten Nebel in München einfuhr. Das war gegen sieben Uhr, und er wußte, daß er hier genügend Zeit haben werde, seine Messe zu lesen, da der Zug erst gegen neun Uhr nach Bozen weitergehen sollte. Er nahm sich am Bahnhof einen Wagen und fuhr durch die graue Neuhauserstraße, deren häßliche moderne Häuser seltsam übernächtig aussahen, zum Liebfrauendom. In der Sakristei legitimierte er sich und las dann die Messe an einem der alten Altäre dieser dunkeln und doch so farbenreichen, fast südlichen Kirche. Er las die Messe im schwarzen Ornat, für das Heil der Seele des Baron Frangart. Zum ersten Mal dachte er dabei eigentlich mit vollem Bewußtsein an dessen Tod und fühlte sich tief erschüttert. Und während er die Episteln überlas, blieb er stecken, und seine Gedanken irrten weit ab. Jene schreckliche Nacht fiel ihm ein, die Hochzeitsnacht des Baron Frangart, für den er jetzt diese Messe aufopferte. Sein geistiger Blick senkte sich in die grausige Tiefe des Geheimnisses, worin Gottes Ratschluß unerforschlich gehüllt ist. Eine zarte Trauer beschlich seine Seele. Wie, wenn er damals vorausgesehen hätte, daß Baronin Frangart in zwölf Jahren Witwe sein werde? ...
Aber wiederum regte sich sein stets wachsames und geschultes Gewissen, das gleich einem mißtrauischen treuen Hunde vor der Pforte seiner Seele lag, um jeden unerwünschten Gedanken, der da Eintritt suchte, mit seinen Bissen zu töten, – und verwies ihm, zum zweiten Mal am heutigen Tage, alle weltlichen Gedanken. Er zürnte sich selbst, daß er sich so wenig in der Gewalt hatte; er suchte eine Entschuldigung und schob seine Zerstreutheit auf den Umstand, daß er der genügsamen Stille seines Ordenshauses so plötzlich entrückt worden sei. Verloren blickte er noch einen Augenblick in das schwermutsvolle Dunkel der Kirche hinein und las dann, nach einem langen Seufzer, die Messe weiter. Beim Paternoster sprach er den Satz: » et ne nos inducas in tentationen« zwei, dreimal ...
Verträumt, müde und schläfrig saß er um neun Uhr wieder im rollenden Zuge. Der Halbschlaf brachte ihm längst versunkene Bilder zurück: er stand mit Komtesse Riom am Fenster des Schlosses Choiseul. »Sehen Sie, Miéville, wie schön!« rief sie, auf irgendeinen Baum hinausdeutend, und legte ihre zarte Hand in liebenswürdiger Erregung auf seinen Arm. Und der Schlafende erschauerte, wie er damals im Wachen erschauert war ...
Dann aber warf er seine Schläfrigkeit von sich, ging auf den Korridor des Wagens hinaus und lehnte sich betrübt an das geschlossene Fenster. Draußen senkten sich Wolken von Schnee auf die farblosen Felder herab, in dichten schweren Flocken. Die nahen Berge wurden in verschwommenen Umrissen sichtbar; auch sie waren ganz mit Schnee bedeckt. Ach, dieser rauhe einförmige deutsche Winter! Das Blut des Romanen regte sich in ihm und erbitterte sich gegen die Monotonie der Landschaft. Dann wieder bezwang er sich und verfiel in Nachdenken. Ja, ein solches Klima mußte rauhe, tapfere und genügsame Menschen erzeugen. Er erinnerte sich einiger Deutschen in seinem Ordenshaus. Welch strenge, unbeugsame und doch im Gehorchen so bewundernswerte Menschen! Ihre Heimat ist unwirklich und erlaubt ihnen nicht, sich schnell zu verbrauchen. Sie sind so langsam im Genuß und in der Entwicklung – mehrere Jahrhunderte hinter den romanischen Rassen zurück, die sich um soviel schneller verzehren als sie schneller leben ... Wie gerade und zielbewußt war der Weg, den diese Deutschen eben jetzt gingen! Wie machtlos erschienen ihm in diesem Augenblicke, trotz ihrer Gewandtheit, die Romanen, gegen diese kriegerische deutsche Nation, die sich mit der zermalmenden Langsamkeit ausbreiten würde, mit der sie schon einmal, nach dem römischen Imperium, die leichtlebigen verglühenden südlichen Völker überwunden hatte ...
