Hermann Heiberg
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Hermann Heiberg

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Signa Abro.

Die schöne Signa, so wurde sie schon in der Schule allgemein genannt. Neidlos gönnte ihr jeder die Anerkennung ihrer körperlichen Vorzüge, weil sie mit dieser Schönheit eine seltene Liebenswürdigkeit verband. Keine der Schülerinnen war so selbstlos und jeder Nachrede abgeneigt, wie Signa Abro, aber auch keine hatte, das fühlte jeder, einen solchen feinen weiblichen Sinn. Ein verlegenes Rot schoß über ihre Wangen, wenn unzarte Dinge berührt wurden, und nie beteiligte sie sich an Gesprächen, die von dem Zulässigen abwichen.

Signa besaß aber noch einen anderen Vorzug. Sie hatte eine wundervolle Stimme. Sie bannte selbst die Unmusikalischen durch den Zauber ihres Gesanges. dessen Ausbildung ihre Mutter, die Witwe eines früh dahingegangenen Beamten, schon während der Schulzeit eifrig bei ihr zu pflegen beflissen gewesen war.

Die meisten Schülerinnen der Wisborger Schule blieben nach der Konfirmation noch ein Jahr zu ihrer weiteren Ausbildung in der Klasse.

Auch die schöne Signa Abro.

Nun, da sie lange, dunkle Kleider trug, erhöhte sich der ungewöhnliche Reiz ihrer Erscheinung.

Ihre Gesichtsfarbe war ein wenig blasser geworden, die Augenbrauen schienen noch dunkler und noch enger zusammengewachsen zu sein, die Wellenlinien ihres Mundes sich noch mehr verfeinert zu haben.

Nichts Entzückenderes, als wenn Signa lächelte. Es giebt Gesichter, in denen lachende Himmel sich aufthun, wenn der Mund sich öffnet. So war's hier. Alles lebte. Auch die weißen Zähne schienen an diesem Triumph ihrer strahlenden Mienen teilzunehmen. Und dennoch verlernte sie für lange Zeit alles Lachen, jede Fröhlichkeit.

Eines Tages verschied Frau Abro plötzlich an einem Herzschlag. Signa sah man kaum während langer Monate, und als sie dann zum ersten Mal hervortrat, war sie sehr verändert. Die Augen zeigten einen kranken Zug, und der schöne Körper hatte viel von der reizenden Fülle eingebüßt. Gram und Leid hatten nicht nur ihre Seele ergriffen, sie hatten auch ihre Spuren an dem Körper zurückgelassen. Aber ihre Züge hatten etwas vergeistigtes, der Ton ihrer Stimme hatte einen weichen, sanften Klang, und noch fügsamer und bescheidener schien sie geworden zu sein.

Von der »Höhe«, einem Stadtteil, in dem ihre Mutter eine Wohnung innegehabt, und von der man einen wundervollen Blick über die reizend gelegene Stadt Wisborg genoß, war sie in das Haus einer verwitweten Pastorin, einer Frau Dohme, übergesiedelt. Sie, eine Verwandte der Verstorbenen, hatte die Waise zu sich genommen, und den schon früher von Signas Mutter genährten Gedanken in ihr befestigt, sich auszubilden und Opernsängerin zu werden.

Natürlich erhoben sich in Wisborg dagegen viele Stimmen. Daß eine Frau Pastorin das fördern konnte, machte auf die Prüden, die im sichern Schatten ihrer Wohlbehäbigkeit hockten, einen sehr üblen Eindruck. Signas Stimme müsse, so urteilten die Weltverächter, für den Kirchengesang ausgebildet werden. Andere wiesen auf die Ungewißheit des Gelingens, auf das unsichere Brot hin, besonders aber auf die Verführung, der Signa ausgesetzt sein werde. Aber keiner der Tadler streckte die Hand aus, um Signa auf einem anderen Gebiete zu fördern. Frau Dohme war jedoch eine sehr entschiedene Frau mit einem stark ausgeprägten Unterscheidungsvermögen für nützliche Dinge und brotloses Hinträumen. Sie ließ Signa von einer wöchentlich nach Wisborg kommenden geschulten Dame Unterricht erteilen und ermöglichte es später, sie nach Berlin zu schicken.

Und nun begann für Signa Abro die Zeit der Prüfungen.

