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Weißt Du noch, wie wir einst als Kinder – es war ein Jahr vor unserer Konfirmation – im Sommer am Rande des Wiesenholzes im Thymian saßen, und wie Du weintest und mich plötzlich mit Deinen Armen umfaßtest? Ich drang in Dich, mir zu sagen was Dein Herz bedrücke, und da flüstertest Du: »Ich fühle, daß mich niemand jemals lieben wird! Ich bin mit meinem häßlichen Antlitz nur eine gelittene unter den Menschen! Um Dich wirbt alle Welt, sobald Du nur erscheinst, man drängt sich zu Dir; man geizt um einen Blick aus Deinen Augen. –« Ich tröstete Dich damals, aber nicht, um nur Worte zu machen; ich wisse, daß schon jemand Dein seltenes Herz entdecken und Dich trotz des Males in Deinem Angesicht heimführen werde.
Aber Du schütteltest den Kopf; so furchtbar war Dein Jammer, daß Du Dich an meinen Schoß niederwarfst und stöhntest, den Schöpfer, der Dich so grausam behandelt hatte, als Sühne für seine Laune anflehtest, Dich von dieser Erde zu nehmen.
Und nun komme ich heute, liebe Freundin, zu Dir und möchte mein Angesicht an Deiner Brust verbergen, mich ausweinen und Trost und Hoffnung empfangen. Was Dir das Schicksal einst schon in die Wiege legte durch die Unzier des Muttermals, das verhängte es über mich in anderer Weise.
Du nanntest mich stets die »Sonne«; strahlend sei mein Antlitz. Die Götter der Schönheit hätten mich ausgewählt, um alle ihre Gaben auf einmal zu entfalten. Und andere sprachen ebenso; – alle! Ja, die Welt lag mir zu Füßen, und man warb so sehr um mich, daß ich meine Schönheit einst gar verwünschte. O Verblendung! Jetzt sind meine Züge entstellt; Pockennarben bedecken meine Wangen, und wo die Natur früher Rosenfarben malte, findet sich jetzt ein unheimlich krankes Grau. Mit dieser Veränderung schwand jedes Glück von mir. Alle, die mich einst voll Eifer suchten, meiden mich jetzt ängstlich.
Zufällig hörte ich vor Wochen ein Gespräch über mich, und da vernahm ich die Worte: »Die sieht abschreckend aus; die kann man nicht mehr einladen!« Ich las häufig in den Büchern von der Schlechtigkeit und gemeinen Gesinnung der Menschen; es schien mir eine Welt geschildert zu sein, in der ich nicht hineingehörte; jedenfalls war sie mir nicht bekannt. Ich nannte das Übertreibung und meinte: solche Erbärmlichkeit existiere nur in der Phantasie der Poeten. – Ich sage jetzt: »Ihr bleibt hinter der Wirklichkeit noch immer weit zurück. Den Menschen erscheint Häßlichkeit als das furchtbarste Übel; selbst die besten finden, wenn sie den von der Natur Verunstalteten eine Aufmerksamkeit erweisen, daß sie eine besonders gute That geübt haben.
Aber, Liebe, alles das, was ich hier andeute, ist nichts gegen das, was mir bevorsteht. Höre mich an und weine mit mir! –
Vor vierzehn Monaten habe ich mich mit einem vornehmen Amerikaner verlobt, der sich, um Deutsch zu lernen, in einer hiesigen Pension aufhielt. Wir lernten uns in dem Hause eines Obersten von Ernst bei einer Tanzgesellschaft kennen. Den ganzen Abend war er fast ausschließlich um mich und bat am Schluß der Gesellschaft meine Mutter, uns besuchen zu dürfen.