Sein Auge füllte sich mit Tränen. Oh, es war alles umsonst, es war nicht mehr anzukämpfen gegen dieses gelassene streng erzogene Volk! Was half alle romanische Geschmeidigkeit, aller élan gegen das schwerfällige, aber unerbittliche Vordringen dieser immer noch jungen Nation! ... Er dachte an die anarchischen Zustände Frankreichs und an die bettelhafte Fremdenindustrie Italiens. Und wieder traten ihm Tränen in die Augen.
Der Zug verließ Innsbruck. Und während er den Brenner hinauffuhr, in langsamen keuchenden langweiligen Windungen, dem Auge des Romanen die ganze widerwärtige Häßlichkeit der ungeschlachten weißgrauen Bergmassen preisgebend, knüpften sich Bonaventuras Gedanken fort. Er schaute zurück in die deutsche Geschichte. Welches merkwürdige Schauspiel! Die Germanen hatten die römische Weltherrlichkeit zerstört. Aber war es nicht ein Symbol ihrer vornehmen Anerkennung einer vornehmen, älteren Kultur, daß sich Karl der Große vom Papst die deutsche Kaiserkrone verleihen ließ? ...
Oh die katholische Kirche! Ihre Organisation war das verfeinerte, zu längstem Leben bestimmte Erzeugnis römischen, romanischen Geistes. Und vor ihm hatten sich die Germanen, trotz politischer Übermacht, gebeugt! ... Wie gut verstand er auch jenen armen jungen deutschen Kaiser, den sie den Römling nannten! Wie fühlte er ihm nach, daß er alle Machtfülle für nichts achtete gegen die überlegene Geistigkeit einer älteren Kultur! ... Lange umarmten die Gedanken des Abbé voll Mitleid das Geschick jenes deutschen Kaisers, der sein Herz im Süden hatte und seinen Thron im Norden.
»Der abscheuliche Brenner« (wie ihn der Abbé in Gedanken nannte) war endlich überwunden. Schneefreie, farbreichere Bergspitzen wurden sichtbar. Der Himmel bläute sich und erschien höher als vordem. Bäume, Häuser und Menschen gewannen erst Form und Ausdruck in der durchsichtigen reinlichen Luft, die hier wehte. Und als der Zug in Franzensfeste hielt, sah Bonaventura mit tiefster Rührung zu der warmen strahlenden Sonne empor.
