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Aus Mangel an Anhalten schlief die Untersuchung über das geheimnisvolle Verschwinden Sigismund Grubers ein. Hauderer um Hauderer, die man verhaftete, brachten den Nachweis, daß sie sich zu der verhängnisvollen Zeit in anderen Teilen des Landes aufgehalten hatten, als wo Gruber weilen konnte.
Niemand war darüber froher als Cilgia. Länger, als üblich ist, trug sie um den Toten Trauerkleider; sie wollte zeigen, daß sie sein Andenken in Ehren halte, und die stolze, ernste junge Frau und ihr Knabe, das blonde Bürschchen voll lachender Frische, erfuhren zahlreiche Zeichen der Teilnahme.
War sie verdient?
Cilgia selbst dachte manchmal schwer und anhaltend darüber nach – ja in tiefer Unruhe, mit Gewissensvorwürfen, denn mit tödlichem Erschrecken spürte sie, wie leicht sie Sigismund aufgegeben hatte. Gewiß hatte sie ihm ehrliche, herzliche Thränen nachgeweint, oft in die stille Gebirgsnacht gelauscht, ob er nicht doch noch geritten komme. Und wäre er dahergesprengt, so hätte sie ihm freudig das Haus aufgeschlossen.
Sie hatte gezögert, ihr Geschäft aufzulösen; sie hatte länger, als die Wahrscheinlichkeit erlaubte, gehofft, daß er wirklich wiederkäme.
Aber alles doch mehr um des vaterlosen Bübchens als um ihrer selber willen.
Hätte ihre Ehe nach dem Ereignis von Campocologno, nach dem Zusammenstoß Markus Paltrams mit Sigismund Gruber, nach der Beichte des alten Thomas noch irgend ein Glück bergen können? Sie war ehrlich genug, vor sich selbst mit »Nein« zu antworten. Sie war die Natur nicht, die einen Mann ertrug, auf dem in der Oeffentlichkeit oder im stillen ein Makel haftete. Zwischen ihr und Sigismund Gruber wäre es zu Kämpfen gekommen, die schlimmer gewesen wären als das Sterben. Sie konnte, davon war sie im Innersten überzeugt, an den toten Sigismund freundlicher denken als an den lebendigen. Und es jammerte sie um den stattlichen Mann, der nicht stark genug gewesen war, Fehler seiner Jugend zu besiegen, und deswegen in der Blüte der Jahre hatte zu Grunde gehen müssen.
Herzlich konnte sie um ihn weinen.
Oft und oft prüfte sie ihr Gewissen, sprach sie sich in schlaflosen Nächten mit dem alten Lorenz Gruber, dessen Andenken sie heilig hielt, über ihre kurze Ehe mit Sigismund aus.
Sie sah ihn leibhaftig, den rechtschaffenen schwerfälligen Alten, mit den klugen Augen, mit dem wallenden Bart, mit den silbernen Knöpfen am Rock und dem breiten gestickten Gurt.
Und siehe da – ihr war, der alte Gruber verstehe sie und billige es, daß sie keinem Menschen mit einem Wort oder mit einer Miene den gräßlichen Verdacht verrate, wie Sigismund untergegangen sei. Nicht einmal Pfarrer Taß, dem herzlieben Freund und Berater in der schweren Zeit!
Lange wies sie den Gedanken weit von sich, daß Markus Paltram Sigismund getötet haben könnte. Sie besiegte ihn aber nicht, besonders nicht, seit sie von dem Gerücht hörte, der graue Jäger sei im Herbst angeschossen aus dem Gebirge zurückgekehrt.
Und – sie spürte es wider Willen – es war auch eine Stimme in ihr, die Markus Paltram verteidigte. War Sigismund Gruber durch seine Hand gefallen, so hatte es Markus Paltram doch nicht ohne Not gethan! Sigismund Gruber hatte den Tod gesucht!
In herben Schmerzen schwieg sie – sie schwieg um ihres sonnigen Buben willen.
