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Es ist mir, als ob ich ihn heute noch vor mir sähe, den zierlichen Mann mit dem blonden Spitzbart und den stets hellblanken Schuhen, in der von der Mode abweichenden auffallenden Kleidung und mit den eigentümlich tänzelnden Bewegungen beim Gehen. Er grüßte jedermann, auch Botenfrauen und Kinder; wer über den Weg kam, ward von ihm beachtet, er hatte die Augen überall. – Nie sah man ihn in ein Wirtshaus gehen, auch rauchte er nicht und hielt sich nirgend lange auf. Er hatte stets Eile und – hatte doch nichts zu thun fast das ganze Jahr. Nur einige Monate war er beschäftigt. Dann stand im Tageblatt eine Annonce, die immer gleich lautete:
»Anmeldungen zum diesjährigen Tanzunterricht für Knaben und Mädchen nimmt täglich vormittags persönlich entgegen und erteilt nähere Auskunft Cäsar de Maurice (sprich: Mohries). Alter Weg Haus E am Landgraben.«
Diese Anzeige hatte denn auch zur Folge gehabt, daß man den um die französische Emigrationszeit eingewanderten Mann nicht Maurice, sondern all meist »Sprichmoris« nannte. Unter diesem Namen kannte ihn jedes Kind, und erst wenn es lesen lernte und in die Zeitung guckte, sah es, daß jener eigentlich ganz anders hieß.
Maurice empfing die Väter und Mütter, die ihre Kinder bei ihm anmeldeten, mit der Höflichkeit, die den Königen eigen ist. Von geschmeidiger Unterwürfigkeit besaß er nichts, aber jeder kam bei ihm zu seinem Recht. Mit großer Artigkeit geleitete er die Herrschaften an die Rokokostühle, die in einem von Sauberkeit blitzenden Wohnzimmer um den Sophatisch standen, in welchem ersterem namentlich ein mit Glas versehener Schrank die Aufmerksamkeit der Besucher anzog. In ihm befanden sich hundert kleine Schmuckgegenstände und Spielereien: aus Muscheln komponierte Tiere, aber auch zierliche Nippes. Eine dumpfe, jedoch nicht unangenehme Luft schlug dem Eintretenden entgegen, und wenn er Glück hatte, huschte auch einmal ein allerliebstes Geschöpf, Maurices Tochter Margot, vorüber und neigte das feine Köpfchen mit einer Bewegung, die jedermann bezauberte.
Aber auch Maurice selbst! Sobald Margot erschien, gingen seine Augen zu ihr. Sie war sein Abgott, sein alles, und wenn ihm Menschen sagten: »Welch ein schönes, anmutiges Mädchen ist Ihre Tochter, Herr Maurice!« dann wehrte er nicht etwa ab, sondern hob das alte Marquisgesicht mit dem spitzen Bart und entgegnete: »Ja, die Natur schuf in ihr das Ebenbild ihrer Großmutter, der Gräfin von Vibordanne, einst in Paris eine bewunderte Schönheit.«
»Der Mensch, der Mensch,« fügte er dann wohl erläuternd und seine gegenwärtige Lage erklärend, hinzu (er sprach in seinem französischen Accent und etwas inkorrekt), »muß leben und für seine Existenz arbeiten. Da treibt es jeder Comme il peut! Arbeit nicht schändet; Ludwig XVI. erlernte ein Handwerk, auch er hätte es können fast gebrauchen. Man weiß nicht, ob man geht in dünne Kleider nach einem Jahr, wo man ging in Zobelpelz vor Monate.«
Um die Zeit, wo sich das nachstehende zutrug, war Maurice ein durchaus wohlsituierter Mann; das epheuumrankte, mit einem Gärtchen versehene Häuschen E war sein Eigentum; unten bewohnten er und Margot vier Räume, und die obern Gemächer hatten sie an eine ruhig lebende alte Dame vermietet. – Im Sommer waren die Thüren und Fenster geöffnet, und man schaute in den Flur, in dem zwei alte Schränke standen, und man sah auf den Fensterbrettern unter Rosen und Blattpflanzen Käfige mit Vögeln, und ihre Kameraden zwitscherten in den beiden Bäumen, die zuseiten des Hauses standen, und gelbe Zitronenfalter und schimmernde Kohlweißlinge umtanzten die Blumen, die im Vorgarten blühten.