Oh der Süden! Der klare, ausgebreitete, farbige, plastische Reichtum des Südens! Und zum dritten Mal während dieser Fahrt, in deren weißgraue und grauweiße Dürftigkeit er mit Schaudern zurückblickte, fühlte sich Bonaventura dem Weinen nahe, aus jenem heimatlichen Gefühl der Dankbarkeit heraus, mit dem er die satte, lebensfrohe, südliche Landschaft als blutsverwandt, als romanisch umarmte ... Er stand an der Mauer des Bahnhofes, schloß in seligem Taumel die Augen und ließ sich von der mächtigen triumphierenden Sonne mit reinstem Licht überfluten. »Du armer junger deutscher Kaiser!« murmelte er, »ich versteh Dich so gut! ... Wärest Du hier, ich würde Dich streicheln, Dich liebkosen, Dich umarmen. Ich würde zu Dir sagen: laß diese nordische Macht, dieses schläfrige Ansehen, das Du dort genießt! Was liegt noch am Ansehen, wenn es einen friert! was liegt an der Macht, wenn sie sich über graue Länder erstreckt! Komm, hier hast Du heimgefunden! Ja, richte Deine Augen aufwärts! Hier ist der Himmel nicht so niedrig, daß man mit dem Kopf anstößt, wie drüben. Hier ist es warm; hier strahlt die Sonne wie hunderttausend Diamanten. Hier wölbt sich der Himmel so hoch, daß Du ihn nicht ermessen kannst. Hier leuchten Farben, Farben! Hier schlummern noch Rätsel. Hier kannst Du noch irr gehen; niemand nimmt es übel. Hier darfst Du noch weinen, lachen, schreien, singen! ...«
Bonaventura hielt voll seelischer Bewegung inne in seinem Gespräch. Er genoß immerfort die weiche Luft und die liebevollen Strahlen der Sonne; aber zugleich starrte er betroffen, wie als ob er eine ferne oder nahe Gefahr sähe, in die Leere ... Schließlich schüttelte er heftig den erhitzten Kopf; denn er wußte keineswegs, woran er mit sich war –
Er wußte es auch noch nicht, als er wieder in den Zug einsteigen mußte, der nun gegen Süden weiterging. Wie um sich zu erlösen, lenkte er seine Gedanken wieder ins Allgemeine. Der heiße leidenschaftliche mystische Charakter der romanischen Frömmigkeit erhob sich vor seiner Seele; und, in natürlicher Verbindung mit dem kalten Bild des Brenners, die Gestalt des deutschen protestantischen Reformators, der den Gottesdienst vereinfacht, erklärt und ernüchtert hatte. Er verglich im Geist katholische und protestantische Kirchen: den von allen Seiten mit jahrhundertelanger Begeisterung geschaffenen Reichtum der einen, und die gewollte rauhe, nackte Armut der andern. Nein, er als Romane, würde die Protestanten nie verstehen! Aber er verstand, daß diese Art der Verehrung Gottes bei den Deutschen Boden gewinnen konnte. Und er erschrak einen Augenblick vor der herben preußischen Größe, vor ihrer unwirtlichen Einfachheit, vor ihrer kalten Ruhe ... Und mit einem Male war es ihm, als ob er eines der Grundgesetze der religiösen Entwicklung europäischer Rassen entdeckt hätte: der romanische Geist, ins Glühen gebracht durch die reiche lachende Sonne des Südens, suchte nach allen Geheimnissen, nach allen Verwicklungen der Seele; die Germanen aber, denen eine immerfeuchte Luft die Sonne und den Himmel verdüsterte, strebten nach Klarheit, nach Vereinfachung ... Von da aus glaubte er lebhaft und deutlich einen ewigen Unterschied zwischen romanischer und germanischer Kultur zu erkennen; denn schließlich war doch für ihn das religiöse Leben die Quelle aller Kultur ... Jetzt also, gingen seine Gedanken weiter (und seine milden, dunklen Augen umflorten sich), war die Zeit gekommen, wo die Germanen ein zweites Mal den Primat in Europa übernehmen sollten ... Ach, sein romanischer Stolz ertrug diese Vorstellung nicht! Er flüchtete sich in die ihm heilige Idee eines imperiums der katholischen Kirche. War die katholische Kirche nicht in Europa die Kulturmacht mit der längsten, reichsten Tradition! Vielleicht lag es im Willen Gottes, durch die ungebrochene Jugend der germanischen Rasse jenen Geist des Materialismus überwinden zu lassen, der sich im vergangenen Jahrhundert der romanischen Staaten gleich einer verheerenden Perversität bemächtigt hatte! Und wer war berufener als die Deutschen, dieses einfache kriegerische Volk, jenen zersetzenden Geist niederzukämpfen, der ihm selbst noch so fremd war! Dann aber, wenn diese weltgeschichtliche Aufgabe gelöst war, – war dann nicht der Boden bereitet für die allgemeine Versöhnung der Rassen, die er nur im religiösen Sinn begreifen konnte! Und wessen Aufgabe konnte hinwiederum diese weite religiöse Versöhnung sein, wenn nicht die der katholischen Kirche, der » ecclesia triumphans«, wie sie geweissagt war ... Und überwältigt von dieser Vision, an die er als Romane glaubte und als Katholik glauben mußte, hob er wie segnend die Hände über die in der heiteren südlichen Sonne ausgebreitete, farbenreiche, plastische Landschaft ...
