Karl Borromäus Heinrich
Menschen von Gottes Gnaden
Karl Borromäus Heinrich

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Zweites Buch

»Jetzt kannst Du Deine Macht, oh Schicksal, zeigen:
Was sein soll, muß geschehn, und Keiner ist sein eigen.«

Shakespeare.

Einige äußere Geschehnisse

Es gibt Menschen, denen alles nach ihrem Willen geschieht. Nicht, daß sie ihn mit besonderer Anstrengung verfolgen oder ihn mit bemerkenswertem Eigensinn gegen die andern aufrecht erhalten; vielmehr weichen alle von vornherein vor ihm zurück; solche Menschen stehen da, und alsogleich säubert sich der Platz gleichsam in weitem Umkreis von etwelchen Widerwärtigkeiten, damit jene so bequem und sicher stehen, wie es ihnen gefällt. Setzen sie sich sodann in Bewegung nach vorwärts oder rückwärts, machen die Mitmenschen wie unter höherem Zwange die Bahn frei; unbehindert, ohne Dank, mit vollkommener Selbstverständlichkeit, wird sie von ihnen durchmessen. Kurz, es gibt Schicksale ohne äußere Hemmungen. Aber mit Unrecht beneidet man sie; einerseits weiß man ja nicht, welch dunkeln Ratschluß Gottes, welches Leid, oder im besten Falle: welch namenlose Einsamkeit der Freude die Träger solcher Schicksale unter ihrer unbewegten Miene verbergen; ja, es ist nicht einmal gewiß, ob sie nicht selbst zuweilen umsonst nach äußeren Widerständen verlangen, durch die sie in irgendeiner Weise abgelenkt und zerstreut werden könnten; andrerseits aber – da doch alle Fruchtbarkeit des menschlichen Wollens ausbleibt, wenn das ausbleibt, wodurch allein sie sichtbar in Erscheinung treten könnte, nämlich eben die Widerstände und Hemmungen (aus deren Schoß heraus das Samenkorn unseres Wollens als Tat geboren wird) – sind jene hemmungslosen Schicksale zur Unfruchtbarkeit bestimmt. Schweigend wandern ihre Träger dahin: aber dem, der etwa auf einer südlichen Landstraße, unter dem sternklaren Himmel jener dunstfreien Nächte, die den leisesten Laut ungebrochen wiedergeben, an einer schlanken Zypresse lehnen und teilnahmsvollen Herzens hinaushorchen würde (weil man auf Verschwiegenes immer mit dem Herzen horchen soll, nicht mit den Ohren, die wir mit jedem Esel gemeinsam haben), – einem solchen Menschen würde ihr Schweigen, jedwedes andre Geräusch übertönend, vernehmlich werden und das Herz zerreißen: Denn nichts ist schwerer zu ertragen als Sehnsucht, die nicht reden kann. Was sind dagegen alle Schreie der Sehnsucht, mit denen wir gewöhnliche Menschen unser Herz erleichtern?

*

Fritz Paul Joachim Freiherr zu Frangart war teils auf den Rat seiner Mutter, teils weil es ihn selbst dazu trieb, mit zehneinhalb Jahren nach Chamfort gekommen, an das jesuitische Colleg, wo Pater Bonaventura wirkte. Mit welchem Erstaunen erfüllte Patres, Fratres und Zöglinge die grazile Schönheit, der unbewußte ruhige Stolz der Haltung und des Ganges, die satte Bronzefarbe des hochmütigen Gesichts, die langen langen Wimpern, die seine dunkeln Augen beschatteten, das seidengelockte Haar, die tiefe sonore Altstimme des Knaben, die sich der französischen Sprache so seltsam anschmiegte! Alle sahen unwillkürlich mit Ehrfurcht auf ihn. Pater Bonaventura selbst mußte sich Zwang antun, als er mit scheinbarer Härte hinwarf: »Nun, er soll auch etwas lernen bei uns; man soll ihn nicht nur angaffen!«

Zwei Wochen hielt sich Fritz Frangart damals in Chamfort auf; er war still und wollte zuvorkommend sein, aber stets kamen die andern ihm zuvor. Indes war er noch zu jung, als daß er den Wechsel des Klimas ertragen, die lachende Sonne seiner Heimat für eine Zeitlang hätte vergessen können. Seine Wangen fielen ein, und in unbewußten Augenblicken durchlief seinen schlanken Körper ein fröstelndes Zittern. Alle erschraken heftig. Und als die zwei Wochen um waren, verlangte er, heimgebracht zu werden; was denn auch in besorgter Eile geschah.

Vier Jahre blieb er sodann in Frangart. Außer den wenigen Lernstunden verbrachte er die ganze Zeit wieder wie früher; mit großer Selbstgenügsamkeit lehnte er an der Mauer des Schlosses, um den Schein der Sonne zu genießen. Was er dachte, und ob er überhaupt etwas dachte, ließ sich nicht erkennen. Er erlaubte auch niemand, ihn danach zu fragen.

