Hermann Heiberg
Aus allen Winkeln
Hermann Heiberg

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Isabel.

Die Lokomotive brauste blitzschnell dahin, obschon es kein Eilzug war. Aber eine bereits eingetretene Verspätung mußte eingeholt werden, und schon bei der nächsten Station, einem Villenort, war ein fahrplanmäßiger Aufenthalt von einer halben Minute.

Hier stiegen zwei, ihrer Erscheinung nach, den bevorzugten Ständen angehörende junge Leute aus dem Koupé und nahmen lebhaft plaudernd den Weg rechts am Bahnhof vorbei, nach einem etwa zwanzig Minuten entfernt liegenden Wäldchen. Diesem zur Seite lag ein schloßartiges, weiß schimmerndes Haus, das sich um so reizvoller von seiner Umgebung abhob, als der Frühling eben gerade das erste Grün gezeitigt hatte, und eine das Auge durch seine Farben entzückende Laubfülle Bäume und Gebüsche bedeckte.

»Also die Tochter heißt?« hob, das begonnene Gespräch fortsetzend, der eine der beiden Fußgänger an.

»Isabel!«

»Schön?«

»Sehr schön. So schön und eigenartig zugleich, daß ich, wenn ich nicht so glücklich verlobt wäre, dieses Mädchen zu meiner Frau gemacht haben würde.«

»Das heißt, wenn sie gewollt, lieber Freund.«

»Natürlich! Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß ich einen Korb bekommen haben würde. Entweder hat man ihr schon im Leben sehr viel artige Dinge gesagt und sie ist deshalb etwas schroff, oder ihr Wesen begründet sich in ihrer Eigenart. Ich glaube es! Bis jetzt bin ich noch nicht recht klug aus ihr geworden.«

»Und die Mutter?«

»Die Mutter ist ebenfalls sehr schön. Viele geben ihr sogar den Vorzug. Sie sieht durchaus nicht wie eine Mama aus, nicht einmal wie eine kleine Mama.«

»Und hat noch den Wunsch zu gefallen?«

»Sie würde keine Frau sein, wenn's anders wäre! Aber sie ist es ebenfalls nur im besten Sinne, und überhaupt finde ich die Familie Fecito untadelhaft!« –

* * *

Eben war die Tafel aufgehoben. Herr Fecito, ein reicher Mann, der seit einer Reihe von Jahren von Südamerika nach dem Norden übergesiedelt war und sich hier aus irgend einer Laune neben der Großstadt angekauft, hatte sich nach dem Kaffee zurückgezogen, um ein wenig zu ruhen. Die Frau des Hauses blieb plaudernd mit dem älteren Freunde, dem Assessor von Emden, im hinteren Balkonzimmer sitzen, und Ernst, Baron von Jasper, der Neueingeführte, ebenfalls ein junger Jurist, stieg in Begleitung von Isabel die Treppe in den Park hinab.

Sie hatten sich bei Tisch etwas gezwungen unterhalten. Isabel gab sich, – Jasper nahm es an – wie man sie zu schätzen verstand, oder richtiger, wie sie angeregt ward. Mancher hätte darauf geschworen, daß sie nicht lachen könne, ein anderer würde vielleicht ihre Laune nicht genug gerühmt haben. Jasper vermutete, daß sich hinter diesem gesetzten Wesen noch ein anderes Naturell verberge und suchte, während sie Seite an Seite dahinschritten, dem Gespräch eine leichtere Wendung zu verleihen.

Aber wenigstens ihm gegenüber blieb Isabel gemessen. Sie lächelte wohl, aber ohne eine ernste, mit stolzem Selbstgefühl vermischte Zurückhaltung aufzugeben, und als Jasper ihr einmal eine Artigkeit sagte, dehnte sie den Mund und bewegte den Kopf mit einer Miene, als ob sie sagen wollte: »Ich bitte, lassen Sie dergleichen.«

Emden hatte Recht gehabt. Isabel war eine blendende Schönheit. In der weichen, schlanken Fülle ihres Körpers lag ein knospender Drang nach Entfaltung, und die feingeschnittenen Züge erinnerten an diejenigen einer antiken Kamée.

Jasper brachte das Gespräch auf Emden, dann auf dessen Braut.

»Sie kennen sie?« fragte Isabel sichtlich angeregt.

»Gewiß ein allerliebstes, lustiges Ding. Eine echt deutsche Erscheinung –«

»Klug?«

»Nicht eben sehr.«

»Also ein gutes Gänschen!« meinte Isabel und ihr Mund verzog sich spöttisch.