Durfte sie sprechen: »Ihr alle wißt nicht, was ich weiß – ihr habt die Beichte eines unglücklichen Mannes nicht gehört, der vor mir auf den Knieen lag, der in entsetzlichen Selbstvorwürfen sein Leben verfluchte.« Durfte sie sagen, was ihre innerste Gewißheit war: »Sigismund hat dem Leben Markus Paltrams viele Wochen nachgestellt. Ich halte meinen Mann für den Schuldigen!« Durfte sie das erzählen – auch nur ihrem Oheim?
So litt und stritt Cilgia.
An reichem Trost im schweren Jahre fehlte es ihr nicht – sie brauchte nur den blonden Lorenz mit den blauen Augen, ihren verständigen, frohsinnigen Buben anzusehen, so war ein Sonnenstrahl schon da. Oft kam der gemütliche Pfarrer. Selbst das eisgraue alte Mesnerlein sprach einmal vor. Der Landammann, der alte, seine, etwas eigensinnige Herr, ritt nie nach Tirano, ohne daß er zu einem Gespräch hereingetreten wäre, und einmal hing es an einem Haar, daß er bei ihr Driosch, dem Händler, begegnet wäre. Selbst Lorsa mit seiner jungen Frau kam einmal zu Besuch. Luzius von Planta schrieb dann und wann – Cilgia lebte mit dem Engadin.
Aber freilich – die Freunde alle meldeten nicht viel Erfreuliches – Niedergang, überall Niedergang – und die Straße, die man baut, kommt zu spät.
Doch regt sich etwas im schweren Engadinergeblut!
Ein wundersamer Gruß aus fernem Süden ist erklungen: »Lieder von der Bernina!«
Das kleine hübsche Buch liegt auf ihrem Schoß. »Romanische Gedichte von Konradin von Flugi« heißt der Untertitel. – Der Druckort ist Chur.
Luzius von Planta hat die Herausgabe besorgt.
Ein verträumtes Lächeln gleitet über das kleine Buch – die Gedanken Cilgias gehen zurück nach Fetan, wo der unbehilfliche Herr Konradin die ersten unbehilflichen Verse stammelte und sie die einzige Vertraute seiner geheimen Kunst gewesen war. Was ist aus dem unreifen, zagenden Herrn Konradin geworden? Von seinem Bruder, der in Paris in diplomatischen Diensten stand, ist er auf eigene Füße gestellt worden, und seit drei Jahren ist er der Privatsekretär des Königs von Neapel.
Herr Konradin ist am Hofe ein einflußreicher Mann, und das Volk Neapels schätzt den schlichten Bündner, der es wagen darf, der Verschwendungssucht des Königs mit freimütigen Vorstellungen entgegenzutreten.
Sein Herz aber ist im Engadin geblieben.
O, man spürt es den Liedern schon an, wie sie entstanden sind – aus tiefem Heimweh, das dem Dichter alles, was Engadin heißt, mit Sonne überstrahlt! Und doch sind es nicht die Strophen einer müden Seele, sie sind voll tapferen Glaubens, daß der Heimat wieder hellere Tage aufgehen. In reizenden Bildern schildert Konradin, der liebeglühende Sohn der hohen Berge, die Spiele der Jugend, die gehaltvollen Sitten und Bräuche des Volkes, seine Bursche und Mädchen, seine stolzen Männer, seine verschwiegenen Frauen, er singt vom jungen Inn, vom Heimatdörfchen über dem See, von den Gletschern und ihren Sagen, vom Schneelicht der Bernina, das in alle Kammern leuchtet, aber er findet auch heiße Worte der Mahnung, daß sein Völkchen sich aufraffe und im Thal selbst in Bescheidenheit ein thätiges Leben ergreife!
Ein Klang und Ton ist in den Liedern, der die Herzen des sonst so nüchternen Volkes erregt. Wie wenn die Flamme in dürres Laub fällt, zünden sie in das Leben des Engadins – sie sind, wie Pfarrer Taß sagt, ein »Trostbüchlein zur rechten Zeit«.
Nur einer behauptet mit Festigkeit, er habe die Phantastereien Konradins nicht gelesen.
Der alte, feine, strenge Herr Landammann.
