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Sonngolden zieht der Herbst über die Berge. Es jagt der fröhliche Pfarrer Taß, es jagt, wer eine Flinte besitzt und ehr- und wehrfähig ist; mit dem Vater oder Großvater geht der halbwüchsige Bube in die Gemsreviere, hochklopfenden Herzens kniet er neben dem ersten erlegten Tier und fängt mit zitternden Händen das Blut in die Jagdschale auf.
Einer aber jagt nicht – jener, der schon als Knabe zu Madulein als unvergleichlicher Jäger galt.
Allen Verhöhnungen zum Trotz bleibt Markus Paltram daheim am Schraubstock.
Eines Tages jedoch hat die fröhliche Jagd im Hochgebirge ein Ende.
Wenn die Winzer drunten im Veltlin jauchzend Weinlese halten, so erbeben die Glieder der Bernina und im Erwachen flüstert sie: »Schmückt euch, ihr Kinder!« – Und die Felsspitzen, die ihr am nächsten stehen, adeln sich mit Schnee. »Schnee aufs Haupt!« betteln da die Kleinen; eines Morgens, wenn die ferne Welt der Tiefe sich noch in goldigen Herbstträumen wiegt, setzt sich jeder Zaunkönig von Berg die Krone auf, ja jede Tanne im tiefen Thal schmückt sich, und eines Sonnenaufgangs flammt alles Land im Schnee.
Eine gewaltige Freude erfaßt das Volk. Denn barfuß und im Strahlengewand schreitet die Sonne durch die Winterlandschaft des hohen, hellen Engadins und schickt seinem Volk einen Weckruf ins ruhige Herz; was an Weltlust in den behäbigen Seelen lebt, erwacht.
»Schlitteda – Schlittenfahrt!« heißt das Zauberwort.
In vollen Zügen genießt Cilgia die Freuden des Winters. Durch die Dörfer fliegen die altertümlichen Gespanne, zwanzig, dreißig, einmal im Winter, wenn sich die Dörfer zu einem großen Ausflug nach Puschlav oder nach Casaccia im Bergell oder nach Süs am Eingang des Unterengadins vereinigen, wohl über hundert. Das Vorderteil jedes Schlittens ist ein seltsames Tier, bald ein geschnitzter Steinbock mit einem echten mächtigen Hörnerpaar, bald ein Löwenhaupt mit fast menschlichen Zügen, ein eingetrocknetes Bärenhaupt, ein schlanker Schwan oder ein Pelikan, der sich die Brust aufreißt. Eine fröhliche Menagerie ländlicher Holzschnitzerei und Farbenkunst ist beisammen, fröhlicher aber ist das junge Volk, das mit klingendem Spiel auf den Fabeltieren durch den Sonnenglast der weißen Landschaft saust.
Die Gesellschaft der vom Reif gepuderten Jünglinge und Mädchen könnte von einem Fürstenhofe sein. Mit dem herrlichsten Pelzwerk, das die Läden der Großstädte bieten, haben von jeher die aus der Fremde heimkehrenden Engadiner den Ihrigen Angebinde gemacht, mit so köstlichen Stücken, daß sie keinem Wechsel der Kleidersitte unterworfen sind und sich in fast frischem Glänze von der Mutter auf das Kind und die Enkelin vererben. Wird aber einmal in der scharfen Luft ein Mädchenhals oder ein Handgelenk bloß, so schimmern sie von altem Gold.
Und die fröhlichste unter den Jungfrauen ist Cilgia Premont.
Der Sturm hat den tiefen sandigen Schnee vom Eis der Seen weggefegt. Es liegt in mauerdicken Spiegeln so durchsichtig und krystallen über den Wassern, daß man wie durch ein Fenster in die Tiefe sieht und die Felsenrisse und die Baumtrümmer im Grunde erkennt. Ueber die zerbrechlichen, gläsernen Spiegel von St. Moritz, Camphér, Silvaplana und Sils bis zur einsamen Höhe von Maloja sprengen mit hartem, dröhnendem Huf die Pferde. Da erbangt die mutige Cilgia, Markus legt den Arm um ihre Hüfte und sie hindert es nicht; in träumendem Glück jagen sie über die Schrecknisse der Tiefen.