Thomas Gibson lag buchstäblich zu meinen Füßen; durchdrungen von Schönheitssinn, lebhaft, leidenschaftlich, meinte er keinem weiblichen Wesen begegnet zu sein, das sein Herz und seine Sinne in gleicher Weise befriedigen könne, wie ich! – Ich habe eine unbeschreiblich schöne Zeit verlebt, und mein Glück wurde noch vollkommener dadurch, daß auch meine Mutter, die stets sehr wählerisch gewesen war und für ihre Tochter kaum einen Fürsten gut genug gefunden hatte, Thomas vergötterte. Er reiste später nach Philadelphia zurück, weil inzwischen allerlei geschäftliche Ungelegenheiten eingetreten waren; er hoffte indessen, daß unsere Heirat dadurch keine Verzögerung erleiden werde. Seine Voraussetzung bestätigte sich nicht; es war nötig, daß einer der Brüder ins Innere ging, und dieser Aufgabe vermochte sich Thomas, nachdem er so lange in Deutschland der Ruhe gepflegt und das Vergnügen genossen hatte, nicht zu entziehen. –
Was noch zur Sache gehört, ist kurz zu erzählen: Thomas bat mich, bis zum Frühjahr mit der Heirat zu warten. Einige Monate nach seiner Abreise erkrankte ich und lag lange fast hoffnungslos darnieder, und nach meiner Genesung überfielen mich die Pocken. Wenn jetzt, nachdem ich vom Krankenlager aufgestanden bin, Thomas Gibson vor mich hintritt, um mich an den Altar zu führen, findet er statt seiner sprichwörtlich blendend schönen Braut ein – pockennarbiges, abschreckend häßliches Geschöpf! Du wendest ein: Er weiß also nicht, was Dir geschehen? – Nein, er weiß es nicht. Ich hatte nicht den Mut, es ihm zu gestehen. Schon der bloße Gedanke, daß dieser Mann, den ich mehr liebe, als Worte aussprechen können, mich je verlassen könnte, machte mich halb wahnsinnig. Und jetzt? Ich möchte, er käme nicht! Ich zittere vor der ersten Begegnung; – und wenn dann das Schreckliche geschieht, wenn seine Liebe erlischt und er sein Wort zurücknimmt – dann bin ich das elendeste Wesen, das die Sonne bescheint.
O sprich mir nicht, wie die anderen, von dem Unrecht, das ich beging, indem ich ihm verschwieg, was geschehen ist. Versetze Dich in meine Lage. Gibson ist selbst das Bild eines schönen Menschen. Und so stark ausgeprägt ist der Sinn für das vollendet Schöne in ihm, daß er fast hart und unduldsam wurde, wenn er während unseres Zusammenseins auf einen häßlichen Menschen stieß.
Es giebt Personen, deren zarte Nerven den Anblick des Mißgestalteten nicht zu ertragen vermögen. Zu Ihnen gehört Thomas! Und Vertrauen zu seinem Edelmut? Was ich inzwischen erlebte, läßt mich jede Hoffnung auf Hochherzigkeit selbst bei dem begraben, der sich mir in seinen Briefen als die Verkörperung vornehmer Gesinnung darstellt.
Und wenn's auch anders wäre – kann ich das Opfer von ihm annehmen? Hat er nicht ein Recht zu sagen: ich kaufte ein Juwel und nun ist ein kantiger Kiesel daraus geworden? Und wenn ich mich auch über alles wegtäusche, wenn ich annehme, er würde mein Gatte: was bringt mir die Zukunft? Er wird mich vor den Menschen verstecken, und wenn es nicht geschieht, werde ich vor der Welt fliehen, damit man ihn nicht um seines Weibes willen meidet.