»Das ist nicht väterlich,« sagt ihm Cilgia. »Ihr solltet Euch doch überzeugen, daß die Traube reif geworden ist!« Und mit dem alten Edelmanns durch die blühenden Gärten schreitend, sagt sie ihm Lied um Lied Konradins aus freiem Gedächtnis her. Sie spricht sie mit warmer, silberklarer Stimme – und dann und wann lächelt der Alte und nimmt schmunzelnd eine Prise aus silberner Dose.
»Er setzt den Leuten die Fliegen gut hinters Ohr!« meint er einmal – aber bald darauf: »Eben, eben. – Da hat er in diesen Versen wieder an die Aelteste Drioschs gedacht – er soll in Neapel bleiben!«
Und ein verdrießlicher Schatten geht über sein fein gefälteltes Gesicht, Cilgia aber legt ihren Arm in den des alten Herrn und bittet und bettelt für Konradin und Menja.
»Rührt sie Euch nicht, Eure blonde Nachbarin hinter den Blumen? – Wie ein Mütterchen hat sie die Schwestern aufgezogen und hat sie im Brautkranz gehen sehen. Sie aber wartet. Sie gibt gegen den Willen ihres Vaters ihre Jugend an ihre Treue und bleibt heiter dabei. Sie erfüllt ihr Tagewerk mit stillem Fleiß – sie pflegt ihre Blumen, und jede Knospe ist eine Hoffnung und jede, die abfällt, ein verlorener Tag.«
»Ich habe nichts gegen Menja Driosch,« erwidert der alte Herr kühl. »Aber Konradin ist ein Narr!«
Da wird Cilgia eifrig. »Vergeßt nicht, Herr Landammann, die Lieder Herrn Konradins werden im Engadin zu Bibel und Chronik gelegt und im Schatzkämmerchen des Buffetts aufbewahrt – er lebt noch in seinen Liedern, wenn wir alle vergessen sind!«
»Ich sage nur, er ist ein Narr,« lächelt der Landammann über ihren Eifer. »Hört, Cilgia – ich habe keine Freude an seiner Wahl. Aber ich sollte so jung sein wie Konradin und ich liebte ein Mädchen! – glaubt Ihr, ich würde danach fragen, ob sie meinem Vater gefällt oder nicht? Nein, ich führte, die ich liebte, und wäre die ganze Welt dagegen, zum Altar – so thäte ich!«
»Und so soll Konradin thun,« jubelt Cilgia. »Herr Landammann, Ihr verdient eine Rose ins Knopfloch!«
»Ich gebe ihm diesen Rat natürlich nicht,« lächelt der alte Diplomat. »Man hätte ihn mir auch nicht geben müssen – aber ich hätte die Folgen auf mich genommen.«
»Ihr habt Konradin zu sehr in der Ehrfurcht vor Euch erzogen – er hängt ja an Euren Augen.«
»Er ist jetzt dreißig – er soll die Kraft zu einer Wahl haben – den Vater um des Weibes willen aufgeben – oder das Weib um des Vaters willen!«
Tiefe Anschauungen hat Cilgia hinter dem strengen Herrn Landammann nicht vermutet. Er grollt zwar wegen der unnützen Poeterei – er sagt, er mache sich noch alle Vorbehalte – aber sie hat doch den Eindruck, daß zwei treue Herzen glücklich werden können.
Das gibt Sonne in die trüben Tage.
Und dann und wann sendet sie aus ihrem Garten einen Strauß köstlichster Blumen an den alten Landammann.
Die kleine Schwäche, die der stolze, aufrechte Greis für sie hat, gefällt ihr über die Maßen gut.
Und eines Tages trägt sie keine Trauerkleider mehr um Sigismund. Sie geht im hellen Sommergewand – sie ist beinahe die ehemalige Cilgia Premont – etwas sinnend zwar – etwas ernster und vornehmer – aber voll glücklicher Einfälle und Pläne.
Am Tag, wo sie die Trauer ablegt, ist Driosch, der Händler, da, dessen kräftige Gestalt nun auch schon leicht ergraut.