»Sprichmoris« war der ordentlichste Bürger in der Stadt, zahlte seine Steuern auf die Stunde, nahm nie etwas auf Borg und trat niemanden in den Weg. Und Margot war um ihn, und er war um Margot, als sei jedes des andern hingebender Freund, und als ob es nichts gäbe, was vergleichbar wäre ihr, und nichts vergleichbar in der Welt ihm.
Und seltsamerweise kam auch der Spott nicht auf, selbst bei den Kindern. Wohl nahmen sie während der Tanzstunden einen Anlauf nach Art der Jugend, aber so sehr seine äußere Erscheinung, seine Manieren, seine Sprache dazu aufforderten, seine Würde und unter Umständen seine entschiedene Strenge bannten doch den Vorwitz.
Als einst der Sohn des höchsten Beamten der Stadt, auf seines Vaters Stellung pochend, sich Übergriffe dadurch erlaubte, daß er sogenannte Feuerwerksfrösche in den Tanzsaal warf, bestand Sprichmoris unerbittlich auf dessen Entfernung.
»Mein Institut ist für Allotria nicht ein Institut, mein Herr, – Monsieur! Die Kinder sollen lernen tanzen parfaitement! Dafür sie kommen hierher,« erklärte er und blieb bei seiner Weigerung, Amandus v. Zülow wieder aufzunehmen.
Überhaupt war Maurice eigensinnig, er war es auch seiner Tochter gegenüber in gewissen Dingen. Sie durfte nur in seiner Begleitung eine Gesellschaft besuchen; freierer Verkehr mit ihren Mitschülerinnen war ihr untersagt, und niemals sah man Margot Maurice allein über die Straße gehen. Er hielt sie wie ein vornehmes Kind – auch gröbere Arbeiten mußte eine Frau besorgen, die morgens erschien. Für sie war sein Herzenskind zu gut.
Mit solchen Blicken der Liebe hing der Mann an diesem ihm im spätern Alter geborenen Kinde! Er bewunderte alles, was sie that, und sie erschien auch wie eine Jasminblüte, zartfarbig und Duft verbreitend durch mädchenhafte Anmut und reizvolle Bescheidenheit.
»Du nicht von mir gehst, so lange ich lebe, ma chère Margot, meine teure Margot!« hatte er ihr oft gesagt, und sie, die noch nichts wußte von jener Liebe, die Vater und Mutter verläßt und dem Manne folgt, schüttelte den Kopf wie ein Mensch, der nicht begreift, daß ein anderer auch nur eine solche Frage aufwerfen kann.
Und doch kam sie eines Tages – es war im Sommer – und legte ihre zarten Arme um seinen Hals und bat, daß er erlauben möge, daß sie an dem Schützenfestballe teilnehmen dürfe. – Sie sei eingeladen von Maria Theben, der Tochter des Kommerzienrats. Sie sei dagewesen, während er zum Angeln gegangen unten am Graben. Ihr Bruder, der frühere Student, der jetzige Doktor, sei angekommen und wolle mit ihr den ersten Tanz tanzen.
»Und ich – et moi?« drängten sich die Worte auf des Alten Lippen. Aber sie verklangen. Man hatte ihn nicht geladen! Weshalb nicht? Er kämpfte; er hätte lieber gesehen, Margot hätte gleich nein gesagt, ohne ihn zu fragen. Da es nicht geschehen, hatte sie sicher das größte Verlangen, an dem Ball teilzunehmen.
War sie nicht auch jung? War's ihr nicht zu gönnen?
Und wer tanzte in der Stadt wie Margot Maurice? Sie würden sie bewundern, sie umschwärmen, – und eben das, das wollte er doch nicht.
Er wünschte sein Herzblatt für sich zu haben und sie von allen Versuchungen fern zu halten.