Als sie nach reichlich einem Jahr zu Frau Dohme zum Besuch zurückkehrte, war ihr Körper wieder in voller Schönheit aufgeblüht. Die Beschäftigung mit der Kunst hatte der Seele Schmerz überwunden. Der Erfolg ihrer Studien machte sie überglücklich, und dieses Glücksgefühl strahlte aus ihren dunklen Augen zurück.

Auch war alle Schwermut abgestreift. Sie glaubte an ihr Können, und die Zukunft erschien ihr in dem hellsten Licht.

An einem Junitage empfingen die Damen eine Einladung zu einem Sommervergnügen bei einer der Wisborger Familien, in der alles verkehrte, was Ansehen und Bedeutung hatte.

Namentlich gingen auch die Offiziere der Garnison dort aus und ein, und insbesondere war einer, der erst seit einem halben Jahr nach Wisborg versetzt war, der Mittelpunkt des Interesses. Er war ein passionierter Reiter und Jäger, besaß viele gesellschaftliche Talente und Sinn für alle geistigen Dinge. Auch bestach sein vornehm klingender Name, er hieß Baron Jacque de Montebello-Duplessis. Freilich hatte er kein Vermögen, ja befand sich, ohne leichtsinnig zu sein, fortwährend in den allergrößten Verlegenheiten.

Herr von Montebello war ebenfalls eingeladen, und es traf sich, als man die Böte bestieg, um in ihnen an das jenseitige Ufer zu fahren, daß er gerade in dasjenige gelangte, in dem Signa Platz genommen.

Frau Dohme hatte sich nachträglich entschuldigen müssen. Signa war auf die Tochter des Hauses angewiesen, aber diese entledigte sich ihrer Repräsentationspflichten in der liebenswürdigsten Weise. Dadurch gelangte Signa mit Montebello, der sie anfänglich für eine bei der Familie zum Logierbesuch befindliche Verwandte hielt, in eine engere Berührung, und schon gleich, als die blendende Erscheinung des Mädchens vor ihm auftauchte, geriet sein Inneres in einen Zustand starker Unruhe. Die Folge war, daß Montebello kaum während dieses Nachmittags von Signas Seite wich, und als er nun gar fand, daß sich diese äußere Vollkommenheit nicht, wie meistens, mit Eitelkeit und Ueberhebung verband, sondern mit liebenswürdigster Bescheidenheit, verlor er, wie es in den Büchern heißt, im Nu sein Herz.

Als sie später, zufällig oder absichtlich getrennt von den anderen, durch einen sich an ihr Ziel anlehnenden lichtdurchfunkelten Wald schritten, verlieh Montebello dem Gespräch einen werbenden Charakter.

»Sagen Sie mir, mein Fräulein,« scherzte er, »wie es möglich ist, daß Ihr Körper soviel Schönheit tragen kann, wie der Ihrige?«

»Es trägt sich, was mir die Natur verliehen, und was Sie als Schönheit bezeichnen, jedenfalls weit leichter, Herr Baron, als derlei Artigkeiten. Sie machen mich verlegen und unfrei, und zudem sehe ich sie als das Produkt eines armen Geistes an. Verzeihen Sie meine Offenherzigkeit, und ich bitte, sprechen Sie nicht mit mir leichtfertig wie mit anderen. Erzählen Sie mir etwas aus Ihrem Leben.«

»Das würde Sie interessieren?«

»Gewiß.«

»Mein Vater stammte aus Frankreich, lebte aber, im Besitz einer Herrschaft, am Rhein, wo er zugleich als preußischer Generalmajor in Garnison stand. Meine Mutter war eine geborene Rheinländerin und hatte ebenfalls Vermögen in die Ehe gebracht. Ich verlor sie beide, als ich eben als Kadett eingereiht wurde, und als nach Jahren mein Vormund in Vermögensverfall geriet, stellte sich heraus, daß er auch mein damals in Wertpapiere umgewandeltes gesammtes Eigentum veruntreut hatte. Es blieb mir so viel wie nichts. Sie sehen aus diesem unerfreulichen Bericht,« schloß Montebello mit wehmütiger Anspielung an das Vorangegangene, »daß ich wenig zu tragen habe.«

»Sie wissen Ihr Schicksal zu tragen. Das ist viel, das ist alles. Ihnen kann es nicht fehlen. Ich hörte schon von den vielen Gaben, die Ihnen die Natur verliehen hat. Zudem sind Sie gesund.«