Ein festlicher, sonntäglicher Hauch geht durch das Haus, neben den Gedecken des Tisches stehen frische Blumen, man spürt, daß das Leben in dem verödeten Haus wieder Einzug halten will.
»Warum so viele Umstände, Frau Cilgia?« lacht Driosch trocken, »doch nicht, weil der Hauderer frei ist? – es hat ja genug gekostet!«
»Nein – obwohl ich auch das als ein großes Glück betrachte und wir darüber heute noch sprechen müssen – oder eigentlich jetzt! Also, ich danke Euch, Driosch, dafür, daß Ihr so unter der Hand die Angelegenheit ins reine gebracht habt – es ist mir wohler, seit Pejder Golzi nicht mehr zu Bormio sitzt.«
»Aber über Campocologno hinaus darf er nicht wieder – sonst stecken ihn die Gendarmen wieder ein. Das haben sie ihm bei Himmel und Hölle angedroht, und ich habe eine gewisse Bürgschaft übernommen – wenn er nur Wort hält, sonst komme ich selber in Verlegenheit!« Und das Gesicht Drioschs ist ernst.
»Eben das ist's,« erwiderte Cilgia. »Darum will ich ihn binden. Nach allen Diensten, die Ihr mir schon erwiesen habt, bitte ich Euch nur noch um diesen: Kauft ihm eine Hütte zu Strada, stellt ihm ein Kühlein und zwei Geißen hinein, und nahe dabei erwerbt etwas Wiese und eine Scholle Acker!«
»Ihr glaubt doch nicht, daß ein Hauderer seßhaft werde?« wandte Driosch ein.
»Seine Frau hat es mir versprochen,« erwidert Cilgia schlicht, »ich traue ihr – ich möchte es versuchen.«
Während die beiden den Plan erwägen, schaut sie mit merkbarer Ungeduld aus dem Fenster. »Wen erwartet Ihr denn?« fragt Driosch.
»Pfarrer Taß – und noch einen!« Das letzte sagt sie mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Sie plaudern eine Weile – sie plaudern von Menja – und Cilgias Wangen röten sich in verhaltener Spannung.
Da hört man Pferdegetrappel und »Hoch Engadin!« jauchzt eine Stimme.
Driosch kennt sie. »Das ist der junge Flugi – ich reite!«
Die Ader des alten Familienhasses schwillt an der starken Bauernstirne.
»Ihr könnt nicht,« lacht ihn Cilgia aus, »ich habe Thomas Euer Pferd vor den Flecken auf die Weide führen lassen.«
»Dann habt Ihr mir also eine Falle gestellt,« knirscht er.
»Nein, Konradin nur eine Gelegenheit verschafft, sich mit Euch auszusprechen! Ich möchte zweie glücklich sehen!«
Pfarrer Taß führt auch schon Konradin von Flugi herein. »Da bringe ich den Dichter und Tröster des Engadins,« lacht er gemütlich.
Groß war die Freude Cilgias und Konradins – Driosch aber hielt sich abseits, mißtrauisch betrachtete er den Ankömmling.
Die Züge Konradins von Flugi waren von männlicher Reife, die nachlässige Haltung von ehemals nicht mehr an ihm, seine Gestalt hatte sich aufgerichtet, das Gesicht verfeinert, aber was er auch in den diplomatischen Kanzleien von Paris und Neapel erlebt haben mochte – er war jeder Zoll ein Engadiner geblieben.
Etwas Gesundes, Braves, Treuherziges strömte aus Auge, Wesen und Wort des Mannes.
Das spürte Driosch mit wachsender Achtung. Er reichte ihm aber die Hand nur kühl und fragte fast gleichgültig: »So, Ihr kommt also wieder in unser menschenleeres St. Moritz?«
Es lag wie eine Anspielung, wie ein Vorwurf gegen den Landammann, darin. Im Gesicht Konradins zuckte es, und er hielt die Hand Drioschs fest.
