Karl Borromäus Heinrich
Menschen von Gottes Gnaden
Karl Borromäus Heinrich

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Drittes Buch

... for thou hast been
As one, in suffering all, that suffers nothing

(Denn Du bist, während Du alles zu leiden hattest,
gewesen wie Einer, dem nichts widerfuhr.)

Hamlet, dem Horatio zur Leichenrede

Eine ergebnislose Berufswahl

»Reif also wären wir jetzt!« rief Schlagintweit lachend, als er am 14. Juli des Jahres 19.., kurz vor Mittag, bei Baron Frangart eintrat, um diesem, da er sich zur Abschiedsfeier und letzten Verteilung der Zensuren krank gemeldet hatte, das Maturitätszeugnis zu überbringen.

»Die Frage ist nur, wozu!« erwiderte Frangart gelassen. – »Was mich betrifft, so weiß ich das noch nicht, da studiere ich halt einstweilen Philosophie, das ist für alle Fakultäten Vorschrift: acht Kollegien Philosophie, achtmal sechzehn Mark pro Kolleg macht um einhundertvierundzwanzig Mark Philosophie, die mir der Staat gratis verzapft von wegen Dürftigkeitszeugnis ... Aber was Sie studieren sollten, weiß ich wirklich nicht, Baron, womöglich etwas, wo's wenig Worte zu machen gibt ...« – »Also jedenfalls nicht Philosophie!« erwiderte Frangart. Dann erzählte er Schlagintweit, daß er nach dem Willen zweier seliger Verwandten, seiner Mutter und des Marquis Choiseul, entweder Geistlicher werden oder in die deutsche Armee eintreten solle. Schlagintweit lachte: »Ausgezeichnet, läßt sich beides vereinigen, werden Sie einfach Militärgeistlicher!« Als er aber sah, daß Baron Frangart sehr ernst vor sich hinstarrte, setzte er hinzu: »Oh entschuldigen Sie vielmals!«

Frangart hatte in diesen Tagen mit besten Glückwünschen zur bestandenen Prüfung zwei Schreiben bekommen, eins von seinem österreichischen Vormund und das andere von einem Ordensgenossen Miévilles (dieser selbst weilte gerade bei den Trappisten und durfte also ohne Verletzung der Hausregel keine Briefe schreiben). Man machte ihm darin Mitteilungen vom Stand seines Besitzes. Auf Frangart war alles unverändert, jedoch hatte man, da der Baron es nicht bewohnen zu wollen schien, die Dienstboten bis auf zwei entlassen. Die Verwaltung des Schlosses machte nur geringe Kosten, die von den Zinsen der Stiftung Miévilles hinlänglich bestritten werden konnten (eine Stiftung, welche Frangart, sobald er majorenn geworden wäre, abzulehnen gedachte). Choiseul und Riom hatten, durch Vermittlung einer jesuitischen Genossenschaft in Clermont-Ferrand, ihren Käufer gefunden. Die Vormundschaft hatte diesem Verkauf, wie sie erklärte, mit vielem Recht zugestimmt, weil bei den jetzigen agrarischen Verhältnissen in Frankreich die toten Liegenschaften wenig Erträgnis versprachen. Die von Marquis Choiseul eingerichteten landwirtschaftlich-industriellen Betriebe in umfassender Weise fortzuführen, habe sich für die Vormundschaft als eine zu schwere und zu kostspielige Aufgabe erwiesen. – Die Kaufsumme war beträchtlich und ihre Zinsen, zusammen mit denen des von Marquis Choiseul hinterlassenen beweglichen Kapitals, garantierten Baron Frangart eine sehr hohe Rente. Die aus französischer Hinterlassenschaft geflossenen Kapitalien waren teils beim französischen »Crédit Foncier« angelegt, dessen Directeur-Trésorier, Monsieur Depagne, Marquis Choiseul nahegestanden und ihn stets in ehrlichster Weise beraten hatte, teils in der besten englischen Bank. Die Vormundschaft schrieb, sie habe sich auch dazu berechtigt gehalten, angesichts des niederen Standes aller österreichischen Staatspapiere; auch könne sie keine Steuerhinterziehung darin erblicken, daß diese Kapitalien im Ausland verblieben; denn wenn Choiseul und Riom nicht verkauft worden wären, hätte man diese Güter ja auch in Frankreich versteuern müssen. Was endlich die Schulden des verstorbenen Baron Frangart betreffe, sei dieserhalb noch das prozessuale Verfahren abhängig; der Hauptgläubiger des Verschiedenen habe alle andern Schuldforderungen zu niedrigsten Preisen aufgekauft, sie mit den seinigen zusammen der Vormundschaft präsentiert und, da Zahlung verweigert worden sei, eingeklagt. In dem Prozeß handle es sich – da der andere Besitz des jungen Barons ja nicht aus der Frangartschen Familienhinterlassenschaft komme – nur um Schloß Frangart selbst. Sollte das Gericht trotz nachgewiesener Gütertrennung der verstorbenen Eltern und daraus hervorgehender rechtlicher Konsequenzen gegen die Vormundschaft entscheiden, so werde man, um Schloß Frangart seinem Erben zu erhalten, die Schulden aus dem beweglichen Kapital bezahlen. Die Frage, ob diese Schulden schon verjährt seien, da sie Baronin Frangart, auch als sie in den erblichen Besitz des Schlosses gekommen war, aus dessen Erträgnissen nicht habe bezahlen können, sei gerichtlich noch nicht entschieden. Im schlimmsten Fall werde man übrigens alles tun, um sich auf eine möglichst geringe Abfindung mit dem Gläubiger zu vergleichen und so die Interessen des Baron Frangart bestens zu wahren. – Endlich machte die Vormundschaft Baron Frangart darauf aufmerksam, daß er seinen Militärdienst in Österreich machen müsse, wenn nicht die Entlassung aus dem österreichischen Staatsverband und die Naturalisierung in Deutschland angestrebt werde. Sollte aber Baron Frangart jetzt schon in das deutsche Heer eintreten wollen, so müsse man eine Immediateingabe an Se. Majestät den Kaiser von Österreich richten. Immerhin habe der (zwanzigjährige) Baron Frangart noch ein Jahr der Überlegung Zeit.