*
Gegen vier Uhr nachmittags war Pater Bonaventura in Bozen angekommen, fuhr mit seinem Gepäck, um keine Zeit zu verlieren, rasch in das nächste Hotel, erkundigte sich in aller Eile nach Lage und Entfernung von Frangart und ließ sich sofort einen Wagen holen. Frangart liegt ja von Bozen nur anderthalb Wegstunden südlich. Dann ging der Pater auf sein Zimmer, um sich zu waschen und um seine Kleider zu wechseln; denn hier in Österreich stand es ihm frei, das Ordenshabit der Jesuiten anzulegen. Nachdem er sich Hände und Gesicht gereinigt hatte, überlegte er einen Augenblick, ob es sich verlohne, heute noch das Habit zu tragen. In der großen Eile aber, die er hatte, der Witwe Baronin Frangart seine Teilnahme zu versichern und ihren Sohn kennen zu lernen, vergaß er, wie es schien, auf das was er überlegen wollte, ergriff seinen Hut, ging eiligen Fußes die Treppe hinab und schritt auf den wartenden Wagen zu. Es war ein offener Landauer, und als Pater Bonaventura den Fuß aufsetzte, um einzusteigen, erinnerte er sich plötzlich wieder des Habits. Indessen wollte er nicht mehr umkehren, nahm entschlossen Platz und mahnte den Kutscher zu rascher Fahrt. Es läßt sich schwer sagen, was während der wenigen Sekunden in ihm vorging. Die Frage, ob er nicht lieber nochmals auf sein Zimmer gehen und das geistliche Gewand anlegen sollte, war in ihm leise wach geworden, gleich einer stillen Welle, die sich aufkreiselt im See der Seele. Aber der Hufschlag der Pferde und das Rollen der Räder töteten diese Frage.
Bonaventura betete sein Brevier und sah von Zeit zu Zeit auf, über die blühenden Gärten und Wiesen hinweg. Er fuhr durch Gries und dann auf stiller, abendlicher Straße durch Sigmundskron. »Dort oben liegt Frangart, gleich neben der Kirche,« bemerkte der Kutscher und zeigte mit der Peitsche auf die Höhe. Bonaventura berechnete, daß es höchstens noch fünfzehn Minuten zu Fuß sein könnten, und ließ den Kutscher halten, mit der Weisung, ihn hier zu erwarten. Der stellte sein Pferd im Gasthof rechts an der Straße ein und begab sich in die Wirtsstube. Der Pater aber stieg, von merkwürdigen und unerklärlichen Gefühlen beherrscht, die Straße nach Frangart hinauf.
Er ging ziemlich schnell, hielt aber zuweilen an, und sah in das Tal herunter, wie um sich an dessen Freundlichkeit Mut zu holen. Die Abendsonne senkte sich gemächlich, breit und reif; sie stand nur noch wenig über den Bergen.