Es war das erste Wort, das Jasper nicht gefiel. Es drückte sich Lieblosigkeit, aber auch Hochmut darin aus. Wenigstens wollte es ihm so erscheinen. Er ward enttäuscht, und zugleich gedrängt, von ihr noch andere Urteile über Menschen zu hören. Vielleicht war sie wirklich kalt und besaß noch sonstige unerfreuliche, wenig anziehende Eigenschaften.

»Weshalb nehmen Sie – ich bitte um Verzeihung – gleich das schlechteste an? Ein junges Mädchen ein Gänschen zu nennen, ist das Ungünstigste, was man von ihr sagen kann.«

»Wirklich?« Isabel sprach's verwundert. »Ich beherrsche die deutsche Sprache nur unvollkommen und habe nicht immer den richtigen Maßstab. Belehren Sie mich gütigst!«

Also hatte sich Jasper doch wohl getäuscht. Wie leicht gelangt man doch zu falschen Schlüssen!

»In diesem Fall bitte ich Ihnen meine Worte ab, zumal wirklich ein Fünkchen Wahrheit in Ihrer Beurteilung liegt,« entgegnete Jasper. »Aber wenn man jemanden kennt und schätzt, mag man ihn nicht gern verkleinert sehen. Man lehnt sich unwillkürlich dagegen auf.«

»Ich verstehe Sie nicht!« entgegnete Isabel unbiegsam und erhob das Auge.

»Ich meine,« fuhr Jasper enttäuscht und zum Widerstande gereizt, fort, »ein ritterlich veranlagter Mensch tritt unwillkürlich für den Abwesenden ein. Er möchte stets das Schwert für ihn erheben. In solchem Fall soll uns das Herz regieren, nicht der Kopf.«

»Davon weiß ich nichts,« gab Isabel abermals schroff zurück. Und in einem bevormundenden Ton: »Sie sind wohl ein wenig sentimental, Herr Assessor?«

Jasper war's, als sei ihm ein Schlag versetzt worden. Was Isabel sagte, klang nicht nur unhöflich, sondern verletzend. Weshalb? War's einmal ihre grade Art, oder hatte er sie durch seinen Freimut herausgefordert? Jedenfalls wollte er sie ferner prüfen. Er warf höflich, nicht aber ohne spitze Betonung hin:

»Meine Rede scheint Ihnen nicht zu gefallen. Aber ich nahm natürlich eine gleiche Auffassung bei Ihnen an. Ich kann mir nicht denken, daß eine vornehme Natur das Bestreben verläßt, einen Abwesenden, den man angreift, zu verteidigen.«

»So bin ich also keine vornehme Natur!« entgegnete Isabel stolz. »Aber doch wohl nur in Ihren Augen, denn Ihre Behauptung ist kein Beweis. Ich beschönige nichts, ich tadle, was zu tadeln und lobe, was zu loben ist. Ich glaube, das ist das Wesen gerechter Wahrheit. Und Wahrheit und Gerechtigkeit sind meines Erachtens das Höchste.«

Jasper wollte etwas erwidern, aber er erinnerte sich rechtzeitig daran, daß er Gast des Hauses sei, und schwieg. Mit einem kurzen: »Ich bescheide mich, gnädiges Fräulein,« und einer tiefen Verneigung gab er dem Gespräch eine Wendung, durch das es sich in der Folge ganz auf der Oberfläche bewegte. Das junge Mädchen blieb steif, gemessen, ihre Artigkeit hatte etwas gezwungenes. Jasper war äußerst unbehaglich zu Mute, und als sie bald darauf den Rückweg antraten, beherrschte ihn lediglich der Gedanke, baldmöglichst Abschied zu nehmen. Er fühlte, daß er wenigstens heute nicht mehr den rechten Ton finden werde. Isabel war ihm zu nüchtern klug, sie war unbiegsam und streitsüchtig!

Als sie wieder ins Gartenzimmer traten, zog er bei der ersten schicklichen Gelegenheit Emden bei Seite, und bat ihn, aufzubrechen. »Bitte, laß uns gehen, ich habe Gründe.«

In den Zügen des Freundes erschien ein enttäuschter Ausdruck.

»Sie erwarten, daß wir den Abend bleiben und noch den Thee einnehmen. Ich habe bereits zugesagt. Was soll ich vorschützen!«

Einen Augenblick schwankte Jasper, dann entschied er sich zu bleiben.