Bisweilen habe ich mich schon gegen den Schöpfer aufgebäumt und geschrieen: »Weshalb thatest Du mir das? Welche Sünde beging ich? Und wenn ich fehlte, wenn mich die Eitelkeit ergriff, schufst Du mich nicht herrlicher als alle die andern? Wäre ich ein Mensch, wenn solche Bevorzugung mich niemals das Haupt stolzer hätte emporrichten lassen?«
Meine Mutter rief mir jüngst zu: »Gedenke derer, die vom Schicksal noch viel härter geprüft werden!« Ist das wirklich ein Trost und eine Aushilfe, das Unglück leichter zu ertragen? Nein! Für mich nicht! – –
Lebe wohl teure Freundin! Du sollst auf demselben Wege auch das Ende erfahren. Thomas trifft innerhalb acht Tagen ein. – Ich küsse Dich und danke Dir, daß ich mein krankes Herz an Deine Brust legen durfte. –
Dreimal schriebst Du mir, und immer blieb ich Dir trotz meiner Zusage die Antwort schuldig! Du fragtest mich, wie alles geworden, drängtest mich, Dir, wie damals, mein Inneres auszuschütten und sagtest mir so viel Liebes, daß schon die Aeußerungen Deiner Zärtlichkeit mich hätten veranlassen müssen, Dir zu danken. Seit meinem letzten Brief sind sechs Monate verflossen. – Weißt Du, wie sie mir erschienen sind? So muß den armen Inquisitionsgefangenen in jener Zeit menschlicher Verfolgungssucht zu Mute gewesen sein! Man sperrte sie ein und entzog ihnen alles – nur nicht die Folter!
Ich habe auch Körperqualen erlitten. Was aber sind sie gegen Seelenschmerzen! Die Natur in ihrem Erhaltungsdrange lindert, so lange die Kreatur noch jung ist, doch zeitweilig die Pein; freundliche Eindrücke verwischen sogar häufig den fürchterlichsten Schmerz, weil die Vorstellung zwar der Vater der Qual, doch auch der Pate jeder Glücksempfindung ist. Aber Schwermut, die der Kummer geboren hat, erdrückt alle andern Gefühle und entkleidet die Welt, die unser Auge umfaßt, aller lebendigen Farben. Reizlos, ohne Inhalt, Wert und Bedeutung erscheinen uns die Dinge und das Thun der Menschen. Man fragt: Weshalb das alles? Und neben dieser grenzenlosen Trostlosigkeit dann wieder die Erinnerung an Verlorenes und an alle die Thränen, die wir darum vergossen haben.
Es ist entschieden. Ich habe ihm sein Wort zurückgegeben, und er ist längst wieder über den Ozean gereist! Eins hätte noch alles retten können! Wenn ich Millionen besessen hätte. In jeder sitzen unzählbare Magneten, welche die Kraft in sich tragen, die Menschen an uns zu fesseln! Sie ziehen selbst den Einsiedler aus seiner Klause! Ach, welch ein kümmerlicher Vergleich! Sie machen Götter zu Teufeln und zaubern Teufeln Göttermasken vors Angesicht! Doch mir fehlen nicht nur die Millionen, ich bin arm. Die Pension, die meine Mutter als Gattin eines Generals bezieht, ist unser einziger Besitz.
Aber nun höre, Liebe, wie alles verlaufen ist. Und verdamme mich nicht – ich flehe Dich an, – wenn ich nicht, wie sie alle, lüge und mich verstelle und Gefühle hochherziger Entsagung heuchle, die nicht in mir wohnen.
Das Wesen, das liebt, will besitzen! Das durchdringt es als unveräußerliches Recht! Ich aber mußte hingeben, was meiner Güter höchstes war, ich mußte den Besitz lassen, ohne welchen ich mein Dasein als das der fürchterlichsten Qual empfinde. Meine Mutter ging statt meiner an den Bahnhof, um Gibson bei seiner Ankunft zu empfangen. Sie wollte, daß er vorbereitet werde. Sie sagte ihm, als er voll Unruhe und Enttäuschung nach mir fragte: »Nicht Krankheit hielte mich zurück, aber Angst und Scham.« – Nun drang er in sie. Sie sah, daß eine entsetzliche Vermutung in ihm emporzusteigen begann; sicher fürchtete er, ich habe in Untreue und Schande gelebt.
»Sprechen Sie! Sprechen Sie! Foltern Sie mich nicht,« rief er und zog sie vom Bahnsteig auf die Straße.