So war Baron Frangart auch von dieser Seite und nicht nur von Schlagintweit an die Frage der Berufswahl erinnert worden. Klar und ruhig stellte er bei sich fest, daß es für einen Menschen seiner Art letzten Endes wirklich nur zwei Möglichkeiten gab: die eine, sein Geschlecht fortzuführen und in die Armee einzutreten, oder die andere, den Namen Frangart sterben zu lassen und sich dem Dienste Gottes zu widmen. So gingen seine Überlegungen in einem Sinn, der dem Marquis Choiseul wohlgefallen hätte: »Die katholische Kirche und die deutsche Armee, das ist das herrlichste, was wir jetzt haben.« Aber Baron Frangart konnte sich nicht entschließen. Er achtete das deutsche Heer, fühlte sich aber »wohlgeboren = ευγενησ« genug, um für sich persönlich überzeugt zu sein, daß er dessen Zucht entraten könne; und die Idee, späterhin als Offizier selbst an dieser Zucht mitzuwirken, erschien ihm zwar seiner eigenen Beschaffenheit würdiger; bei einigem Nachdenken indes fand er, »daß es eine Höhe der Kultur gebe, von der aus man auch auf alle, die da noch herrschen wollen, Schul- und Militärzuchtmeister inbegriffen, apathisch herabsehe. Und vielleicht, wahrscheinlich sogar, ja sicher, stehe Fritz Freiherr von Frangart auf dieser Höhe.« So formulierten sich mit schwermütigem Stolz seine Gedanken.