Montebello nickte leicht. Dann aber sagte er ernst: »Gewiß: Aber ich habe gar keine Angehörige mehr auf der Welt. Keine Eltern mehr zu besitzen, heißt für immer auf einen der höchsten Lebensschätze verzichten.«

Signa bestätigte schwermütig: »Sie haben recht! Auch ich habe die Meinigen verloren und bin auf des Lebens Zufall angewiesen.«

»Aber ich gebe Ihnen zurück, was Sie so gütig an mir lobten, mein Fräulein! Sie besitzen alles, um das Glück an sich zu ziehen!«

»Ja, meine Kunst! Wen einmal sie umspinnt mit ihrem Zauber, der hat Ersatz für jegliches und begehrt nichts anderes.«

Des Mannes Eifersucht ward rege. Er stellte sich vor, daß sie in solchen Ausdrücken von ihm reden würde! Der alleinige Mittelpunkt ihres Denkens und Fühlens zu werden, erschien ihm als höchstes Ziel.

»Ich möchte Sie einmal weinen, einmal lachen und einmal schmollen sehen,« hub er unvermittelt an. »Aber freilich, letzteres liegt außer dem Bereich Ihrer Fähigkeit. Sie können sicher nicht zürnen, also nicht einmal schmollen?«

»Doch, Herr von Montebello. Wenn nämlich Jemand dabei bleibt, schöne Dinge zu sagen.«

Dabei lächelte sie ein hinreißendes Lächeln! Aber als er dann, fortgerissen von seinem leidenschaftlichen Gefühl, einen wärmeren Ton sich erlaubte, sich zwischen den verschwiegenen Tannen zu ihr drängte, durch die sie eben schritten, zogen sich plötzlich ihre Stirnfalten zusammen und ein tiefer Ernst trat in ihre Züge.

»Ah! Ich that Ihnen weh! Verzeihen Sie. Was berührt Sie so heftig?« stieß Montebello betroffen hervor.

Schon eine Weile war die sanfte Musik einer Drehorgel zu ihnen herübergedrungen. Ein wandernder Italiener, der über die Chaussee gezogen, hatte an dem Wirtshaus Halt gemacht.

Signa aber sagte: »Als meine Mutter im Sterben lag, stand ein Orgelspieler vor unserer Thür und spielte. Es war dieselbe Melodie, die zu uns empordringt. Da ergriff mich die Erinnerung an die ernsten Tage mit solcher Gewalt.« – Sie suchte ihrer Bewegung Herr zu werden. Der Mann aber tastete leise nach ihrer Hand, drückte sie sanft und sagte in einem einfachen, herzlichen Ton:

»Ich fühle ganz mit Ihnen. Und nun sah ich Sie ja auch lächeln und – weinen. O, lächeln Sie noch einmal, Fräulein Abro – Fräulein Signa – Signa –«

Es durchströmte ihn ein seliges Behagen, ihren Vornamen zu sprechen, und ein noch höheres, daß sie ihm diese Vertraulichkeit nicht wehrte. Ja, es erschien sogar ein sanfter hingebender Ausdruck in ihren Zügen, und während ihr Angesicht sich also verschönte, erhob sie für Sekunden den Blick zu dem berauschten Manne.

* * *

Wisborg, den 10. Juni 1867.

Hochverehrtes Fräulein!

Als ich das zweite Mal, vorgestern, wieder mit Ihnen zusammen sein durfte, schlossen Sie Ihr Gespräch mit dem Spruch:

»Hüte Dich dann am meisten vor den Blumen
Wenn sie am süßesten duften!
Weniger ist mehr! Was unsere Sinne umnebelt,
Vermag uns sogar zu töten.«

Ich deutete in jenem Augenblick dieses Wort zu meinen Ungunsten. Sie wollten mir sagen, daß Sie mir nicht trauten, und weil Sie mir kein Vertrauen zu schenken vermöchten, auch nicht mit einem Ja beantworten könnten, was als stumme Frage auf meinen Lippen lag. Welchen Inhalts dieser Brief ist? Sie wissen es. Ich liebe Sie mit ganzer Leidenschaft, und ich bitte Sie, die Meine zu werden.