»Gut – wenn Du meinst, daß es auffällig ist, so sei's!« erklärte er, sich fügend, und wandte sich nunmehr an den Hausherrn und an Isabels schöne Mutter.

Um Isabel zu reizen, ließ Jasper in der Folge alle Minen springen, die ihm zur Verfügung standen. Er spielte und sang, – beides verstand er meisterhaft – las etwas aus Strachwitz Gedichten vor, auf die zufällig die Rede kam und dessen Werke sich in dem Bücherschrank des Hausherrn fanden und knüpfte auch daran Bemerkungen, die ein zutreffendes und geistvolles Urteil bekundeten. Später erzählte er von verschiedenen Reise-Erlebnissen in der anregenden und amüsanten Art, die ihm stets in der Gesellschaft ein Uebergewicht verschaffte.

Isabel richtete während des ganzen Abends kein Wort an ihn. Sie lachte wiederholt, ja, einige Male völlig bezwungen, ohne Aufhören. Er sah auch, daß er sie durch seinen Vortrag fortriß, aber keine Aeußerung der Anerkennung kam über ihre Lippen.

Nur gegen Ende des Abends wußte sie sich nicht zu beherrschen. Sie äußerte mit gehobener Stimme gegen Emden, und es war ersichtlich, daß ihre wirklichen Empfindungen zum Vorschein gelangten, und daß, wenn schon der Ton spöttelnd war, die Worte eine Abbitte enthielten:

»Fragen Sie doch Ihren Freund, der alles zu wissen und zu können scheint und ein so kluger Lehrmeister der Unerzogenen ist!«

Mit höchstem Erstaunen erhob Jasper das Haupt, und heftete den Blick fest und forschend auf Isabels Antlitz. Aber sie, ihm nicht minder selbstbewußt begegnend, wandte mit einer unnachahmlich stolzen Geberde den Kopf, und that, als ob er nicht anwesend sei. Wenig später fand auf dem Flur der letzte Händeaustausch statt.

»Auf baldiges Wiedersehen!« betonten Herr und Frau Fecito mit warmer Freundlichkeit, und die letztere machte sogar Vorschläge wegen einer neuen Begegnung für die nächste Woche.

Nun näherte sich Jasper Isabel.

»Ich empfehle mich Ihnen, gnädiges Fräulein« – Er suchte mit liebenswürdiger Unterordnung ihr Auge. Diesmal errötete sie gegen ihren Willen, und ihre Hand verriet, daß sie innerlich etwas tief bewegte. Sie zitterte.

Als sie bereits im Vorgarten waren, fiel Jasper ein, daß er seinen Regenschirm vergessen hatte. Rasch eilte er, den eilfertigen Diener vor sich, zurück.

Durch das Geräusch herbeigelockt, erschien in der noch geöffneten Wohnstubenthür die Gestalt Isabels. In diesem Augenblick überkam's Jasper wie eine plötzliche Erleuchtung, daß er dieses stolze Kind nie mehr lassen könne. Er fühlte, daß er sie heftig liebte. Alle Rücksicht außer Acht lassend, nur seinem Gefühl folgend, warf er ihr unter nochmaliger Abschieds-Verbeugung einen langen werbenden Blick zu.

Und sie erwiderte diesen Blick, aber auf eine eigene Art. Sie blickte ihn für Sekunden, ohne die Miene zu verändern, starr, wie verzaubert, mit leidenschaftlicher Hingabe an. Und er sah diese Augen, sah die ungestüm wogende Brust, und ein stürmischer Hoffnungsschauer durchrieselte seinen Körper und trieb ihm das tobende Blut zum Herzen.

* * *

Acht Tage später war Jasper zu einem Ball bei einer ihm befreundeten Familie eingeladen. Anfänglich hatte er absagen wollen, aber schließlich nahm er an, weil er hoffte, mißmutigen Gedanken, die ihn eben beherrschten, eine andere Richtung geben zu können. Gegen neun Uhr betrat er die Gesellschaftsräume, begrüßte die Gastgeber und mischte sich dann ins Gesellschaftsgewühl. Zuletzt begab er sich in den lichtdurchfunkelten Tanzsaal.