»Geschähe, was wollte, in Leben und Tod blieben wir beisammen, Markus!« flüstert sie.
»Aber doch lieber im Leben,« antwortet er lachend.
O, er ist so hellauf, so stillglücklich, ihr Markus, er lacht jetzt im Tage mehr als früher im Jahr, er hat aus seinem Ersparten einen Pelzmantel gekauft und die Pelzmütze mit dem schmalen, auch wieder verbrämten Dächelchen steht ihm gut. Was für ein schönes männliches Antlitz schaut darunter hervor. Es ist, als habe sich das Ueberkühne, für viele fast Beängstigende in seinen Zügen gemildert: sie seien offener geworden, der Blick seines Auges habe etwas vom Ausdruck der Adlerschärfe verloren und sei wärmer geworden.
Er ist der liebste junge Mann im ganzen Engadin, denkt Cilgia mit heimlichem Stolze.
»Und der geachtetste,« darf sie sich wohl sagen.
Markus ist nicht eigentlich eine gesellige, am wenigsten eine laute Natur. Nur im unbelauschten Zwiegespräch mit ihr geht ihm das Herz ganz auf, im Verein mit anderen ist er der ruhige, kluge Beobachter, er spricht selten einen anderen jungen Mann oder ein Mädchen an; wenden sie sich aber an ihn, so findet er oft ein bestrickendes Wort, ein hinreißendes Lächeln und einen herzenerobernden Blick.
In dem von Fortunatus Lorsa gestifteten Jugendbund, der sich bald da, bald dort zur Beratung der Dinge der Heimat zusammenfindet, ist er der Schweigsamste, er läßt die anderen sprechen, aber wenn keiner mehr etwas Kluges weiß, so steht er auf und trifft mit knappem Wort den Nagel auf den Kopf, ja er zerstört nicht selten mit einer fast grausamen Ueberlegenheit die kühnen Hoffnungen, die die Jünglinge an den Liedern Konradins von Flugi entzünden.
Immer freier tritt der jugendliche Dichter mit seinen Strophen heraus und Jünglinge und Mädchen singen mit Begeisterung das Lied, das er für den Bund der Jugend gedichtet.
»Mein Engadin, du Heiligtum,
Im Schnee du grüner Strich,
Du meines Herzens Glück und Ruhm,
Mein Thal, wie lieb ich dich!
Wie mein Gespiel im Sonntagsschurz,
Grad wie die frische Maid,
So lieb ich dich, den Strom, den Sturz,
Dein Silberseengeschmeid.
Wohl bist du arm, wohl bist du karg,
Doch ist dein Kind zu stolz.
Will keine Wiege, keinen Sarg
Als deiner Arve Holz.
Wann gibt der Adler je sein Nest
Am freien Grat dahin,
Es ist kein Sohn, der dich je läßt,
Du grünes Engadin.
So lang am Firn das Frührotlicht
Des Schöpfers Güte preist,
Läßt er dich nicht, du Lenzgedicht,
Um das der Adler kreist.
Wie freie Adler geben wir
Dich ewig nicht dahin,
So halten mir die Treue dir,
Du grünes Engadin.«
Das Lied gefiel, aus dem Kreis der Jugend wanderte es von Dorf zu Dorf und wurde wie ein Volkslied gesungen.
Man fragte kaum nach dem Dichter – und es war gut so.
Das Gesicht des Landammanns müßte man sehen, wenn er erführe, daß sein Jüngster ein nichtsnutziger Poet ist! – Gotts Blitz! – wenn er erführe, daß sein Herz an Menja Driosch hängt, an der lieblichen siebzehnjährigen Hagrose!