Ich sage es nun trotz Ihrer Zweifel und der mir daraus gewordenen schweren Bedenken. Aber was verlangt der Mensch in diesem meist armseligen Leben? Neben Gesundheit einen Mittelpunkt für sein Denken und Empfinden. Ein solcher Mittelpunkt werden Sie für mich sein, so lange ich lebe. Aber auch Ihnen muß danach verlangen, da Sie gleich mir allein auf der Welt stehen. Ich fühle daß ich ohne Sie nicht sein kann. Es liegen Fäden aus, unsichtbare, zwischen den Menschen oft schon seit ihrer Geburt, ohne daß sie es wissen. Ich ging an allen Frauen vorüber, ohne daß sich etwas ernstes in mir regte. Nun ist der Sturm erwacht. Jener Faden, den das Schicksal gelegt, führte mich zu Ihnen, einzige, teure, geliebte Singa. Wir werden, wenn Sie mein sein wollen – welch ein Wort, welch ein Umfang von nicht auszudenkendem Glück – zusammen unser Leben einrichten auf dieser Liebe und zärtlichen Hingebung. Was uns materielles verwehrt ward, wird unser stilles, großes Glück ersetzen. – In diesem Augenblick ists mir eine unzweifelhafte Sicherheit, daß Sie mich wieder lieben! Ich bitte Sie, antworten Sie mir bald. Muß es nicht schon einen fühlenden Menschen rühren, wenn ein anderer ihm solche Zärtlichkeit entgegenträgt? So wird schon Mitleid, Mitleid, die Schwester der Liebe, eine solche für mich in Ihrem Innern erwecken.

Ich höre, Sie wollen nach Berlin zurückkehren.

Ich weiß, Sie werden nicht fortgehen und in unheilbarer Schwermut zurücklassen

Ihren
Jacque de Montebello.

* * *

Wisborg, den 11. Juni 1867.

Ah, Geliebter, ich riß die Fenster auf, denn die vier Mauern waren zu eng für so viel Glück! Komm so rasch, wie möglich! Ich vergehe, wenn ich es nicht bald wieder höre, daß Du mich liebst. Und ich, ich liebe Dich – –!

Signa.

* * *

Berlin, den 11. Juni 1868.

So ist es denn nun das letzte Blatt an unserm goldenen Baume herabgesunken, Jacque! Was ich Dir heute sage, ich weiß es, wird Dich in den ersten Tagen fassungslos machen, aber ich weiß auch, daß Du es mir doch noch danken wirst.

Du mußt wieder frei sein, und ich gebe Dir die Freiheit zurück. Noch mehr, mein teurer, unvergeßlicher Mann, ich habe mich gestern mit Franz Marwell verlobt. Schon finden sich heute die Anzeigen in den Zeitungen.

Es ist unmöglich, daß Du mir sagen kannst, ich übte keine Treue.

Höchste Treue ist höchste Liebe, und höchste Liebe bringt die höchsten Opfer. –

Schon als ich im vorigen Jahr meine Verwandte verlor, gestand ich Dir, daß mein Dasein ein unhaltbares sei ohne einen neuen Schutz und eine neue Anlehnung. Ich verschwieg Dir bei unserem Zusammensein, daß ich nicht einmal die Mittel besaß, mir Trauerkleider anzuschaffen, nichts, um die Reise nach Berlin zurück zu bezahlen. Und wenn ich wieder in die große Stadt eintrat, starrte mich die Leere an. Ich besaß garnichts, als ein wenig Garderobe, und wußte mir auch kein Geld zu verschaffen.

Du aber, mein Jacque, hattest ebenso wenig, und ich fühlte und sah, wie Du unter Deiner Not und unter diesem äußeren Schein littest seit unserer Bekanntschaft.

»Raum ist in der kleinsten Hütte
Für ein zärtlich liebend Paar!«

Das sang man in den Zeiten, wo andere Ansprüche herrschten, das traf zu in den Zeiten der einfachen Genügsamkeit. Heute ist alles anders. Not sei das Grab der Poesie, las ich einst.

Du liebst mich noch heute wie einst, ich liebe Dich wie einst, fast noch mehr, da ich Dich auch noch achten lernte wie keinen anderen Menschen auf der Welt. So zerreißt schon der bloße Gedanke einer Trennung mein Herz. Aber unsere Liebe ist völlig aussichtslos. Und da ich damals nicht verhungern konnte, mußte ich Marwells Gaben annehmen, und wenn ich ferner nicht vergehen wollte und zugleich ehrbar bleiben, durfte ich seine Wohlthaten nicht zurückweisen.