Die erste Erscheinung, die ihm auffiel, war Isabel Fecito. Sie beendete soeben eine Tour, die sie mit einem jungen Generalstabsoffizier getanzt hatte, und ließ sich nun auf ihren Platz zurückgeleiten. Sodann blieb ihr Blick, der von einer Gruppe zur andern schweifte, an Jasper haften, und eine tiefe Röte überzog ihr dunkles Gesicht. Er aber, von jenem Widerspruchs-Gefühl geleitet, wie es verliebten Menschen oft eigen ist, vermied eine Annäherung. Er neigte nur aus der Entfernung mit flüchtiger Ehrerbietung den Kopf, verließ mit der Miene eines anderweitig Beschäftigten den Saal und begab sich in einen der anstoßenden Räume, in denen Karten gespielt wurde. Hier blieb er, sich neben einen jüngeren Bekannten niederlassend, äußerlich gemessen, aber innerlich von wachsender Unruhe erfüllt, bis kurz vor der Tischzeit sitzen, suchte nun erst Herrn und Frau Fecito auf, mit denen er eine Weile plauderte, und bot später der jüngeren Tochter des Hauses zum Souper den Arm. –

Als er sich nach Aufhebung der Tafel früher als alle übrigen Geladenen zum Fortgehen rüstete, und nur noch eine kurze Weile plaudernd neben einer als Schönheit gefeierten jungen Dame, einer Komtesse Brunell stehen blieb, machte ihm einer der aufwartenden Diener ein verstecktes Zeichen und übergab ihm eine zusammengefaltete Tischkarte. Auf Jaspers fragenden Blick ergänzte er: »Ich habe sie Ihnen von einer Dame zu überbringen, ihren Namen kenne ich nicht.«

»Von einer Dame?« Wechselnd richteten sich Jaspers Blicke auf die Adresse und seine nächste Umgebung: weibliche Personen und Herren, die auf niedrigen, seidenüberzogenen, vor kleinen, eingelegten Tischen stehenden Sesseln sich niedergelassen hatten, und plaudernd ihren Kaffee tranken.

In diesem Augenblick ward die Komtesse abgerufen, tauschte noch einige lustige Worte mit Jasper aus und schlüpfte dann in eines der Nebenzimmer. Schnell entfaltete Jasper die Karte und las:

»Wie tief muß ich Sie jüngst verletzt haben, daß Sie mich heute so kränken können!«  I. F.

Jasper wurde durch dieses Schreiben in eine ungeheure Erregung versetzt. Wie viel verbargen diese Worte! Wie leidenschaftlich mußte sie geartet sein, da sie sich zu einem sie so bloßstellenden Schritt entschloß! Im nächsten Augenblick war er aus dem Zimmer, um Isabel aufzusuchen. Er wußte nicht, was er ihr sagen würde. Er wußte nur, daß jeder Augenblick Verzug die unerträgliche Unruhe seiner Seele erhöhen werde.

Aber er fand sie nicht mehr. – Fünf Minuten vorher hatte sie, wie er von einem Lohndiener erfuhr, in Begleitung ihrer Eltern das Haus verlassen.

* * *

Jaspers erster Gedanke nach dieser Enttäuschung war gewesen, Fecitos am kommenden Mittag den ohnehin etwas lang verschobenen Besuch zu machen, ihn nachzuholen obschon die Dame des Hauses ihn davon entbunden hatte.

»Wir legen gar keinen Wert auf Formalitäten, lieber Herr Assessor! Kommen Sie zu Tisch und bleiben Sie den Abend, oder eines von beiden, ganz nach Ihrem Gefallen. Immer sind Sie uns herzlich willkommen! Ich begreife, daß man nicht gern die Eisenbahn besteigt, um dergleichen zu erledigen!« So und ähnlich hatte sie auf seine entschuldigenden Worte gesprochen und hinzugefügt: es passe am kommenden und am folgenden Tage. Er brauche sich nicht anzumelden. Um fünf Uhr werde gespeist.

Nach kurzem Besinnen entschloß sich Jasper den eben vor vier Uhr abgehenden Zug zu benutzen. Dreißig Minuten später war er bereits vor der Thür der Villa Fecito.

Herr und Frau Fecito würden erst mit dem nächsten Zuge aus der Stadt zurückkehren, aber das gnädige Fräulein sei zu Hause, erklärte der Diener. Zugleich öffnete er das Empfangsgemach und entfernte sich, um seine junge Herrin zu benachrichtigen.