»Zwei Dinge haben mich Heimgetrieben – die Sehnsucht nach den Augen Eurer Menja – und die Not des Engadins,« sprach er ruhig. »Driosch, ich bitte um die Hand Eurer Menja!«
Das klang so warm und ehrlich – aber Driosch antwortete düster: »Damit der Landammann sie beleidigen kann!«
Eine dunkle Röte flog über das Gesicht Konradins – erst nach ein paar Augenblicken sagte er bewegt:
»Ich verdiene diese Antwort nicht – seid sicher, ich weiß Menja zu schützen. – Eure Pläne für das Bad St. Moritz – ich nehme sie auf – ich verteidige sie – ich führe sie durch! Hier habt Ihr mein Ehrenwort – es ist, weiß Gott, Zeit, daß wir handeln. Wir bauen im nächsten Sommer das Bad!«
Mit einer warmen Bitte in den Augen streckte er ihm wieder die Rechte hin.
Es wand sich etwas in Driosch, als er den Sohn seines Gegners in männlicher Kraft als einen Bittenden und Versprechenden vor sich stehen sah.
»Denkt an Menja,« bat Cilgia.
Da schlug Driosch in die dargebotene Hand ein.
»Gut,« sagte er, »hat mein Kind so lange auf Euch gewartet – so nehmt es! Ich hoffe nur, daß Euer Vater so rechtlich ist wie ich. Sonst – – –«
Das klang schwer und sorgenvoll.
Doch der Pfarrer fiel ein: »Ein Brautpaar! Das bedeutet Freude für das Engadin. Man hat es so lange nicht erlebt!«
Und er hob sein Glas.
Es war ein glücklicher Tag im Hause Cilgias. Aber er verdeckte die Sorge nicht ganz. »Vom Maloja bis Zernetz kann man gehen, man findet keinen neuen Ziegel auf einem Dach,« klagte der Pfarrer. »Die Häuser der Ausgewanderten, die niemand pflegt, stürzen ein und jedes Dorf hat seine Ruinen, die wie Untergang thalauf, thalab schauen. Es ist zum Thränen vergießen, wie wertlos alles geworden ist!«
Ihm aber antwortete der in Liebe und Heimatglück aufwallende Herr Konradin:
»Auf das Wohl unseres Freundes Luzius von Planta, der uns im Ratsaal zu Chur den Bau der Alpenstraßen erobert hat! Es lebe die Zeit, wo man mit Wagen und Post über die hohen Berge fährt! Ich sehe sie an den grünen Hängen niedersteigen – sie bringen Gaste zum Sauerquell von St. Moritz!«
Mit der Bedächtigkeit des lebenserfahrenen Mannes dämpfte Driosch seine Begeisterung: »Wir sind ein halbes Jahrhundert zu spät – der Weltverkehr geht nie wieder über die Bündnerpässe. Schaut Euch vor, daß nicht die Spötter recht behalten – daß das Bad St. Moritz gebaut wird und dann – keine Gäste kommen!«
Als sie am Abend die drei Männer zu Pferde gegen die Bernina traben sah, dachte Cilgia an einen, der einst auch wie Herr Konradin in heißlodernder Begeisterung es vor ihr und dem Himmel versprochen hatte, daß er die erlöschende Ampel des Engadins füllen werde.
Sie dachte an Markus Paltram – und erschauerte bei dem Namen.
Dennoch war ihr, als könnte nach den großen Stürmen auch ihr wieder die Sonne lächeln.
Sie betrachtete ihren prächtigen Buben. Es fiel ihr ein, daß bald die Zeit komme, wo Lorenzlein Lesen und Schreiben lernen sollte.
Und sie dachte an die Schulpläne ihres Vaters. Einige Tage später ging sie zum Podesta, sie sprach: »Es war immer der Stolz von Puschlav, daß wir ein aufgeklärtes Völkchen sind; um es aber zu bleiben, sollten wir einen Lehrer, einen tüchtigen Pestalozzianer haben. Ich thue das meine.« – »Was wollt Ihr thun?« fragte der Podesta. – »Ich richte der Gemeinde unentgeltlich ein Schulzimmer in meinem Hause ein. Ich will es nicht so tot bleiben lassen, wie es jetzt ist.«
Der Plan gefiel in Puschlav. »Ihr Mann, der verschollene Gruber,« sagten die Leute, »hat immer ein saures Gesicht gemacht, wenn er mit seinem großen Umtrieb zu den öffentlichen Lasten hat beisteuern müssen – sie aber ist wie ihr Vater, der zu früh gestorbene Podesta – sie hat die Ader für das öffentliche Wohl!«
Gegen den Herbst kam noch einmal Pfarrer Taß geritten.