Dir steht die Welt offen, wenn Du keine Signa mehr als Fessel hast.

Mich leitet Dankbarkeit gegen den Mann, der selbst darbte, damit ich leben konnte. Uns verbindet zudem das gemeinsame Interesse für Musik. Er ist Opernsänger und hat mich ausbilden helfen.

Lebewohl, mein innigst geliebter Jacque. Denke nicht – Du begingest, wenn Du es thätest, eine unmenschliche Grausamkeit – daß mich etwas anderes leitet, als das hier Gesagte. Und klingt es nüchtern, kalt Dir, so wisse, daß ich mich zu bezwingen wußte, weil sonst durch zu viele Thränen die Buchstaben verschwommen wären.

Ich löse das geheime Band, das uns verknüpfte. Da es unser Geheimnis blieb, kann die Welt, die zur bösen Nachrede sprungbereite, nicht einmal einen Stein auf uns werfen. Dieser Vorteil bleibt uns. Und nun küsse ich Dich zum letzten Mal heiß und zärtlich – o, wie mein Herz schmerzt! – und indem ich noch erkläre, daß nichts meinen Entschluß zu ändern vermag, nenne ich mich

Deine Schwester Signa Abro.

* * *

Zeitungsausschnitt vom 11. Juni 1873.

Von einem sehr traurigen Familien-Ereignis haben wir heute zu berichten. Nachdem der Operettensänger Franz Marwell vor einem halben Jahr plötzlich gestorben ist und seine Gattin, die wegen ihrer großen Schönheit berühmte Konzertsängerin Frau Signa Marwell, in sehr bedrückter Lage mit vier Kindern zurückgelassen hat, sind nun der Frau während des Verlaufes weniger Tage alle Kleinen bis auf ein Mädchen durch die Diphtheritis entrissen worden, und sie selbst hat wohl infolge der Aufregung die bereits nach dem Tode des Mannes heiser gewordene Stimme unwiederbringlich verloren.

Wie man hört. wird Frau Marwell Berlin verlassen und nach ihrer Heimat Wisborg übersiedeln, um dort durch Musikunterricht sich einen Erwerb zu verschaffen.

* * *

Wieder sind zwei Jahre vergangen, acht volle Jahre, nachdem Baron Jacque de Montebello jenen zärtlichen Brief an Signa schrieb, und Signa ihm in stürmischer Glückseligkeit antwortete. Dieser Jahre Ereignisse zu beschreiben, würde es vieler Bände bedürfen. Signa hat anfangs die Freuden dieser Ehe gekostet, obschon sie eine Verstands-Verbindung eingegangen ist, obschon sie mehr Dankbarkeit leitete, als Zuneigung. Aber schon nach einem Jahr hat der Mann mit seinem beweglichen Künstlersinn Augen auf andere Frauen geworfen, und sie vernachlässigt.

Zeitweilig ist er, angewidert von dem Treiben und von der Hohlheit derer, zu denen ihn seine Sinne hinrissen, zu ihr zurückgekehrt, und sie, die allezeit Reine, hat ihn mit ihrem unvergleichlichen Herzen wieder aufgenommen. Jegliches, was sie treibt, treibt sie mit Ernst. So auch die Pflicht, auch die Dankbarkeit.

Wenn die Not an die Thür gepocht hat, ist sie auf's Podium gestiegen und hat mit ihrer Stimme die Menschen zu Thränen gerührt.

Die Wahl ihrer schwermütigen Lieder paßt zu ihrer äußeren Erscheinung. Niemand kann sich erinnern, die Frau je lachen gesehen zu haben. Nur, wenn sie mit ihren Kindern sich beschäftigt, zuckt in ihren Augen das ewig schöne Lächeln der Liebe, das Lächeln einer Madonna.

Not hat sie kennen gelernt bis zum Hungern. Wenn er auf Gastspielreisen gegangen ist, hat er kein Geld gesandt, aber Champagner getrunken, und sie ist auf's Pfandhaus geeilt und hat das letzte Stück verkauft.

Doch hat sie ihn in seiner Krankheit gepflegt Tag und Nacht. Sie hat sich erinnert, daß es auch seine Kinder sind, die nach ihr rufen, deren Stimmen nebenan zu einem mehrstimmigen Gesang anheben. –

Als sie alle ihre Kleinen bis auf die älteste Signa verloren hat, da ist ihr das Wort in der Kehle stecken geblieben, weil das Herz nicht mehr ordentlich schlagen wollte, und damit ihr hier schon auf Erden die Vergeltung werde, weil sie ein wahrhaft seltener Mensch gewesen in Pflicht und Sitte, hat ihr das grausame Schicksal auch noch den Zauberschall ihrer Stimme genommen.