Nach längerer Weile trat unter sichtbarer Befangenheit Isabel ins Zimmer und sagte, sich zu einer gleichgültigen Rede gewaltsam zwingend:

»Sie werden denken, ich schätzte ihre Güte nicht genügend. Ich war aber wirklich nicht im stande, früher vor Ihnen zu erscheinen. Verzeihen Sie die ungebührliche Verzögerung.«

»Ich bitte. Ich selbst habe Ihre Vergebung nachzusuchen, gnädiges Fräulein! Sie hätten mich abweisen sollen. Ich danke Ihnen verbindlichst, daß Sie es nicht gethan haben. Ich komme um Ihnen auf Ihren berechtigten Vorwurf Antwort – –«

Er sprach nicht aus, da ihre Mienen, ohnehin verwirrt, sich jetzt auffallend veränderten. Sie stand, den Körper leicht an einem vor dem Divan stehenden kleinen Tisch gelehnt, schwer atmend da, und erhob nun langsam das gesenkte Auge. Und wieder hingen ihre Blicke an den seinen wie das letzte Mal, machtlos sich verlierend, wie verzaubert.

Und er, durch diesen Blick völlig gebannt, verlor schier die Besinnung. War's Liebe wie er es zu deuten wagte? Er verstand sie nicht, aber er ertrug es auch nicht, noch ferner so neben ihr umherzugehen. So griff er denn nach ihrer Hand, als sei's sein zweifelloses Anrecht, bat sie, durch eine sanfte Bewegung sich niederzulassen und sagte weich:

»Wollen Sie mich anhören, Fräulein Isabel? Es ist etwas zwischen uns, das der Klärung bedarf. Was mich bewegt, ist mir nicht zweifelhaft, aber ich vermag Ihr Wesen nicht zu deuten. Also darf ich? Antworten Sie! Ich bitte Sie!«

Aber sie schwieg. Sie saß da, kämpfend, mit einem Ausdruck, als ob sie alles wisse, was er sagen wolle, ja, als ob sie schon jegliches gehört habe, und gerade das gehört habe, was sie nicht wolle.

»Noch einmal! Ich flehe sie an! Geben Sie mir ein gutes Wort!« drängte er stürmisch. »Und was Sie auch immer erwidern, es soll für mich Gesetz sein. Wünschen Sie es, – so sehen wir uns nie wieder. Vorher aber lassen Sie mich Ihnen sagen, was ich für Sie empfinde, Fräulein Isabel! O, was ist Ihnen? – Warum verbergen sie ihre Augen vor mir, – hören Sie –«

Er sank vor dem schönen Gebilde nieder und griff nach ihren Händen. Er küßte sie zärtlich und sie ließ es geschehen. Aber noch mehr! Sie faßte plötzlich seinen Kopf, zog ihn, sich herabneigend, fest an sich, und ehe er so viel Glück nur zu denken, viel weniger zu hoffen wagen konnte, hatte sie ihre Lippen auf seinen Mund gepreßt und noch einmal und noch einmal in stürmischer Leidenschaft. Dann sprang sie jählings empor, schritt tiefatmend in fieberhafter Erregung und mit Mienen, als ob er, dem sie soeben in heißer Glut umfangen hatte, gar nicht mehr anwesend sei, auf und ab und fiel endlich, das Haupt auf die ausgestreckten Arme senkend, wie eine Zerschmetterte vor dem Tische nieder.

In demselben Augenblick machte sich im Vorzimmer ein Geräusch bemerkbar. Des Dieners Stimme ward vernehmbar, und gleich darauf hörte man Frau Fecito.

Nun schoß Isabel empor, und ehe Jasper noch einen Entschluß zu fassen vermochte, hatte sie das Vorzimmer erreicht und war ins Freie geeilt. Und er ihr nach in fiebernder Hast. Aber als er die Treppe hinabstürmte, war sie schon seinen Blicken entschwunden, und um selbst die nötige Sammlung zu gewinnen, betrat er einen durch Boskets verdeckten Seitengang. Was zu thun sei, würde sich finden. So, in diesem Zustande war's unmöglich, der Frau des Hauses entgegenzutreten.

* * *

Drei Wochen waren vergangen. Jeden Tag hatten Jasper und Isabel nach diesem schrankenlosen Ausbruch ihrer bis dahin zurückgedrängten Gefühle, Briefe zärtlichsten und leidenschaftlichsten Inhalts gewechselt, auch, ohne sich – auf Isabels Bitten, – ihren und seinen Eltern noch anzuvertrauen, durch einige versteckte Zusammenkünfte ihrem Glückstaumel hingegeben. Jasper befand sich wie in einem Rausche, und jeden Tag hoffte er, daß sein Glück durch die Erklärung Isabels gekrönt werde, daß nunmehr alles so weit vorbereitet sei, um seine Werbung ihren Eltern vorzutragen.