»Bitte, lieber Papa,« auch Margot sprach mit anklingendem fremden Accent, »bitte, bitte, erlaube dies eine Mal!« Da seufzte er und sagte ja. Bevor Margot sich fortbegab, musterte Maurice ihren Anzug aufs genaueste. Ihm schien, daß die Schleife in ihrem schwarzen Haarzopf nicht kleidsam genug sich abhob, sie mußte sie noch einmal knoten, und er steckte sie an; dann ging er um sie herum und betrachtete sie prüfend; ein Fädchen in dem neuen geblümten, seidenen Kleid schnitt er vorsichtig mit einer Schere ab, und endlich nahm er das von ihr bereitgelegte Spitzentüchlein, öffnete eine am Morgen gekaufte Flasche mit Kölnischem Wasser und betupfte es.
»Bitte, nimm das Kleid ein wenig zurück. Ich sah nicht die neuen Schuhe, Margot, –«
Wie eine Grazie schürzte sie das Kleid und zeigte die feinen Linien ihres Fußes, und der Alte nickte und faßte ihren süßen Kopf in seine beiden mit vielen Ringen versehenen Hände, küßte sie zärtlich und geleitete sie an den bereitstehenden Wagen.
* * *
Das Landhaus, in dem der Schützenball abgehalten ward, war ein langes, mitten in einem großen, parkartigen Garten gelegenes einstöckiges, nur mit einem Mittelgiebel versehenes Gebäude. – Nach vorn lagen die Gesellschaftszimmer und nach hinten der Tanzsaal, der durch einen mit einer Treppe verbundenen Balkon einen Ausgang ins Freie bot. Um sieben Uhr war Margot fortgegangen. Nun, elf Uhr – es war ein die Sinne berauschender, warmer Sommerabend – hielt es Maurice nicht mehr im Hause. Er wußte, wenn er sich von hinten in den Park bis an das Landhaus schlich, daß er durch die tiefliegenden bogenförmigen Parterrefenster in den Saal hineinzublicken vermöge. – Der Gedanke, man könne ihn bemerken, wollte ihn abhalten. Es schickte sich nicht; es vertrug sich nicht mit seiner Person, als Späher aufzutreten. Und doch siegte die Unruhe; ein nicht zu bewältigendes Verlangen saß in ihm: Margot zu belauschen, zu beobachten, wie sie im Rausch des Vergnügens die Haltung bewahrte, die sie ihrer Geburt und ihrer Erziehung schuldig war.
Der alte Mann glich einem eifersüchtigen Liebhaber; er, der in allem, was er that, sich sonst nur von strenger Würde leiten ließ, zitterte vor Aufregung; das Herz tobte ihm unter dem knappsitzenden Rock und dem dunklen Mantel, den er umhing, als er aus dem Hause schlich. Während er dahinschritt, drangen schon von fern die Klänge der Musik durch die stille Nacht zu ihm herüber.
Bei dem herrlichen Wetter war's noch lebhaft auf dem Landwege, an dem sein Grundstück und das anderer älterer Bewohner der Stadt lag. Gestalten tauchten in dem Dunkel auf, junge Leute, Soldaten, Mädchen mit ihren Liebhabern, aber sie alle kannten nicht ihn, wenigstens er nicht sie, und nun war er auch schon an eine Pforte gelangt, durch die man den Garten des Landhauses betrat. Maurice hielt inne und lauschte; ein großer, schnuppernder Hund, der ihn beinahe umgerannt, erschreckte den alten Mann; aber dann raffte er sich auf und nahm, leise auftretend, den Weg, an dunklen Bosketts vorüber, durch den Park. – Immer lauter scholl die Tanzmusik zu ihm herüber; immer hellere, ihn störende Reflexe warf das in Licht schwimmende Gebäude auf die Rasen und Pfade. – Aber er wollte, er mußte Margot sehen, wenn auch nur für Minuten. Nun stand er an einem der Fenster, an dem, gleich ihm, Neugierige sich befanden, schaute sich furchtsam um, hüllte sich fester in seinen Mantel und warf den Blick in den Saal! Viele Menschen – Damen in seidenen Toiletten – die Herren im Frack mit Blumen im Knopfloch – Staub, Tanz, Wirrwarr und Gewoge, und jetzt eine Pause. Die Damen wurden an ihre Plätze geführt. Die Mitte des Saales, eben noch gefüllt, lichtete sich, und man vermochte jede einzelne Gestalt deutlich zu erkennen. In diesem Augenblick wichen die Lauscher von den Fenstern zurück, entweder fürchteten sie, von den heraustretenden Gildemitgliedern verscheucht zu werden, oder der Reiz des Anschauens war vorüber. Auf dem Balkon wurden Stimmen laut, einige Herren und Damen machten Miene, sich in den Garten zu begeben. – Nun schob sich Maurice tief in eine dunkle Ecke neben dem Hause. Noch hatte er Margot nicht gesehen, er wollte, wenn von Neuem der Tanz begann, auf seinen alten Beobachtungsposten zurückkehren.