Heute sitzt sie in einem kleinem Stübchen Wisborgs und schaut hinaus auf die lange leere Gasse. Bis jetzt hat sich noch auf ihre Anzeige keiner für den Musikunterricht gemeldet. Sie giebt ihn ihrer Signa, die in dieselbe Schule geht, in der sie einst die schöne Signa war.

Signa Marwell erfassen heute die Erinnerungen, sie greift nach einem Brief, den sie öfter gelesen, als ein Prediger die Seiten seiner Bibel.

Er lautet:

Wisborg, den 13. Juni 1868.

Eher hätte ich gedacht, daß Gott sich in einen Teufel verwandeln, als daß Signa Abro die Treue brechen könne. Ich saß vor Deinem Brief stundenlang wie im Irrsinn. War's eines rohen Menschen roher Scherz? Nein, es waren ja Deine Schriftzüge, Deine, nach denen ich jedesmal ausgesehen hatte, wie nach einer glückseligen Verheißung.

Der Mittelpunkt meines ganzen Denkens und Fühlens warst Du, Signa! Ohne Dich kein Lichte in der Welt. Meine Liebe trug so starke Hoffnungen, daß ich auf des Glückes Zufall rechnete. Es konnte nicht zwei Menschen verlassen, die sich so liebten, wie wir. Du giebst mir meine Freiheit zurück! O, Du Blinde, die Du mir ein Geschenk machen willst.

Durftest Du allein über unser Schicksal bestimmen? Mußtest Du mich nicht fragen?

Du schreibst von Not. Ich hätte als Knecht mich verdingt, wenn es notwendig gewesen wäre, mich zu jeglichem erniedrigt, um Dich mir zu erhalten.

Und Du!

Ich sage Dir, daß ich Dir nicht glaube. Du bringst vor, mir ein Opfer zu bringen, doch denkst Du an Dich und an ihn.

Böses drängt sich mir auf die Lippen. Aber ich spreche es nicht aus. Nur des einst und jetzt gedenke ich. Das aber genügt, uns zu scheiden für immer.

Nähmest Du auch Dein Wort zurück, niemals könnte ich vergessen, daß Du glauben konntest, Du handeltest in meinem Sinne, niemals, daß Du vergessen konntest unsere feierlichen Schwüre der Untrennbarkeit. Möge es Dir gut gehen, Signa! Das wünscht der, dessen Leben Du vernichtet hast, den Du zu lieben vorgabst, der Dich so grenzenlos liebte.

Jaque de Montebello.

Seit dem Tode ihres Mannes hat Signa gekämpft, ob sie dem Hauptmann Baron von Montebello, der, wie sie weiß, unverheiratet geblieben und ein einhäusiger, finsterer Mann geworden ist, nach seiner jetzigen Garnison, der hannoverschen Stadt Osnabrück, den Tod ihrer Kinder, nachträglich auch den Tod ihres Mannes anzeigen soll. Immer hat sie es, da ihr im letzten Augenblick gewesen, als ob eine unsichtbare Hand ihre Rechte zurückrisse, unterlassen. Die Gründe? Sie brauchen zartsinnigen Menschen nicht erzählt zu werden.

Er hat ihr Herz so grausam gemartert durch seinen Brief, daß anfangs alles in ihr tot gewesen ist. Dann, wenn es sie doch gedrängt hat, ihn aufzuklären, ihm zu beweisen, daß nur ihre Liebe sie so handeln ließ, hat sie sich vorgestellt, er könne glauben, sie wolle wieder um seine Liebe betteln. Und doch würde sie heute, wo sie hier in Einsamkeit und Jammer hockt, umringt von den Hexen Sorge und Not, auf den Knieen zu ihm sich geschleppt und gerufen haben: »Höre mich, einziger, unvergessener Mann, und wisse, daß ich Dich dennoch ebenso leidenschaftlich liebe, wie an dem ersten Tage unserer Bekanntschaft.« –

Es ist ihr, als ob sie vergehen müsse, wenn sie sich erinnert des ersten Spazierganges im Walde, der heute noch, nur schöner, üppiger geworden, vor ihr aufsteigt hinter dem Hause an den Ufern des Flusses, um den Wisborg so reizvoll malerisch hingestreckt liegt.