Unter solcher Hoffnung öffnete er eines Morgens ein Schreiben, das abermals Isabels Handschrift trug. Es lautete:

»Mein teuerer, über alles geliebter Mann! Nun ist doch alles so traurig geworden, daß jahrelanges Weinen, wäre der Schmerz eine Flamme, dieses Weh nicht löschen könnte. Jede Hoffnung ist dahin. Wir können uns niemals angehören. Gestern ist etwas geschehen, das alle unsere Wünsche rettungslos hat versinken lassen. Auch Du, mein Freund, mußt aus Liebe zu mir. welch ein widersinnig klingendes Wort! – verzichten! Und nun vernimm, und während Du mir zuhörst, drücke mich in Gedanken fest an Dein Herz, damit ich nicht ohne solche Vorstellung vor Schmerz ersticke.

Vor zweieinhalb Jahren, ich war noch ein halbes Kind, verlobte ich mich – verzeih, daß mein bangendes Herz das Geständnis nicht über die Lippen brachte – in Paris mit dem Sohn eines früheren Kompagnons meines Vaters. Meine Eltern sprachen mir zu, weil der junge Mann aus hochgeachtetem Hause war, ein braves Herz besitzt und einen selbst für größere Auffassungen ungewöhnlich bedeutendes und zugleich gesichertes Vermögen sein eigen nennt.

Schon nach einigen Monaten – mein Bräutigam ging wieder hinüber, weil er sich noch ausbilden wollte und zum Heiraten zu jung war, während ich mit meinen Eltern die Welt durchreiste – fühlte ich, daß ich ihn nicht liebte. Der Vergleich mit anderen Männern hatte mich gelehrt, wie gering seine Geistesgaben seien, und nur, indem ich mich ganz des Nachdenkens entschlug, schon um meinen Eltern durch Rücknahme meiner Zusage keine Enttäuschung zu bereiten, vermochte ich der Qual Herr zu werden, die mich bei dem Gedanken ergriff, dermaleinst gar seine Frau werden zu sollen.

Sonst milde und versöhnlicher Natur, machte mich mein vernichtetes Dasein oft schroff und absprechend. Du wurdest, mein teurer Freund, ebenfalls davon berührt. Ich war Dir schon gut bei unserer ersten Begegnung, aber weil ich Dich doch niemals besitzen zu können glaubte, wußte ich nur durch Schroffheit und Widerspruch mein zuckendes Herz zu besänftigen. Das sage ich Dir zur Erklärung meines anfänglichen Verhaltens. Nicht Mangel an Zuneigung war es, was mein Wesen bestimmte, sondern das Gegenteil: ein Ausflus meiner Liebe. Wie wenig ich mein Gefühl beherrschte, wie rasch es sich in Leidenschaft verwandelt hatte, sahest Du am ersten Tage beim Abschied, davon erhieltest Du bei Deinem Besuch einen Beweis.

Aber nicht wahr, Du denkst deshalb nicht weniger gut von mir? Glaube mir, daß mein Mund niemals vorher die Lippen eines Mannes berührt hat. Meinen Verlobten habe ich noch nie geküßt. Ich weigerte mich in befangener Scham. Doch nun zum Schluß.

Eben im Begriff, mich meinen Eltern zu eröffnen, zu erklären, daß ich unter keinen Umständen jenes Mannes Frau werden könne, vielmehr Dich mit ganzer Seele liebe, erreicht meinen Vater die Nachricht, daß er durch falsche Spekulationen seines jetzigen Partners alles verloren hat, daß wir so gut wie Bettler geworden sind. Wir verlassen bereits morgen Europa, da es meines Vaters einzige Hoffnung ist, daß mein Verlobter, der mich noch immer mit gleicher Stärke liebt, die Firma durch Opferung eines Teils seines Vermögens retten kann. –

Habe ich noch etwas hinzuzufügen? Ja, zweierlei! Das eine: ich betete zu dem barmherzigen Schöpfer täglich inbrünstig, daß er mir die große Sünde verzeihen möge, Dich so namenlos zu lieben, und bete jetzt auch für die Schuld, Dir diese furchtbare Enttäuschung bereitet zu haben. Das andere ist: ich werde Dich, mein Freund, lieben bis an mein Ende, immer, immer!