Und dann eine schnarrende Männerstimme: »Blitzwetter hat die Tochter von dem alten Gecken, dem Maurice, einen reizenden Körper! Ein Mädel zum Entführen! Und wie sie ihre Augen zu gebrauchen weiß! Ein kleiner kokett raffinierter Teufel!«
Maurice vernahm die Worte, und die alten Glieder zitterten, das Herz pochte so laut, daß man es hören konnte. Und hervorgesprungen wäre er am liebsten aus seinem Versteck und hätte den frivolen Verleumder an die Brust gepackt und ihm zugeschrien: »Widerrufe, was Dein frevelnder Mund herausstieß, oder ich schlage Dir ins Gesicht!« Aber ihm, dem Lauscher und Späher, war's schon recht, daß er eine Enttäuschung erlitt. – Schlich sich ein Mann nachts an andere Fenster und beobachtete das Thun und Treiben seiner Mitmenschen?
Jetzt setzte die Musik wieder an; die Sprechenden wichen vom Balkon zurück; drinnen begann das alte, ruhelose Durcheinander. Im Garten war's so still und leer und dunkel, und Maurice schob, statt sich zu entfernen, den alten Kopf mit dem spitzen, blonden Knebelbart abermals an die Scheiben und schaute hinein und suchte sein – Kind.
Und da er sie nicht entdeckte, ergriff ihn eine starke Unruhe und zuletzt gar etwas Angst, so zwar, daß er nun jede einzelne Person in dem Saal einer genauen Musterung unterzog, auch an andere Fenster schlich, um besser jeden Teil des Saales überschauen zu können. Ah! – Da endlich! Am Arm eines Mannes – desselben, der vor kurzem über ihren Vater und über sie in solchen Worten gesprochen – kam sie dahergegangen, lachte fröhlich, und nun eben drückte er sie fest an sich und walzte mit ihr durch den Raum.
Dem alten Mann schossen die Blutwellen in den Kopf, die Hände ballten sich, und der Atem ging ihm heiß aus dem Munde.
Sie sollte fort, nach Haus, keine Sekunde mehr bleibe.! Es raste durch seinen Kopf, wie er ihr eine Botschaft senden, welchen Grund er angeben könne! – Als die furchtbarste Schande und Entwürdigung erschien's ihm, daß sein Kind in den Armen dieses Nichtswürdigen ruhte, daß er nicht hineinstürzen konnte, sie von seiner Brust reißen und mit ihr davon eilen.
Und was war das? Nicht an ihren Platz ging sie mit ihm, sondern sie wandte sich mit den Gebehrden einer nach Kühlung Verlangenden in eine Nische. und er – es war kein Zweifel – redete auf sie ein, mit ihm hinauszutreten – –
Sie wollte in den Garten zum heimlichen Schwatzen mit diesem Elenden! Nein, nein! Das that seine Margot nicht! Dann würde der Schurke ja recht gehabt haben mit dem, was er gesagt – Maurice zitterte, was geschehen werde! Zunächst trat sie mit ihrem Tänzer auf den Balkon, schaute hinauf zum Himmel, holte tief Atem und sprach von der Schönheit der Nacht. Nichts sei der Natur vergleichbar. Wenn sie morgens in den Garten trete, der Duft der Blumen auf sie eindringe, das Zwitschern der Vögel ihr Ohr berühre, dann fühle sie ein unsagbar glückliches Behagen, der Wert des Lebens träte in ihr Bewußtsein. Ihrem Glück fehle auch nichts; sie habe ihren Vater und neben Gesundheit die unendliche Freude an der schönen Welt! Was ein Mensch mehr begehren könne.