Bonaventura näherte sich der Kirche. An der Friedhofsmauer, die sie umgab, lehnte, die Arme über die Brust gekreuzt, ein Knabe. Er lehnte dort und sah dem Herankommenden gleichmütig entgegen. Gekleidet war er in schwarzen Samt, und um die Hüfte war ihm eine schwarzseidene Schärpe geschlungen, deren Fransen zu seiner Linken nachlässig herabhingen. Er trug einen leinenen Kragen, gerändert mit zierlichen Spitzen, dessen Enden breit auseinandergingen, der schlanke Hals lag bloß. Träg und gleichmütig war die ganze Haltung des Knaben, aber trotzdem nicht schlaff und nicht ohne Stolz. Seine seidenen, weichen, schwarzen Haare waren ein wenig gelockt und trugen keinerlei Bedeckung. Lange lange Wimpern beschatteten die dunkeln, mandelförmigen Augen, deren Weiß durch bläulichen Schimmer gemildert war; der Mund des Knaben war halb geschlossen und zeigte seine stolzen Linien. Die Nase erschien schlank und gerade. Die merkwürdig kleinen Ohren waren fast unter den Haaren versteckt. Seine Figur war von liebenswürdigster Zartheit in ihren weichen und doch so bestimmten Formen. Durch die leichten Strümpfe, die an die Kniee gingen, verriet sich ein geschmeidiges schlankes Bein. So lehnte er an der Friedhofsmauer und sah Bonaventura ohne jede Neugier ruhig entgegen.
Bonaventura blieb, unter einem tiefen Atemzuge, stehen. Sein Herz klopfte laut. Er wollte die Arme ausbreiten und rief halblaut: »Mein Sohn! ...« Mit einem einzigen heißen Blick hatte er die seltsame Ähnlichkeit zwischen sich und dem Sohne der Komtesse Riom, der Baronin Frangart, erfaßt. Und er trank diese Ähnlichkeit förmlich in sich hinein ...
Mittlerweile hatte der Knabe die Augenlider etwas hochgezogen, um den Kommenden schärfer anzusehen. Plötzlich schien seine reizvolle, zarte Figur ein leichtes Beben zu durchlaufen. Aber das dauerte nur kurz. Dann stand er wieder vollkommen ruhig und kalt, nur sein Mund öffnete sich leicht zu einem Lächeln. »Er sieht aus wie ein älterer Bruder von mir,« dachte er.
Bonaventura seinerseits hatte sich auch gesammelt, fühlte, daß er dieses Anstarren nicht eine Sekunde länger fortsetzen durfte, und schritt, den Hut lüftend, auf den Knaben zu. Dieser nahm die gekreuzten Arme auseinander, ließ sie sinken, rückte ein wenig von der Friedhofsmauer ab und sagte mit leichter Verneigung: »Baron Frangart.«
»Ich bin Paul Miéville,« antwortete Bonaventura.
»Ah, Herr Paul Miéville, Pater Bonaventura aus Chamfort, Freund von Maman und Papa?« fragte der junge Baron.
Dieser bejahte unter leichtem Erröten: sei es, daß ihm das Benehmen des Knaben zu stolz erschien, sei es, daß er die Korrektur oder vielmehr den Zusatz zu dem Namen, mit dem er sich vorgestellt hatte, fast wie eine Zurechtweisung empfand.
»Es ist mir eine große Ehre, Euer Hochwürden kennen zu lernen,« sprach Frangart ruhig zu ihm. »Sie können Baron Frangart nicht mehr sehen; der Sarg ist geschlossen und steht aufgebahrt in der Kirche. (Dabei verneigte er sich ernst und langsam in der Richtung nach dem Portal). Ich werde Sie selbst bei Baronin Frangart, meiner Maman, melden.« Das kleine Schloß derer von Frangart lag wenige Schritte von der Kirche entfernt. Drei schlanke, schwarze Zypressen auf jeder Seite begrenzten den Weg. Die Mauern des Schlosses waren rötlich verwittert. Es schien verschiedene Male umgebaut worden zu sein; ein Teil war mit dem Hauptgebäude lässig durch einen Mauerbogen verbunden; ein freistehender Turm, der früher einmal eine der Ecken abgeschlossen haben mochte, war durch Um- und Anbauten jetzt, lächerlicherweise, in den kleinen Hof gedrängt, den man durch jenen Mauerbogen ein wenig übersah. Die Fenster staken tief in der Mauer und gaben dem Schloß, das in lautloser Ruhe dalag, den Ausdruck der Erwartung. Der junge Baron schritt ein wenig vor Bonaventura her, der seine elastische, liebenswürdige Knabengestalt mit den Blicken maß und sich entzückt fühlte von ihrer Zierlichkeit ... » Ah, j'avais oublié que vous êtes Français, vénérable Père!