Nicht wahr, Du meinst, das sei ein Widerspruch! Und doch nicht. Jene Buße, jenes Flehen zu Gott, mir zu verzeihen, daß ich, obschon ich mein Wort verpfändete, Dich liebe, diktiert mir mein künstlich erzogenes Herz, aber das unverfälschte, unbeeinflußte, natürliche redet eine andere Sprache, das Herz, das sich nur einmal äußern kann, und das Dich, mein heißgeliebter Mann, erwählt hat! Und nun leb wohl, und laß es Dir sagen:

Wenn Du meinst, Du könntest so viel Schmerz nicht ertragen, so denke zum Trost, daß ich weit mehr leide, als Du. Ich ginge ja – wie gern – für unsere Liebe in den Tod, wenn ich nicht meiner Eltern gedächte! Um ihretwillen muß ich weiter leben, ob auch mein Inneres in Thränen erstickt.

So, und nun drücke mich schnell noch einmal und noch einmal an Dich, und fühle den heißen Kuß meiner brennenden Lippen! – Leb' noch einmal wohl – auf immer!

Isabel.«

* * *

Nachdem Jasper in fliegender Hast zu Ende gelesen, saß er wie gelähmt. So ungeheuer war die Enttäuschung, daß überhaupt nur die Qual, nicht aber klare Gedanken Raum in seiner Seele hatten.

Und als endlich sie wieder sich einstellten, als sie sich richteten auf die Frage, was er thun solle, ob er verzichten müsse, oder ob es ein Mittel gäbe, Isabel zu gewinnen, da sank doch alles wieder zusammen vor der Erwägung, daß er, wenn er auf seinen Wünschen bestehe, die Existenz und das Glück einer ganzen Familie vernichten werde.

Und noch anders erschwerte einen Einwand gegen Isabels Entschlüsse. Welchen Eindruck müßte es hervorrufen, wenn sie gerade in diesem Augenblick ihren Eltern erklärte, daß sie ein heimliches Liebesband mit ihm verbinde. Alle seelischen Schmerzen, die mit Liebesenttäuschungen verbunden sind, folterten den Mann, und erst als der Gedanke, Isabel jedenfalls noch einmal zu sprechen, zu einem festen Willen sich gestaltete, gewann er seine Ruhe einigermaßen zurück.

Ohne auf die abratenden Stimmen in seinem Innern zu hören, verließ er die Wohnung, begab sich zur Station und fuhr mit dem bald darauf abgehenden Zuge nach W. Während er unterwegs war, kam ihm die Erinnerung an jüngst und heute. Einer Laune folgend, hatte er sich dem Freunde angeschlossen, der ihn in das gastfreie Haus hatte einführen wollen.

Und wie war's jetzt? – Er war heimlich verlobt mit einem Mädchen, das schon gebunden war. Sie hatte ihm Zusammenkünfte gewährt, ohne ihm von ihren Beziehungen zu jenem andern Mitteilung zu machen. Pflichtgefühl und Scham hatten in ihr gekämpft, ihm und ihren Eltern sich zu eröffnen. Und als nun der Tag gekommen war, an dem er seines Glücks teilhaftig werden sollte, war's nun doch weniger als ein Schemen!

Was konnte er ihr sagen? Daß er sie bitte, trotzdem auszuharren. Und was würde sie ihm antworten? Dasselbe, was sie ihm geschrieben hatte: daß ihr Herz ihm bleibe, ihr Leib aber einem anderen angehören müsse. Konnte aber aus einem doppelten Unrecht etwas Gutes und Gerechtes entstehen? Nimmermehr! So wollte er vor die Eltern Isabels hintreten und erklären, daß er Einwand erhebe gegen die Unehre und Lüge.

Und wenn er auf sie einsprach, wenn er ihnen schilderte, welche Verantwortung sie auf sich lüden, würden sie ihre Tochter nicht verkaufen an einen ungeliebten Mann. War's nicht ein elender Schacher?

Sie sollte sich hingeben, damit eines Geschäftshauses Ansehen gerettet werde? War sie ein fühl- und willenloses Ding, über das man verfügt? Und sie, Isabel, er wußte es, auch sie würde sich weigern, der Tauschgegenstand zu sein, wenn er mit ihr sprach, wenn er ihr vorstellte, welch ein Unrecht sie beging, gegen ihn und sich.

Diese nun mehr nur auf sich gerichteten Gedanken beschäftigten ihn unausgesetzt, während er nach dem Verlassen des Koupés eilig dahin schritt, und so sehr nahmen sie ihn gefangen, daß er vor dem Gitter der Villa stand, ohne es bemerkt zu haben.

Freilich zögerte er jetzt. Ein solches Heer von Zweifeln erhob sich in ihm, daß er wenigstens erst wieder Ruhe gewinnen mußte. So nahm er denn zunächst den Weg an dem Hause vorbei und schaute von einem versteckten Platze aus hinüber. Wie ausgestorben lag's da, und, noch immer unschlüssig, schritt er zuletzt bis ans Ende der jetzt um diese Morgenzeit menschenleeren Villen-Kolonie.