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder,« erzählte er fröhlich. »Der Aristokrat, ich meine den Landammann, hat sich mit dem Volkstribunen halb und halb versöhnt. Aber gekracht hat es in St. Moritz, als müßte das ganze Dörfchen auseinandergehen. Herr Konradin saß mit Menja schon zu Pferd, um in die weite Welt zu reiten. ›Was soll nun dieses schöne Paar wegen der Hartköpfe fort?‹ so murrte das Volk, ›wir sehen doch auch lieber etwas Junges als nur unsere alten, streitbaren Herren!‹ – Ich kam dazu – und siehe da, der Landammann brach seinen Starrsinn – er ging zu Driosch – und jetzt ist großer Waffenstillstand – sie haben beide mit mir eine Flasche getrunken. Aber das Bad – das Bad – das kommt nicht – das ganze Dorf ist dagegen!«
»Es kommt,« sagte Cilgia fest, »nur ist der Feldzugsplan ein Geheimnis!«
Allmählich wurde es Herbst.
Es war an einem trüben Oktobertag, der Schnee fiel dicht und schwer, es herrschte Wetter wie damals, als Sigismund verschwand, und der Sturm geigte an den Ecken des Hauses.
»Mutter,« bettelte der kleine Lorenz, der mit ihr in die Flockenjagd hinaussah, »erzähle mir eine Geschichte – erzähle mir vom König der Bernina! Ist es wahr, daß er auf einen Berg steigen will, den niemand ersteigen kann?«
»Bist ein thörichter Bub,« sagte sie heftig und wandte den Kopf gegen das Fenster, damit er sie nicht sehen könne. Der Name traf sie wie ein stechender Schmerz.
Da bemerkte sie auf der Straße eine weibliche Gestalt, die, in ein großes dunkles Tuch eingeschlagen, fast wie eine Nonne aussah und sich durch den mit den Winden wogenden Schnee kämpfte. Das Weib schritt den Flecken aufwärts und entschwand rasch im dichten Wirbel der Flocken.
Wäre Cilgia nicht so stark von ihren Gedanken befangen gewesen, so hätte sie die wie ein Schatten vorüberhuschende Gestalt erkennen müssen.
Der Sturm nahm zu – ein wilder, schrecklicher Spätabend folgte dem Tag.
Sie wachte noch. Da ging durch den Flecken der Ruf: »Ein Unglück!« – Er kam von veltlinischen Säumern, die sich durch den Schnee der Bernina gekämpft hatten und erst gegen Mitternacht, selbst zum Sterben erschöpft, Puschlav erreichten.
Cilgia war eine der ersten bei den lärmenden vermummten Männern, bei den Pferden, die voll Eiszotteln hingen, und die Laterne des alten Thomas leuchtete in die Schneenacht. Auf einem der Pferde saß halb, lag halb mit einem schwarzen Tuch umhüllt ein Weib – die Gestalt, die Cilgia wie einen Schatten durch den Schnee hatte gehen sehen, und zwei Männer hielten sie.
»Eine Wegstunde oberhalb des Fleckens haben wir sie gefunden,« erzählten die Säumer, »es ist ein Roß an ihrem Leib gestrauchelt. Da haben wir sie aufgehoben – sie lebte noch und atmete, aber wir konnten uns nicht weiter um sie kümmern, denn wir hatten genug mit uns und unseren Rossen zu thun.«
»Bringt sie in mein Haus,« sagte Cilgia erbarmungsvoll.
Als man aber im Zimmer die Tücher zurückschlug, in die die Verunglückte eingehüllt war, sank Cilgia vor Schreck fast zu Boden, und jede Farbe wich aus ihren Zügen.