Und dann sprach der Mann. Er überhäufte sie mit artigen Reden, wie schön, wie anmutvoll sie sei, wie klug und gütig, und wie herrlich sie tanze. Sie könne ein Herz in Verwirrung setzen, und er, er sei gefangen von ihrem Liebreiz und werde sie nie, nie wieder vergessen. Ob sie nicht auch etwas für ihn fühle?
»Männer reden! Ihr Mund spricht, aber sie denken nichts dabei! Ich weiß es!« wehrte Margot ab. Und sie wolle auch ihren alten Papa nicht verlassen. Sie habe sich vorgenommen, ihm dieses Opfer zu bringen, wenn's auch noch so schwer sein würde.
Während sie noch sprachen – und das, was Maurice hörte, drang ihm heiß durch die Seele, – trat ein Mann leise und unbemerkt von jenen, auf den Balkon. Er horchte, und als nun Margot, der schmeichelnden Aufforderung ihres Herrn, anfänglich zögernd, aber dann arglos entsprechend, die Treppe des Balkons herabschritt und sich im Dunkel der Bosketts verlor, – er bitte um die Erlaubnis, ihr eine Rose, die auf dem Rasen blühe, abschneiden und anheften zu dürfen, hatte er gesagt, – sah Maurice, daß sich des ihnen folgenden Herrn eine ungeheure Erregung bemächtigte. Und während noch Maurice schwankte, was er etwa thun sollte, hörte er nach geraumer Weile einen Angst- und Hilferuf, und dann sah er ein fliehendes Geschöpf – seine Tochter Margot – und jetzt beide Männer einander gegenüber wie zwei Rasende.
»Ja, ich habe das Recht und die Pflicht, eine meinem und meiner Familie Schutz anvertraute anständige Dame vor Ihren Zudringlichkeiten zu schützen. Ich hörte, wie Sie sie herablockten und sah, bevor ihr Notruf erscholl, daß Sie sie umarmen und küssen wollten! Soll ich in den Saal eilen und verkünden, was Sie sich erlaubt haben? Dann wird der Vorstand Sie zu dem zwingen, was jetzt freiwillig zu thun, ich Sie auffordere! Nein! Ihre Degen und Pistolen weise ich zurück! Was von Ihrer Seite geschah, macht Sie satisfaktionsunfähig, Herr von Burk! Und damit Gott befohlen.«
Der Mann, der sich Margots angenommen, war der Doktor Theben, und am liebsten wäre Maurice aus seinem Versteck herausgestürzt und hätte ihn in dem Ueberquillen seines Dankgefühls an die Brust gepreßt.
Wo aber war Margot geblieben? Unter den Gebüschen war sie verschwunden. – Der Doktor eilte in den Garten; Maurice hörte, wie er ihren Namen rief, er wollte sie selbst rufen, die Unruhe verzehrte ihn. – Da endlich kehrte sie zurück, von Theben sanft geleitet, und noch hörte Maurice, wie sie mit thränenverschleierter Stimme hervorstieß: »Nein, nein, tausend Dank! Lassen Sie mich jetzt nach Hause! Morgen hoffe ich Sie noch einmal vor Ihrer Abreise zu sehen. Adieu! – Adieu! – – Bitte, entschuldigen Sie mich bei den Ihrigen.« Eine schwer verhaltene Qual klang durch die Abschiedsworte, und was infolgedessen in Maurice's Vorstellungen trat, erfüllte ihn mit einem wehmutsvollen Schmerz. Nun aber – die beiden waren um das Landhaus herum der Garderobe zugeschritten – eilte er, so rasch wie er es vermochte, durch den dunklen Park und über die jetzt menschenleere Landstraße seinem Hause zu. Er mußte vor ihr, vor Margot, zurück sein.