Freilich änderte sich das Bild, als er, einen kleinen Tannenweg durchmessend, an einen stillen, waldumkränzten Weiher anlangte.

Hier fand er, und glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, Isabel tief herabgebeugt auf einer der Bänke sitzen, und als sie ihn erblickte, flog sie ihm mit stürmischer Leidenschaft an den Hals, umschlang ihn und blieb so liegen an seiner Brust in stummer Ergriffenheit.

»Hier nimm!« kam es endlich über ihre Lippen, nachdem sie sich von ihm gelöst und einen Brief herausgezogen hatte. »Eben, nachdem ich Dir geschrieben, ereignete sich dies völlig Unerwartete, und Dich aufzusuchen, es Dir mitzuteilen, war mein einziger Gedanke. Zunächst eilte ich hierher, um Sammlung zu gewinnen. So unfaßbar war der Gegensatz zwischen dem Gestern und Heute, daß ich meiner Seele erst die Ruhe zurückgeben mußte. Mein Bräutigam bietet mir – weil er meine spärlichen Briefe und den liebeleeren Ton richtig gedeutet hat – edelmütig die Rückgabe meiner Freiheit an. Allerdings«, schloß Isabel, ließ das Haupt sinken und starrte trostlos vor sich hin – »machte ich noch meinen Eltern keine Mitteilung. Sie packen ahnungslos, um am Nachmittag abzureisen.«

»Und wie werden sie, meinst Du, entscheiden?«

»Ach, mein geliebter Freund, das ist's ja eben, was mir schier das Herz zermalmt –«

»Und was hast Du beschlossen, wenn sie sich weigern?« drangen zitternd die Worte aus Jaspers Munde.

Isabel antwortete nicht. Ein Blick, in dem Liebesqual und Verzweiflung wie im Irrsinn sich begegneten, traf den Mann.

»Komm,« entschied Jasper entschlossen, und ergriff ihre Hand. »Wir wollen zusammen zu ihnen gehen, ihnen sagen. wie die Dinge stehen. Was wird, steht bei Gott, ein neuer Himmel, oder zurück in den Abgrund!«

Sie nickte mit feuchtem Auge und schmiegte sich wortlos an ihn.

* * *

Fast drei Wochen waren verstrichen. Durch den nebligen Tag schritt ein Mann, Jasper, schon seit Stunden. Im Hause hatte es ihn nicht gehalten. Zu eng waren die Wände für den Druck furchtbarer Erwartung, der auf seiner Seele lastete. Heute war der Tag! Eine Depesche sollte die Entscheidung bringen. In der an jenem Morgen stattgefundenen Unterredung hatte Jasper sein Wort verpfändet, sich widerstandslos in das zu fügen, was das Ergebnis sein werde nach der Begegnung mit Isabels Verlobten. Er hatte es gegeben, weil er sah, wie Isabel um ihrer Eltern willen litt, weil er Mitleid hatte mit dem durch den Sturz seines Hauses wie gebrochenen Mann. Sie wollte, hatte sie erklärt, vor ihrem Verlobten niederstürzen und ihn bitten, sie nicht nur frei zu geben, sondern auch ihrem Vater zur Seite zu stehen. Den Gott in seiner Brust wollte sie anrufen mit allen Worten und Lauten, die dem Verzweifelnden zu Gebote stehen. –

Wiederholt schaute er nach der Uhr. So ungeheuer war seine Erregung, daß er das Klopfen seines Herzens nicht zu dämmen vermochte, daß er zu ersticken fürchtete, wenn nichts bald eine Entscheidung die qualvolle Spannung löste.

Endlich wandte er sich wieder der Stadt zu, schritt durch die Straßen bis an seine Wohnung, betrat sein Gemach, forschte mit hastigem Blick hinüber zu seinem Schreibtisch, sah eine Depesche und stand für Augenblicke wie gelähmt.

Erst mußte das allzusehr gemarterte Herz wieder Kraft, erst mußte die von Zweifeln zerrissene Seele neue Widerstandsfähigkeit gewinnen. – Dann aber ein kurzer Griff, ein Ruck und – ein Blick. – Und dann ein Freudentaumel und ein Glücksschrei, wie er sich nur der Brust solcher Menschen entringt.

»Ich küsse Dich tausendmal. Mein Vater gerettet und ich – Dein für immer!

Isabel.

 


 


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