»Gott, das ist Pia! Das ist das Weib Markus Paltrams!«
Die Leute aber, die sie begleitet hatten, um die Wiederbelebungsversuche anzustellen, erklärten bald: »Da ist jede Mühe umsonst – sie ist tot! Sollen wir sie in die Gemeindescheune bringen, oder wollt Ihr sie hier behalten?«
Tieferschüttert antwortete Cilgia: »Laßt sie hier!« Ein Weib aus dem Flecken schloß die gläsernen Augen der Toten und machte bei ihr.
Am folgenden Tag hatte der Sturm nachgelassen und das Wetter war so leidlich, daß man es wagen durfte, einen Boten mit der Unglücksmeldung nach Pontresina zu schicken.
Im Lauf dieses Tages wurde auch einiges aus den Schicksalen der wandernden Pia bekannt, denn der Fuhrmann, auf dessen Warenwagen sie von Mailand an mitgefahren, hielt sich noch in Tirano auf. Wie sie ihm erzählt, hatte sie ihren Bruder in Hamburg erreicht; nach einiger Zeit aber hatte sie das Heimweh nach Mann und Kind und den Bergen überfallen, Orlando hatte sie dann auf einen Segler gegeben, sie war von Schiff auf Schiff gekommen, immer hatte sie gute Menschen getroffen, die einen in mehreren Sprachen abgefaßten Geleitbrief ihres Bruders lasen und weiter für sie sorgten, bis sie in Genua landete.
»Sie war zuerst ganz still,« erzählte der Fuhrmann, »als sie aber aus der Ebene die Berge sah, kam es wie eine Art Tollheit über sie und ihr Vorwärtstrieb war kaum mehr zu bändigen.«
In acht Tagen, mit vielen Unterbrechungen, die das Aus- und Einladen der Waren erforderte, war er mit ihr von Mailand nach Tirano gelangt.
Zuletzt sprach sie nur noch von ihrem Kinde in Pontresina, sprach wirres Zeug, als ob sie nicht ganz gut im Kopf wäre, und machte sich trotz aller Abmahnungen auf den schwer verschneiten Weg. – –
Am Morgen betrachtete Cilgia noch einmal die blasse Tote.
Die wilde Pia, die heimtückische Pia – eine seltsame, in ihren dunklen Gängen nicht leicht verständliche Seele war zur Ruhe gekommen.
Nun war aber Cilgia doch, es liege ein Glanz auf der niedrigen Stirne des Weibes. Die unwandelbare Schwestertreue – das erwachte Heimweh nach dem Kinde!
Sie legte frische Rosen und Nelken, die sie von den Stücken zwischen den Fenstern schnitt, auf die Brust der Leiche.
O, wie hatte sie diese geringe Pia gehaßt! Aber das Sterben im Schnee löschte die Bitterkeit hinweg.
Schrecklicher war ihr der Gedanke, daß nun Markus Paltram kommen würde, die Verunglückte abzuholen, daß sie ihm gegenübertreten, daß sie ihm ihre Teilnahme bezeigen müßte. Sollte sie ihn fragen: »Wißt Ihr, wo mein Mann Gruber geblieben ist?«
Um Lorenzleins willen verwarf sie in herbem Kampfe den Plan. Wie, wenn Markus Paltram bekennen würde: »Ich habe ihn erschossen!« – dann müßte sie die Leiche suchen und beerdigen lassen, dann sah das Volk klar in den schmachvollen Untergang des reichen Saumhalters.
Das durfte wegen ihres Buben nicht sein! – –
Die Stunde kam, wo Markus Paltram seinem toten Weib die Hand reichte, würdig, feierlich. – Da trat auch Cilgia im Trauerkleid herzu – von eigenem Leid umhüllt wie eine, der niemand nahen darf – in unzugänglicher Vornehmheit, fremd und kühl, mit wenigen, fast trockenen Worten des Mitgefühls grüßte sie ihn.
Als er aber die Rosen und Nelken auf der Brust der Leiche sah, fragte er Cilgia: »Habt Ihr sie daher gelegt?«
Sie nickte nur mit dem stolzen, blassen Haupt.