* * *
Seit diesem Tage war Margot eine andere, und seit diesem Tage war auch Maurice nicht mehr derselbe. Halbe Nächte durch hörte er sein Kind weinen und schluchzen. Gesprochen hatte sie damals nicht, der alte Mann wußte, weshalb. Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten, sie wollte ihn glauben machen, alles sei in ihrem Innern wie sonst. Sie wußte, daß sein Herz brechen werde, wenn sie ihn verlassen würde. – Die neue Liebe sollte sterben um der andern willen, die ältere Rechte besaß. – Unausgesprochen wußte Margot, mit welchen Vorstellungen ihr Vater der Welt gegenüber stand, weshalb er sich doppelt an sie anklammerte. Er verschloß sich der Erkenntnis nicht, daß man über ihn lächelte, – was war in der Welt ein Tanzmeister? – daß man ihn als halb ansah, obschon er Pflicht und Redlichkeit übte wie einer, obschon sein Name unantastbar, sein Lebenswandel untadelhaft. – Sein Stolz war sein Halt; er verschloß die Augen vor dem, was er nicht sehen wollte. Der Sprößling eines alten, vornehmen Geschlechtes, das einst zum Herrschen und Gebieten geboren, war er, mit Unterdrückung seiner ganzen, innersten Natur, ein schlichter, redlich seinen Erwerb suchender Bürger geworden und wollte als solcher die Menschen zwingen, ihn zu achten, ihn gleichzustellen den ersten. Und daß ihm dies doch nicht gelang in der Welt der Äußerlichkeiten und des Scheins, das zehrte an ihm, und nun suchte er Entgelt, Trost und Besänftigung durch die ausschließliche Beschäftigung mit seinem Kinde! – So kämpfte er denn gegenwärtig einen furchtbaren Kampf. Nahm man ihm seine Margot, dann verlor er jeglichen Halt. Er mochte dann auch keine Verbeugungen, keine Walzer und Fandangos mehr einüben, dann, dann war er der alte Geck, der »Sprichmoris«, dem die Spottsucht nur zu gern etwas anhing. Und die einsamen Tage! Ohne Anziehung und Reiz war ihm fortan das allmählich durch Sparsamkeit erworbene Haus, er sah die Blumen im Garten nicht blühen, sie hatten auch keinen Duft mehr, und der Vögel süßes Gezwitscher war nichts anderes, als irgend ein Laut, das durch die unruhige Welt dringt.
Ja, wenn sie, seine Frau, noch leben würde! Sie war die einzige Tochter eines Aktuars gewesen, eine Waise, ein feines, stilles, vornehmes Geschöpf mit einem weichen, warmen Herzen. Sie hatte nicht auf seinen Stand und seine äußere Erscheinung gesehen, sie wußte aber, welchen Zartsinn, welche vornehme Denkungsart, welches Gefühl für Ehre dem kleinen Manne, der mit der Violine die Tänze seiner Schüler begleitete, innewohnte! – Aber sie ruhte lange draußen, unter den weißen Rosen, die er auf ihren Grabhügel gepflanzt hatte, und nichts, nichts konnte sie ihm zurückbringen. Und seine Vermutung war richtig. Der Doktor Theben hatte Margot am kommenden Tage im Garten seiner Eltern mit trunknen Augen angesehen, er hatte sie gebeten, die Seine zu werden.
»Ich kann nicht, – ich darf nicht – Alles schenkte die Natur mir, aber auf die Liebe eines Mannes muß ich um meines Vaters willen verzichten!« hatte sie erwidert und war, ehe er weiter zu sprechen, in sie zu dringen vermochte, von ihm geflohen.
»Margot, meine süße Margot!« war seine Stimme ihr nachgeeilt, aber sie verklang. Keine Antwort, kein Echo! Als er in die Wohnung zurückkehrte, war sie schon auf der Gasse und floh leicht wie ein Hauch – er sah's – dem Hause ihres Vaters zu.