« unterbrach dieser jetzt das kurze Schweigen, » je vous demande mille fois pardon, vous n'avez peut-être point compris ce que je viens de vous dire?« »Ich verstehe wenig Deutsch, aber ich habe Sie verstanden, Baron;« antwortete der Pater lächelnd und zugleich erstaunt über soviel Selbstverständlichkeit und Sicherheit der Form bei einem so jungen Menschen. Einen Augenblick dachte er, mit zarter Trauer, an seine eigene illegitime Abkunft, und daß er als Knabe sehr schüchtern gewesen war. Wie durchdrungen vom Glauben an seine gute Rasse erschien der schöne Junge! – Dieser nun öffnete das Tor und ließ Bonaventura eintreten in den dunkeln, breiten und überwölbten Gang, der mit dicken Teppichen belegt war und den Schritt bis zur Unhörbarkeit dämpfte. Eine Dienerin erschien und führte Bonaventura in das Empfangszimmer, während der junge Baron gelassen die Treppe hinaufstieg, um ihn seiner Mutter zu melden. Als er oben war, ging er den Gang hinunter bis an das letzte Zimmer und klopfte leise. Ohne Hast betrat er das alte, niedrige Zimmer, dessen Decke in Holztafeln abgeteilt war und auf den kleinen quadratischen Feldern verblaßte Bilder zeigte. Die Möbel schienen wohl neu zu sein, aber vermieden alle modernen Formen. Ein alter, schwerer Leuchter, aus getriebenem Silber und im Stile des Barock, hing über dem Tisch, der in der Ecke stand, nahe am Fenster, und vom milden schiefen Licht der Abendsonne noch einige Strahlen auffing. Am mittleren Fenster saß in einem niedrigen Fauteuil die Baronin Frangart. Um ihre Schultern hing ein tiefgrüner Shawl, der sich grotesk vom Halbdunkel des Zimmers abhob. Mit großen verträumten Augen sah sie ihrem Sohn entgegen, der ihre Rechte am Handgelenk küßte (schon als dreijähriges Kind hatte er mit Vorliebe dieses unvergleichlich zarte Handgelenk geküßt)... »Herr Paul Miéville, Pater Bonaventura aus Chamfort, ist hier. Willst du ihn empfangen?« »Fritz! ...« »Maman?« »Paul Miéville?« – »Ja, Herr Miéville. Denk dir, Maman, ein Pater im englischen Reiseanzug! Und sieht aus, wie wenn er mein älterer Bruder wäre!« Während dieser leichten kindlichen Worte betrachtete er aufmerksam, aber mit respektvoller Zurückhaltung das Gesicht seiner Mutter. Diese atmete lebhaft und warf einen langen seltsamen Blick zur Kirche hinüber. Ein kurzes Schweigen entstand. »Fritz, willst du mit mir und Herrn Miéville zusammen Abend essen? Nein, das nicht, natürlich nicht, so lange darf er sich nicht aufhalten... Ich meine, du möchtest Herrn Miéville selbst heraufführen ... Er kommt von weit her und kann wohl noch eine Stunde bleiben.«
Es mochte jetzt gegen sieben Uhr abends sein. Der Schall der Aveglocke klang von der nahen Kirche ungebrochen und tief durch die leichte Luft. »Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft und sie empfing vom Heiligen Geist.« Während die Baronin wieder mit langen seltsamen Blicken zur Kirche hinübersah, betete sie mechanisch die heiligen Worte. Und der heutige Traum des Pater Bonaventura, der nunmehr seinen Weg gemacht hatte, stand jetzt auch vor ihrer Seele. Ein Fenster im Schloß Choiseul ... Die Trauer der Baronin war zart wie das Blatt der Mimose, das sich zusammenlegt beim leisesten Windhauch ... Ihre Trauer wurde sogleich getötet durch den ungebrochnen Schall der Glocke.