Was aber den geistlichen Stand betraf, so war dies freilich der reinste, reinlichste, seiner tiefen Ruhe angemessenste. Indes: das hatte Zeit. Und ganz im Geheimen wartete Baron Frangart vielleicht doch auf etwas, was seinem gleich einer Sonne in sich selbst ruhenden Wesen einen Anstoß, Bewegung, und somit Fruchtbarkeit geben könne. Dann jedoch dachte er wieder des Abscheus, mit dem ihn die Beweglichkeit der anderen (»weniger kultivierten«) Menschen stets erfüllt hatte. »Freilich, im Morast ist immer Bewegung,« sagte er schließlich laut; es schien, als ob er die Anwesenheit des Menschen, der bekümmert und schweigsam in seinem Zimmer saß, vergessen hätte. »Aber der Morast stänke noch mehr, wenn er immer ruhig daläge;« meinte dieser treuherzig. »Allerdings, der Morast stänke noch mehr, der Morast schon ...« entgegnete Baron Frangart kühl.

»Es gibt noch etwas,« meinte er schließlich, »es gibt doch noch etwas drittes: den Genießer. Ich könnte es mit diesem Beruf versuchen.« – »Soll ich mich also schleunigst empfehlen?« fragte Schlagintweit scherzend. – –

Baron Frangart glaubte nicht recht an den Beruf des Genießers. Aber Tatsache ist z.B., daß er im Herbst einmal den Zug nach Nizza bestieg; am andern Tag kam er wieder nach München zurück. Er war in Verona schon ausgestiegen, weil zwei Juden, die im Speisewagen neben ihm saßen, sich – nicht einmal sehr laut – darüber unterhielten, daß »im letzten Jahrhundert doch schon vieles besser geworden sei, nur in Rußland noch nicht«. Erzürnt stand Baron Frangart auf, indem er dachte: »Ja, für euch schon, aber für unsereinen nicht,« begab sich in sein Coupé zurück und verließ, wie gesagt, in Verona, der nächsten Station, den Zug. Einmal fuhr er auch nach Paris. (Marquis Choiseul zum Beispiel hatte diese Stadt nur betreten, wenn er geschäftlich dort zu tun hatte. »Zu privaten Zwecken geht ein Choiseul nicht in die Hauptstadt der Revolution,« hatte er geäußert.) In Paris sah sich Baron Frangart alles an, die Bars, wo die fashionabelsten Kokotten verkehrten, die maisons de rendez-vous, die Spielsäle, die Vaudevilles, die Folies-Bergères, Moulin-rouge, die Nacktbälle. Aber er sah das nur an und ging stets wieder weg, bald vom schlechten Geruch, bald von der Unreinlichkeit, bald von der unbeherrschten Gier der »vorhandenen« Leute beleidigt; er genoß nichts. Nach vier Wochen verließ er achselzuckend die genußreichste Stadt der Welt.

In München durchschritt er ein einziges Mal die Budenstadt auf der Oktoberfestwiese. Das Geplärr der Ausrufer, die unendlich komischen Bilder an den Budenwänden, das rastlose Kreischen der Orgelautomaten, die verkitschten Golddekorationen mit den tausend Glühlichtern darauf, amüsierten ihn einigermaßen. Er fand das einfältig, aber fröhlich, dem Geist der Massen richtig angepaßt. Aber wer beschreibt sein Entsetzen, als er gegen Abend in die Nähe einer Bierbude kam und einen schnellen Blick hineinwarf! Schaudernd gewahrte er die überhitzten Gesichter der Leute, ihren stieren Blick; ein verpesteter Geruch drang dick und betäubend, vermischt mit dem deliriösem Lärm einer schlampigen Musik, aus der Bude heraus. – Da zum ersten Mal ging Baron Frangart schneller als sonst; er eilte fort, um diesem Fest zu entkommen.

Hiermit übrigens hielt er selbst die Versuche, »Genießer von Beruf« zu werden, für beendigt. Er fand es aber nötig, sich durch ein dreitägiges ununterbrochenes Schweigen, in seiner Wohnung eingeschlossen, von den letzten Impressionen dieser Versuche zu reinigen. Am vierten Tag ging er in den alten Liebfrauendom und blieb mehrere Stunden dort, bis er das völlige Gleichmaß seiner Seele und seines Geistes wiedergefunden hatte.

Er eignete sich also nicht zum Genießer; er war »zu kultiviert« für einen so unreinlichen Beruf. Der Heeresdienst lockte ihn nicht. Geistlicher zu werden, das hatte Zeit. Baron Frangart beschloß, einstweilen jede Art von Beruf sein zu lassen.


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