* * *
Fast waren neun Monate vergangen; eben meldete sich der Frühling mit sanftem Wehen und säftereichen Keimen, kaum lag noch ein Rest von Schnee draußen, und wo zwischen schwarzer Erde eine zu Eis geronnene Scholle sichtbar war, da schmolz es die warme Mittagssonne, als ob sie, Umschau haltend, die letzten Spuren des Winters verwischen wolle. Auch Maurice half der reinigenden und ordnenden Natur nach; die Beete waren im Garten abgesteckt, Pflanzen und Bäumchen wurden wieder eingepflanzt, und schon regte sich das erste Grün auf dem frisch umgegrabenen und festgestampften Rasen.
Eine Stunde vor Mittag war noch Margot fortgegangen, um von einem Gärtner allerlei einzuhandeln, da schaute Maurice, vom Arbeiten im Freien zurückkehrend, zufällig in Margots Zimmer und sah ein von ihr dort vergessenes Buch auf dem Tisch liegen. Ein Tagebuch, wie es schien! Er stellte den Blumentopf, den er in der Hand trug, beiseite, reinigte die Finger und ergriff das Geschriebene.
Da hatte sie alles gesagt, was ihr armes Herz quälte seit jenem Ball! Es war herzzerreißend! Sie liebte den Mann mit der ganzen Leidenschaft eines Weibes. Um der Qual zu unterliegen, hatte sie sich zum Schreiben geflüchtet. Das Buch war ihr Freund, ihm sagte sie alles; dadurch fand sie Trost und Besänftigung. Viele Gedichte deutscher Poeten waren eingestreut, alle waren darauf berechnet, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen, oder ihrem Herzen Ruhe zu verschaffen!
Und eines schuf auch ein tiefes Nachdenken in Maurices Innerm.
Am entlaubten Zweige zittert
Manchmal noch ein grünes Blatt,
Das am Baum, trotz Sturm und Regen,
Künstlich sich erhalten hat.
Also hält die Seele manchmal
Als des Glückes legten Rest
Vor der völligen Entsagung
Eine stille Täuschung fest.
Das Buch fiel aus seiner Hand; er saß da in seinem gestreiften Gartenarbeitsrock, der kleine Mann, wie eine leblose Figur, aber das Herz ging unruhig, ihn zermalmend schier. Nein, es konnte nicht so bleiben! Die Schuld drückte ihn, Margots Glück so selbstsüchtig im Wege zu stehen! Und gab's nicht eine Lösung, die alle befriedigte? Konnte er nicht bei ihnen bleiben, mit ihnen in Zukunft leben? – Nein das eben war's! Der einstige Tanzmeister würde überall im Wege stehen. Auch sollten, so sagte man, der Kinder Eltern sich nicht mit ins Nest einnisten; selten, fast nie kam etwas Gutes heraus. – Und die Vorstellung, sie könnte in der großen anspruchsvolleren Welt, in der sie leben würden, sich seiner schämen, aber auch der Gedanke, daß er das stille Haus, den Garten verlassen sollte, preßte dem Mann die Thränen in die Augen, Er weinte bitterlich! Ein Bild der Hoffnungslosigkeit, versunken in Gram, der Kopf gebeugt, die zarte Gestalt wie zerschmettert! Und so seltsam sah er aus in dem Arbeitskittel, der alte Sprichmoris, den Blumentopf neben sich, das Buch auf der Erde! – Nun hörte er Schritte und schrak zusammen wie ein Verbrecher; sie kam, er legte blitzschnell das Buch auf seinen Platz, ergriff den Topf und sagte hervortretend und zu ruhigem Gleichmut sich zwingend: »Ah, bist Du zurück, Margot! Ich war – ich war –« Aber er kam nicht weiter, So blaß sah sie aus, so hinfällig, so erschreckend elend, daß die Angst ihm durch die Glieder jagte. Und sie vermochte auch nicht zu sprechen; ohnmächtig sank sie auf einen Stuhl und blieb hier liegen wie eine Tote.