Der Landammann hat für Herrn Konradin andere Pläne. Warum kommt er so oft vor das Pfarrhaus von Pontresina gefahren, warum führt er mit Cilgia so feine verbindliche Redensarten, der alte schlaue Diplomat?
Verlorene Liebesmühe, Herr Junker, denkt Cilgia und läßt voll Mutwillen den alten Herrn zappeln wie einen Fisch und tröstet Menja, die über diese Besuche unglücklich ist: »Ich will mit dem Landammann einmal offen reden!«
»Ums Himmels willen, nein,« bittet Menja erschreckt, »das wäre das Ende! Mein Vater ist ja fast mehr gegen unsere Liebe als der Landammann.«
Sie ist sehr unglücklich, die arme Kleine.
Dafür sonnt sich Cilgia im eigenen Glück.
Wie schön sind die Abende, wenn Markus nach Einbruch der Nacht ins Pfarrhaus gegangen kommt! Der Onkel hat alles Mißtrauen und alle Zurückhaltung gegen ihn aufgegeben, er liebt ihn und vermißt ihn, wenn er einmal nicht an die Thüre pocht; man liest, wenn draußen der Sturm seufzt, die Bündnerchroniken und spricht verständig über die alte und neue Zeit; man sitzt oft bis spät in die Nacht in trautem Verein zusammen und der Pfarrer ist dann immer besonders aufgeräumt. Hie und da spielt er früh den Müden, bietet ein freundliches Gute Nacht und sagt, Markus die Hand reichend: »Ihr könnt schon noch ein Stündchen dableiben und Cilgia, wenn sie nicht müde ist, Gesellschaft leisten.«
Das ist sehr rücksichtsvoll vom Onkel Taß, und beide danken es ihm. – –
Am St. Nikolaus-Markt brachte der Pfarrer als Geschenk die Verlobungsringe von Chur, und in der Neujahrsnacht, als die Glocken der Dörfer fern und nah im feierlichen Schweigen des verschneiten Hochgebirgs das alte Jahr aus-, das neue einläuteten, steckte er ihnen die Ringe an die Finger.
In jubelnder Hoffnung, in inniger Andacht blickten sie auf zum gestirnten Himmel, der seine leuchtenden Bilder über den schemenhaften Gipfel der Bernina zog.
»Was für ein glückliches Jahr jetzt kommt – Gott im Himmel erhalte mir meinen Markus gesund!«
Cilgia sprach es in träumender Seligkeit.
»Er hat ein wahnsinniges Glück – aber von der Landsgemeinde in Samaden an hat man es kommen sehen.«
So sprach man im Oberengadin, und der Neid stachelte noch einmal die Camogaskersage gegen Markus Paltram auf und Cilgia erhielt manche geheimnisvolle schriftliche Warnung vor ihrem Bräutigam, die sie lächelnd ins Feuer warf. –
Die ersten Wochen des Jahres führten eine so grimmige Kälte heran, daß selbst die Hitzigsten nicht an Schlittenfahrten dachten. In der klaren Luft hörte man Markus Paltrams Hammer bis nach Samaden und St. Moritz hinüberklingen, auf eine halbe Stunde Entfernung verstand man jedes gesprochene Wort, von den Saumzügen, die vom Berninapaß kamen, schwebte eine dampfende Wolke auf, Männer und Pferde erschienen, vom Reif überzogen, wie auferstandene Schatten der Vorzeit, und der Schnee knarrte und sang unter den Schlitten.
Tag um Tag besuchte jetzt Cilgia ihren Verlobten in der Werkstatt, sie sah ihn gern hantieren und liebte seine fleißige Arbeit, besonders aber eine kleine Winteridylle. Er hatte allerlei Sämereien kommen lassen, er fütterte vor seiner Hütte die Vögel des Gebirgs, die die erbarmungslose Kälte in die Nähe des Dorfes getrieben, und Pia, die große Lust zeigte, ihm die Freude an dem munteren Leben der bunten Bergfinken, Ammern, Bachstelzen, Blutspechte und Bergdohlen zu verderben, hütete sich davor.