Da sank der gewaltige Mann neben die Bahre und schluchzte.
War es doch etwas Liebe zu seinem toten Weib? – schluchzte der felsenstarke Jäger unter der Gewalt der Geschicke?
Cilgia und der Säumer Tuons, der Markus Paltram auf dem schweren Gang begleitet hatte, zogen sich zurück.
Markus Paltram war mit seinem toten Weibe allein.
Cilgia hatte seine Erscheinung in allen Tiefen ihrer Seele ergriffen. Sie spürte es wohl, sie stand einem Ebenbürtigen gegenüber.
Aus ihrem Sinnen erweckte sie ein Klopfen an der Thür.
Markus Paltram trat nochmals ins Zimmer – gemessen – feierlich. »Das Nötige ist geschehen – wir können uns auf den Weg begeben. Ich komme. Euch für den großen Liebesdienst zu danken und Abschied zu sagen.«
»Erquickt Euch auf den weiten Weg!« versetzte Cilgia in voller äußerer Ruhe. »Da stehen Wein, Brot und Fleisch.«
Und eine Weile schien es, als ob sie nur von den Dingen sprechen wollten, die der Traueranlaß bot. Sie redeten wie zwei Fremde – dann wurden sie still.
Da fiel der Blick Markus Paltrams auf das Bild Paolo Vergerios und Katharina Diantis, er blieb in dunkler Träumerei daran hängen.
Seine Augen glitten hinüber zu Cilgia, die sich um ihre Blumen mühte.
Es war ein langer, dürstender Blick, unter dem sie erbebte.
Sie war in ihrem dunklen Kleid nicht mehr die wundersame, jugendduftige, strahlende Gestalt von Pontresina. Aber sie war mehr! Sie besaß den Adel eines Weibes, das gekämpft hatte, und etwas Klares, Schönes, in sich Einiges stand in dem Gesicht und dem braunen Goldglanz der großen Augen; um die frischen roten Lippen spielte ein ungemein seiner und lieblicher Zug, als waren sie immer noch bereit, froh ins Leben zu lachen. Und das kastanienbraune Haar schmiegte sich weich und schön um das beredte Gesicht.
Was ging in Markus Paltram vor?
»Cilgia Premont!« löste es sich von seinen Lippen, als bräche etwas in seinem Innersten. »Ihr habt wohl wie kein Mensch auf der Welt das Recht, mich zu verdammen, und wegen der Sünde an Euch muß ich schweifen wie der ewige Jude. Aber Ihr seid besser als Katharina Dianti – gebt mir ein gutes Wort auf den Weg – ein einziges gutes Wort!«
Wie nach ferner verlorener Heimat suchend, sah er sie mit flehenden Augen an und seine Stimme klang voll Demut.
Flehend und demütig – der König der Bernina – herzbezwingend demütig.
In heißer Bewegung stand er auf, sie aber kämpfte in Verlegenheit und Purpurglut.
Eine lange, bange Stille. – Da flüsterte sie mit abgewandtem Haupt: »Markus Paltram – ich habe Euch vergeben! Doch jetzt geht!«
Er aber taumelte, als wollte er im Dank vor ihr niederknieen. »Cilgia Premont!« stammelte er, und das Wasser stand in seinen Augen.
Da riß sie die Bewegung des Mannes wider Willen fort. Glutrot und verwirrt, mit bebender Stimme sprach sie:
»Ich sage Euch mehr, als ich darf. Wenn Ihr Euren Namen mit dem Ruhm einer einzigen guten That umgebt, so wird sich kein Mensch mehr freuen als ich. Jetzt geht! Lebt wohl, Markus Paltram!«
Sie sah ihn an – und unendliche Trauer zuckte durch die Worte: Jetzt geht! Lebt wohl, Markus Paltram!
In den schönen, warmen Augen Cilgias sah er, daß sie ihm wirklich und wahrhaftig verziehen hatte – verziehen wie Katharina Dianti ihrem Peiniger Paolo Vergeno.
»Ihr werdet von mir hören.« erwiderte er in herzlicher Bewegung.