Heute nun denkt sie nicht an früher und nicht an die Zukunft, heute muß sie ihm ein Wort schreiben. Sie erträgt es nicht länger, wenn sie ihm nicht alles sagt, was zentnerschwer auf ihrem Herzen geruht seit jenem Tage, an dem sie seinen Brief empfangen.

Stunden und aber Stunden schreibt sie. Auch am Abend, nachdem ihr Kind schlafen gegangen, nimmt sie die Arbeit wieder auf. Und dann noch fast den nächsten Tag und noch einen. Wie die Augen schmerzen! – –

Endlich sendet sie die Zeilen, ihrer Seele tiefstes Sein, die Schilderung ihrer Erlebnisse an ihn ab.

Eben hebt ein Orgelspieler an, zu spielen, sie zuckt zusammen. Es ist das Lied, das aus der Orgel klang, als ihre Mutter starb. Aber freilich ihr Auge leuchtet, es ist auch das Lied, bei dem er zum ersten Mal um sie warb unter lichtdurchfunkelten Zweigen. –

* * *

Sommerglühen. Die Welt liegt im Schönheitsrausche mit halb geöffneten, trunkenen Augen. Ueber ihr zwitschern die Vögel, über den Blumen summen die Bienen und anderes melodisches Getier. Der Himmel ist hoch und wolkenfrei. Er birgt nichts böses. Friede und sanftes Genügen überall. Der Mensch vergißt, daß Krankheit, Not und Ungemach waren und wiederkehren.

Er genießt, was die Schöpfung ihm bietet, was der Schöpfer ihm gewährt.

Nun will der Tag zur Ruhe gehen. Die Sonne ist gewichen. Eben rasseln die Wagen vorüber, die vom Bahnhof die Fremden abgeholt haben. Das ist der kleinen Signa Bettzeit. Ihre Mutter, ihre noch immer wahrhaft schöne Mutter küßt ihr die Augen und den Mund. Sie schläft auch schon, und noch hier und dort an einzelnem ordnend, verläßt die Frau das Schlafgemach und begiebt sich in die Wohnstube. Ihr Herz ist heute etwas froher. Eine Anzahl Schülerinnen haben sich gemeldet. Die Wisborger haben Kunde über sie eingezogen und erfahren, daß ihr Lebenswandel tadellos gewesen. – In diesem Augenblick wird draußen geklopft.

Signa öffnet arglos, mit ein wenig zusammengekniffenen Augen in den dunkelen Flur schauend. »Wer ist da?«

Erst keine Antwort, dann aber aus dem Munde eines Mannes ein Ton, der ihr schier das Herzblut erstarren macht.

Sie tritt zurück, die Hand auf die Brust gedrückt, atemschwer, zitternd. Jetzt schiebt die Abendsonne etwas Licht ins Gemach, sodaß beider Gestalten deutlich erkennbar werden. Und dann ein Fußfall – und dann ein Schrei der Glückseligkeit – –

* * *

Sie haben sich wieder gefunden und bald darauf geheiratet. Der Sohn jenes Vormund hat die Schuld seines Vaters zu einem Teil an Montebello abgetragen. Auch ihre Stimme hat sie wieder erhalten, wenn auch nicht in alter, ganzer Schönheit. Was der Schmerz genommen, hat ihr wonnetrunkenes Herz zurückgebracht. Sie sitzt am Klavier und singt, während er zurückgelehnt, mit den alten zärtlichen Augen ihre Gestalt umfängt. Es klingt reizend, aber auch die Worte bewegen sein Gemüt tief. Sie passen auf die Erfahrungen seines Lebens. Wie er sie liebt, und wie sie ihn liebt! Es giebt keine glücklicheren Menschen. Die Worte des Dichters aber lauten:

»Dunkeln muß der Himmel rings im Runde,
Daß sein Sternenglanz zu leuchten wage!
Stürmen muß das Meer bis tief im Grunde,
Daß ans Land es seine Perlen trage.
Klaffen muß des Berges tiefe Wunde,
Daß sein Goldgehalt ersteh' zu Tage.
Dunkle Stunden müssen offenbaren,
Was ein Herz an Großem birgt und Klarem!«

 


 


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