Aber die Erinnerung war wach und ebenso ungebrochen wie der Glockenklang dort drüben ... Sie hatte ihre Bilder gerettet, weil sie in so langen Jahren des Krankseins nichts Neues erlebt hatte ... Und was den armen Toten betraf: hatten sie sich nicht schon nach wenigen Wochen innerlich voneinander getrennt!...
Paul Miéville, lieber Paul Miéville, einige Wochen braucht man doch, um zu erwachen, um zu verstehen! ...
Oh allmächtiger Gott, warum läßt du uns nicht solange Zeit, warum bindest du uns ewig? ...
Ach, die Glocke schweigt nicht ...: »Und Maria sprach, sieh, ich bin eine Dienerin des Herrn – mir geschehe nach deinem Wort! gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnaden, der Herr ist mit dir ...«
Miéville, du wärest nicht im Kloster, wenn du gewußt hättest, wie edel Frangart war. Er ist schweigend von mir gegangen, ohne ein Wort der Klage, der edle Frangart! ...
Aber man konnte das göttliche Band nicht lösen, die heilige Kirche scheidet nicht ... Oh unerforschlicher Gott!
Die Glocke, wieder die Glocke! ... »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt ...« Das Wort, ach, das Wort, das Wort, war Miéville ... Armer, edler Frangart, wie weh habe ich dir getan in jener Nacht, mit dem Wort, mit dem Schrei ... Oh verlorene Jugend, oh Schrei der Sehnsucht! ... Der Schrei war Miéville ... Und ist Fleisch geworden ... Frevel, grausiger Frevel! ... Fritz! ...
*
Endlich war die Baronin wieder zu sich gekommen. Pater Bonaventura streichelte leise ihr weiches, leichtergrautes Haar und ihre schmale, zitternde Hand. »Ach, Baronin,« sagte er und versuchte zu lächeln, »wir sind beide alt geworden.« Aber vielleicht sagte er das nur, um alles als unbedeutend hinzustellen, zum Beispiel, daß er, Pater Bonaventura, über eine siebenundzwanzigjährige Frau geneigt war.
Der junge Baron saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl und starrte zu Boden; aber in seinen Augen lag jene Glut, welche ist wie eine Fackel, mit der man hineinleuchtet in die Irrgänge, in die dunkeln Winkel der Geheimnisse.
Die Baronin Frangart und Bonaventura hatten sich mehr und mehr gefaßt. Sie saßen zusammen mit dem jungen Baron am Tisch, unter dem Scheine der grellroten Kerzen. Der grüne Shawl, den die Baronin trug, leuchtete noch mehr als vordem. Die drei Menschen sprachen von belanglosen Dingen. Und Bonaventura, der jetzt wieder Muße fand, den jungen Frangart zu beobachten, merkte nicht ohne Kummer, daß dieser auch ihm gegenüber den Ton kalter Höflichkeit niemals verließ. »Euer Hochwürden haben eine beschwerliche Fahrt gehabt.« »Euer Hochwürden belieben ...« »Euer Hochwürden wollen verzeihen, daß ich schon gute Nacht sage ...« Und er empfahl sich, ohne irgend etwas anders als Formeln gesprochen zu haben.
»Auch ich werde gleich gehen,« sagte Bonaventura. »Die Rücksicht auf Ihr Befinden verlangt es.« Die Baronin antwortete nicht, sie machte nur eine leichte, verneinende Bewegung mit der Hand.
Es entstand ein langes Stillschweigen. Da begegneten sich ihre Blicke und ließen nicht mehr voneinander. Aber sie schwiegen ...