Das Einzige, was sich verändert hatte, war sein Benehmen gegen die Mutter, die herzleidende Baronin Frangart: zwar hatte sich seine gewohnte Höflichkeit ihr gegenüber womöglich gesteigert. Aber seit der Stunde, wo er mit Pater Bonaventura ihrem schweren Anfall beigewohnt und ihre abgerissnen Worte gehört hatte, – hatte er es unterlassen, sie auf das Handgelenk zu küssen. Er küßte ihr jetzt die Fingerspitzen. Und manchmal sah er sie nachdenklich an, mit einem gewissen neugierigen Hochmut. Einmal war sie unter diesem Blick erbebt und zusammengezuckt; da sagte er, während ihr einige schwere Tränen aus den heißen Augen quollen: » excusez mille fois, maman!« und nahm sich vor, diese »Inkorrektheit« künftighin zu vermeiden.

Das war, wie gesagt, das Einzige, was er erlebte. Sonst also ließ er sich von der lachenden Sonne bescheinen.

Nach vier Jahren starb Baronin Frangart in einer von schwerem Blütenduft erfüllten Märznacht; niemand hatte während der letzten Augenblicke bei ihr geweilt. Eine französische Bedienerin, Jeanette, die erst seit kurzem im Hause war und den jungen Baron Frangart haßte, weil er ihre überschwengliche Liebe nicht im geringsten beachtete, behauptete allerdings mit plapperhaftem Eigensinn, sie habe in eben der Nacht schlaflos gelegen ( »ah, peut-être, en attendant Monsieur le baron, mais qui n'est pas venu!« spotteten die Dienstboten) und gegen halb elf Uhr abends den jungen Baron aus seinem Schlafzimmer gehen hören ( »et vous avez rêvé qu'il ira directement frapper à votre porte que vous aviez laissée largement ouverte, pour lui!« sagte George voll grimmiger Eifersucht); also, sie habe ihn aus dem Schlafzimmer gehen und an der Türe seiner Maman klopfen hören ( »et non pas à la vôtre, mademoiselle!« fügte George, der sie liebte, verächtlich hinzu); er sei eingetreten und habe, soviel sie aus dem Tonfall erraten konnte, eine Frage an die Baronin gerichtet. Die Baronin habe erschreckt aufgeschrieen, ungefähr wie: »Fréderic, Fréderic, au nom du Seigneur, laissez ces questions là!« dann sei Ruhe eingetreten. Oder vielmehr, sie sei wohl selber eingeschlafen.

Nun, das Gesinde muß etwas zu reden haben bei solchen Gelegenheiten. Als Tatsache konstatierte der Arzt, daß die Baronin in einem Anfall von Herzschwäche wahrscheinlich schon vor Mitternacht verschieden sei. Tatsache war ferner, und ein so tiefer Schlaf stand sehr im Widerspruche mit der Erzählung der Bedienerin, daß man am Morgen dem jungen Baron, als man ihm die schwere Nachricht bringen wollte, drei, viermal laut klopfen mußte, bis er antwortete. Geweint hatte er nicht, weder am gleichen Morgen noch während des Begräbnisses; aber wer hatte den Baron Fritz Frangart überhaupt jemals weinen sehen? ...

Tatsache war endlich folgendes: Als der alte Marquis Choiseul kurz nachher gestorben war, außer den Bourbonen und Fritz Frangart keine lebenden Verwandten hinterlassend, und seine Güter in toto an Fritz Frangart fielen, sah sich dieser mit vierzehneinhalb Jahren als alleinigen Besitzer von Schloß Frangart und Choiseul und Riom. Indessen schien ihm das Gefühl eines so ausgedehnten ergiebigen Besitzes nichts zu bedeuten. Natürlich (wie wiederum die Dienstboten plapperten), er konnte nicht stolzer werden als er schon war.

In Bozen wurde ein Vormund für den verwaisten Fritz Frangart bestellt; aber der teilte sich, gemäß dem hinterlassenen letzten Willen der Baronin, in der Sorge um die Liegenschaften und Revenüen mit Pater Bonaventura; eine Last, die dieser gern auf sich nahm.

Sorge machte dem gütigen Pater aber hauptsächlich eine große Meinungsverschiedenheit in den letzten Äußerungen der Baronin und des Marquis: Die Baronin hatte in einem schon drei Jahre vor ihrem Tode geschriebenen Dokument bemerkt: »daß sie es mit vielem Schweren, das sie auf der Welt getragen habe, versöhnen könnte, wenn ihr Sohn Fritz die geistliche Laufbahn ergriffe.« Der alte Choiseul hingegen hatte wiederholt in kurzen hingekritzelten Zeilen an Pater Bonaventura die Meinung ausgesprochen, Fritz solle einmal in die deutsche Armee eintreten.

Nun war freilich, wie sich Bonaventura mit Schmerzen sagte, unmöglich zu wissen, für welchen dieser beiden Berufe sich Fritz Frangart eignen mochte. Vielleicht für keinen von beiden.

Genug, der junge Baron kam mit vierzehneinhalb Jahren zum zweiten Male nach Chamfort, um zunächst unter Aufsicht des Paters Bonaventura in alles eingeweiht zu werden, was man als höhere Bildung bezeichnet und schätzt.


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