Eines Tages aber bereitete er Cilgia eine besondere Freude.
»Siehst du, Gemsen! – ich habe ihnen Heu hingelegt.«
Ganz nahe naschten die hungrigen Tiere und hoben die Köpfe und spähten mit ihren munteren Lichtern nach ihnen.
»O Markus, du mußt es im Innersten spüren, daß dich das glücklicher macht als die Jagd!«
»Ich spüre es auch,« erwiderte er in warmem Herzenston, und das Paar tauschte Hand in Hand die leuchtenden Blicke innersten Einverständnisses.
Selbst die mißtrauische Pia, an der alle Genesungshoffnungen sich erfüllt hatten, faßte etwas Zutrauen zu ihrem Hausgenossen. Mit kleinen Geschenken ließ sie sich, als das Wasserrad eingefroren war, gewinnen, daß sie ihm dann und wann den Blasebalg der Esse zog. Und Cilgia lobte den Waldteufel dafür.
Eines Tages aber, als sie eben wieder die fast zutraulich gewordenen Gemsen fütterten – es war schon gegen die Fastnacht – gingen in Pontresina die Sturmglocken.
Die Schneestürme sind im Gebirge los. Ein Bote vom Wegerhaus unter der Berninahöhe meldet, daß bei den Seen ein Zug Maduleiner mit Roß und Waren, an eine Felswand hingeduckt, begraben ist.
Da läßt Markus Braut und Esse: den Spaten auf der Schulter, zieht er mit den anderen Männern zur Rettung der Verunglückten in die Wetterschlacht.
Tag und Nacht bleiben sie fort – am anderen Abend kommen sie, die geborgenen Männer und Rosse in der Mitte. Aus zitternder Angst jauchzt das Dorf auf, die heimkehrenden Maduleiner aber umringen Markus Paltram, ihren jungen Mitbürger, der mit grenzenloser Mühe drei Erstarrten den geschwundenen Atem aus der Brust gezogen und mit wohlberechneten Bewegungen das Leben wieder gegeben hat. Vergessen und verziehen sind seine tollen Jugendstreiche, er muß ihnen versprechen, daß er zur Fastnacht mit seiner schönen Braut nach Madulein zu Besuch komme.
Und die Bündner Fastnacht ist da, jener Tag wild aufschäumender Volkslust, der mit manchem unvorbereiteten schweren Ereignis in die Geschichte des Landes eingetragen ist, aber auch die Dörferfreundschaft wie kein anderer weckt. Wer wirft sich da nicht ins bunte Fabelkleid, wer tanzt da nicht wenigstens eine Nacht durch und erlabt sich an Maskenscherz! So herzlahm ist kein Bündnerbursch, kein Bündnermädchen.
Cilgia bringt es nicht über sich, das Gesicht mit einer Larve zu verhüllen, aber von Puschlav herüber aus dem Vaterhaus holen die Säumer zwei Kisten schweren bunten Sammets, der aus Triest stammt, und auf einem zweispännigen Schlitten, dem Tuons im Kleid eines venetianischen Stadtknechts vorreitet, fahren Cilgia und Markus als Doge und Dogaressa von Venedig in weißen Pelzmänteln durchs Land. Auf jugendschönen Häuptern funkeln die vergoldeten Kronen, die Kronen des Glücks!
Es ist ein heller Tag und überall jagen Kostümierte mit klingenden Schlitten zu zweien und in Gesellschaften durchs Thal – und mit jauchzenden Zurufen grüßt man sich.
Gewiß ist unter allen kein schöneres Paar als der Doge und die Dogaressa von Venedig.
Vor ihm schimmern aus der weißen Landschaft die Häuser von Madulein, und über dem Dorf an der Bergwand klebt grau wie ein böser Traum die Feste Guardaval.