Pater Bonaventura ergriff die Hand der Baronin. »Sehen Sie, Baronin, ich könnte .. Vielleicht, daß der heilige Vater in Rom ... Ich könnte wenigstens den Versuch machen .. Vielleicht, daß man einen Grund findet, meine Weihe ungültig zu erklären .. Vielleicht .. Oder aus großer Güte ...«
Ein abgründliches Schweigen wurde von dem zitternden Schein der Kerzen beleuchtet. Da öffnete sich die Tür, und in langem, weißem, seidenem Nachthemd, das die grazile Schönheit schlanker Formen durchscheinen ließ, trat Fritz Frangart mit geschlossenen Augen ein. Die Bronzefarbe des Gesichts, die langen langen Wimpern und das gelockte schwarze Haar kontrastierten seltsam mit dem glänzenden Weiß des Hemdes.
Die Baronin wollte aufschreien, aber Bonaventura legte ihr leis die Hand auf den Mund. »Laßt ihn, Baronin,« flüsterte er, »laßt ihn!« Fritz Frangart setzte sich mit überschlagenen Beinen auf einen Stuhl... »Aber warum liest Herr Miéville den Brief nicht selbst,« fragte er und neigte, wie in Erwartung der Antwort, den Kopf vor ... »Aber ist das nicht indiskret?« begann er nach einigen Sekunden ... Nun hob er die Hände, als ob sie irgend etwas hielten, und las zögernd: »Lieber Freund Miéville-Bonaventura, ich werde vielleicht morgen schon tot sein. Es ist meine letzte Pflicht, Dich zu warnen. Bevor Du irgend etwas unternimmst, frage den alten Choiseul, was er von Deiner Herkunft weiß. Als Ihr, Komtesse Riom und Du, einmal am Fenster standet und ich mit dem Marquis bei seinem schwersten Bordeaux saß, fing er an zu plappern und fragte mich lächelnd: ›Sehen sie nicht aus wie zwei Geschwister?‹ Als ich ihn ausfragen wollte, war er plötzlich nüchtern geworden.
Nimm Dich in acht, Miéville! Choiseul war keiner, der zufällige Vergleiche gebraucht hätte! Na, Du bist ja im Kloster. Leb wohl!
Dein alter
Frangart.«
Fritz Frangart schwieg. »Ja,« begann er schließlich, »das ist auch merkwürdig, Pater Bonaventura sieht aus wie mein älterer Bruder. Er könnte sogar mein Vater sein ... Und Maman sieht er sehr ähnlich.«
Von da ab sprach er nichts mehr. Er lehnte sich in den Stuhl zurück wie in die Kissen eines Bettes. Sein Atem ging vollkommen gleichmäßig. Nach einer Weile starren Wartens erhob sich Bonaventura auf den Fußspitzen, um kein Geräusch zu verursachen; die Baronin öffnete bedachtsam die Türe und ging voran. Bonaventura hob den Knaben vorsichtig auf seine Arme und folgte ihr. Durch das leichte Hemd fühlte er, wie das Blut in dem kleinen, schmächtigen und zierlichen Körper kreiste. Er legte den jungen Baron in sein Bett und bedeckte ihn. Dann verließen sie auf den Fußspitzen das Gemach.
*
Im andern Zimmer aber weinten sie miteinander. Und dann wieder wurden ihre Augen heiß und trocken; sie konnten nicht mehr weinen. Ihre Resignation breitete sich schweigsam über den Raum, wie die Grabesstille sich über den Friedhof breitet, wenn gar keine Luft mehr weht und die Zypressen erstarren. Der Schrei der Sehnsucht war erstarrt ... Einem Schatten gleich schritt Pater Bonaventura den Berg hinunter, durch die hohe, tiefblaue Nacht, unter dem südlich hellen Licht ihrer Sterne ...
Unten holte er seinen Kutscher aus der Schenke; aber er sah, daß dieser schon zu betrunken war, um ihn heimzubringen. Indes waren die Wirtsleute lieb zu Bonaventura und gaben ihrem eignen Sohn den Auftrag, den fremden Herrn nach Bozen zu bringen. Der Kutscher aber rutschte vom Stuhl unter den Tisch und lallte: »Ja, ja, so, so, also ... Adieu ...!«
Der Wagen rollte einsam zurück ...