Aber sie that nicht, was er verlangte. Sie legte ihm Fragen vor, weil sie sich seiner versichern wollte. Immer rief er: »Was gilt mir das, wenn sie noch ihr altes Herz hat und mich liebt!«
Da sagte meine Mutter: »Und wenn meine Lizzie ein Krüppel geworden ist, wenn sie gelähmt ist, das Augenlicht verloren, oder die Sprache eingebüßt hat?« »Gleichviel! Lassen Sie mich ihr süßes Antlitz küssen. Kommen Sie! Quälen Sie mich nicht länger.«
Meiner Mutter drang es wie mit Messern durch die Brust. Ihr süßes Antlitz! Das beschäftigte seine Gedanken! Ihre Schönheit, die seine Sinne reizte, hoffte er zu finden, wie ehedem! Alles war zu entbehren, aber ihr reizendes Angesicht, das wollte er wiederfinden.
»Nun denn mein Sohn! Lizzie ist durch eine Krankheit entstellt, gerade ihr Angesicht ist aller Schönheit beraubt; Sie werden sie kaum wiedererkennen!« Da erbleichte er! – Und schon auf dem Wege vom Bahnhof, bis zu unserer Wohnung, sprach er von dem großen Unrecht, das verheimlicht zu haben. Er schenkte den Erklärungen meiner Mutter, daß lediglich die angstvolle Vorstellung, seine Liebe zu verlieren, mich habe schweigen lassen, kaum eine Beachtung.
Als ich seine Schritte auf der Treppe hörte, glaubte ich umsinken zu müssen. Das Blut wich aus meinem Herzen, der Tod stand nah' bei mir. Und dann öffnete sich die Thür, und Thomas Gibson stürzte mir entgegen – und dann – – Nimm alles zusammen, was Du Dir schreckliches vorzustellen vermagst! Denke, daß es auf einmal auf Dich eindringt, sodaß Du meinst, dem unheilbaren Wahnsinn nicht entgehen zu können, dann hast Du einen Begriff von den Stunden, die folgten, als er mich – eine dringende Angelegenheit vorschützend – verließ. Ich wußte, es war nur ein Vorwand, um sich zunächst erst einmal meiner Nähe zu entreißen. Ich wußte aber auch, daß ich ihn niemals wiedersehen werde! Als ich seinen Brief, den Absagebrief gelesen, den meine Hände zitternd und fliegend gepackt, fiel ich wie tot zurück. Sechs Wochen habe ich mit einem Nervenfieber gekämpft; erst jetzt finde ich die Kraft zu diesem Briefe, überwinde ich das Grauen, mich des Geschehenen mit bewußtem Willen zu erinnern.
Während ich schreibe, zwitschern unter mir im sonnendurchfluteten Garten die Vögel. Alles funkelt und leuchtet und blitzt. Und darüber blaut ein hehrer Himmel; die Luft durchziehen die ersten Düfte der Veilchen und Krokus, und aus der Ferne dringt zu mir herüber das Krähen der Hähne und das Jauchzen fröhlicher Kinderstimmen. – Der erste Tag, an dem meine Seele etwas sanfter und ruhiger ist! Der erste Tag. der den Glauben in mir weckt, ich könne doch noch einmal wieder ein wenig Freude am Leben finden.
Aber selbst heute noch sehne ich den Tag herbei, wo alle Qual ein Ende hat.
Vorgestern war ich auf dem Kirchhof, um das Grab meines Vaters zu besuchen. Auf einem Grabstein las ich einen Spruch, der mich den ganzen Tag beschäftigt hat.
»Urquell der Liebe!
Dankend lege ich meinen Staub
in Deinen Schoß nieder.«
Wird dies Schmerzgefühl noch einmal aus meiner Seele weichen? Ich weiß es nicht! Lebe wohl! Grüße Deinen unvergeßlichen Mann und Deine lieben Kinder und denke bisweilen Deiner armen
Lizzie.