»Meine Margot, meine Margot!« hauchte der kleine Mann außer sich und bedeckte ihre Wangen und ihre Hände mit Küssen. »Wach aus, wach auf, mein süßes Kind! Und höre, höre, Margot, alles soll werden, wie Du meinst und willst. Ihr sollt euch angehören! Mein Glück und mein Wünschen soll euch nicht im Wege stehen. Nur stirb mir nicht, meine Margot! Ach großer Gott! Willst Du mich strafen?« Er lief fort, holte Wasser, benetzte ihre Stirn, rieb ihre Handgelenke und kniete, die Wirkung angstvoll beobachtend, vor ihr nieder.
»Wache auf, wache auf!« flehte er abermals, als ob es an ihrem Willen läge, als ob der Ton sie erweichen, ihr Mitleid einflößen könne.
Vielleicht, wenn er das Mieder lüfte, wenn die Brust freier atmen konnte: so sollte es sein. Er öffnete ihr Kleid eilig – ein Zeitungsblatt fiel heraus – er gab ihr eine andere Lage, die sie erleichterte. Und endlich, endlich – dem Manne fielen Lasten von der Seele, und sein Herz jauchzte auf – öffnete sie die Augen, und sie sah ihn an mit den alten lieben, süßen, wehmütigen Augen. Und nun wiederholte Maurice alles, was er ihr eben gesagt, während sie in der Ohnmacht dagelegen. Er bat ihr ab, daß er so selbstsüchtig gewesen, alles gehört und daraus schon Schlüsse gezogen habe.
Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Liebe, Dankbarkeit und Hingebung erschien in Margots Zügen. Dann aber griff sie mit gefaßten Ausdruck nach dem ihrem Kleide entfallenen Blatt und murmelte: »Vorbei, mein Vater! Ich wollte auch das Dir verschweigen, aber weil's zuviel, – hat's mich doch überwältigt, – Hier – hier – las ich zufällig vor einer halben Stunde in unsere Berliner Zeitung: Verlobte: Dokter H. Theben und –«
Weiter kam Margot nicht. Abermals ergriff sie eine Schwäche, und mit weißen Farben lag sie wie leblos da, »O mein Gott,« schrie der Mann, von seinem Schuldgefühl fast in den Staub gedrückt. »Nimm mein Leben, aber gieb ihr das verlorene Glück zurück.« – Ja, er schrie's und so laut, daß ein Fremder, der eben die Wege des Gartens durchschritten hatte und nun in die offene Hausthür trat, wie erstarrt stehen blieb. Dann aber riß derselbe Mann die Thür auf und eilte dahin, woher der Schrei zu ihm gedrungen.
Vor seinem Kinde lag Maurice und weinte und stöhnte und flehte: »Margot, – Margot! –« Aber auch noch ein anderer Mann in Sekundenschnelle! Und als aus seinem Munde dasselbe Wort drang, war's, als ob plötzlich belebende Ströme durch den ohnmächtigen Körper flogen.
Sie erhob das Haupt, sah, wer vor ihr kniete, ihren Vater, Henry Theben, der sie liebte, den sie in den Armen einer anderen vermutete, und Feuer, die über ihr Gesicht schossen, wechselten mit der Blässe der Erregung. Aber auch eine plötzliche Vermutung zog blitzschnell in das verwundete Herz. Nicht auf ihn bezog sich die Anzeige, sondern auf einen andern gleichen Namens. – Gewiß so war's so mußte es sein. Und wie er nun, ihre Hände küssend, ihre stürmende Frage bestätigte und sich zu dem Alten wandte und ihm zurief: »Ich bitte, ich flehe Sie an, geben Sie mir Margot zum Weibe. Wir können nicht mehr, unsere Kräfte sind am Ende. Und glauben Sie mir, wir werden Sie auf Händen tragen, zusammen ein herrliches Leben führen. – Nun, nun, lieber Monsieur Maurice?« da war's Margot, als er weinend und bejahend das Haupt neigte, als ob der Himmel sich öffne, und tausend Sonnen, nie gekannte, nie geahnte, ihre Lichter herabströmen ließen, um für ewige Zeiten ihre Seele zu erhellen. Mit einem stöhnender Laut riß sie Henry an sich und flüsterte: »O Lieber, Lieber! Endlich und noch im rechten Augenblick! – Es ging fast ans Leben – –!«