Im Dorf ist ungeteilte Freude über den stolzen Besuch, überall strecken sich Hände zum Gruß, in jedes Haus müssen der Doge und die Dogaressa treten und werden bewundert und bewirtet. Besonders in der Hütte des schlichten Bruders Rosius ist lauter Freude, denn Cilgia hat die Kinder, die selbst in farbigen Flicken stecken, nicht vergessen, sie beschenkt sie, und zaghaft, doch mit glänzenden Augen schmiegen sich die Kleinen an die Prachtgestalt.
»Markus, wie kommst du zu so viel Glück? Du bist geachtet im Land und die herrlichste Jungfrau wird dein Weib,« spricht Rosius in staunender Lust.
»Alles durch sie,« erwidert Markus bewegt.
Im Vaterhaus des verlorenen Sohnes der Bibel kann bei seiner Wiederkehr keine herzlichere Freude gewesen sein als im Dörfchen Madulein, wie Markus Paltram, der Junge, der einst dem Teufel vom Karren gefallen schien, als geachteter Mann und mit einer herrlichen Braut wiederkehrt.
Denn ein verkommener Mann ist des Dorfes Schmach, ein Ehrenmann aber seine Ehre.
Und in Lustbarkeiten vergeht der Tag.
Man berät, wie man dem werten Besuch neue Vergnügen bereite, und die Jungmannschaft beschließt, daß sie den Dogen und die Dogaressa am Abend im Schlittenzug mit Fackeln und Laternen nach Samaden begleiten und dort bis in den Morgen tanzen wolle.
Eine tolle nächtliche Lichterfahrt Kostümierter im blassen Schneefeld, ein beängstigendes Bild, ein Zug der Hölle fast, würde man sagen, erklänge von den Schlitten nicht Lachen, Musik und Gesang. Allen voran fliegt der Doge und die Dogaressa.
Mit einem traumsüßen Lächeln, schon etwas ermüdet, ruht sie in seinem Arm.
Er aber ist stolz wie ein Fürst, der sich die verlorene Heimat wieder erobert hat. Und er lacht und redet in seligem Taumel Kluges und Thörichtes.
Wer würde glauben, daß Markus Paltram, der Hinterhältige, so kindlich glücklich sein kann!
»O, wenn's nur meine tote Mutter wüßte,« stammelt er immer wieder. »Cilgia – Cilgia – wie bin ich glücklich!«
In Samaden tanzt das Engadin. Wer hört den Stundenschlag der Nacht? Wer denkt an Heimkehr?
Der Doge und die Dogaressa reigen im Wirbel und die Masken haben sich längst gelüftet. Schwül ist die Luft im Saal. Die Geigen aber locken unaufhörlich wie die Musik des Teufels.
»Markus, ich bin müde. Genug ist genug. Ich kann nicht mehr. Lasse einspannen!« flüstert die Dogaressa, sie bittet, sie fleht. Aber der Doge hat noch nicht genug, er drängt, daß sie mit ihm tanze, sie versagt sich ihm mit einem leichten Groll, er wendet sich mißmutig von ihr ab – er tanzt mit anderen – seine Augen glühen wie Feuer, und Markus, der sonst keinen Wein trinkt, trinkt Wein!
Die Dogaressa ist nicht nur müde, vor allem ist ihr der Doge zu leidenschaftlich und mild, er ist schreckhaft wild, in seinem Kleide fühlt er sich als oberster Herr, er reißt den anderen Burschen die Mädchen aus dem Arm – ein paar übermütige Runden, er läßt sie stehen und fliegt anderen zu.
Und seine Augen funkeln.
Die Bursche beginnen zu grollen, die Mädchen fürchten ihn, aber auf alle Vorstellungen seiner Braut und der Freunde antwortet er nur mit einem tollen Lachen: »Ich bin der Doge von Venedig!«
»Es geht in die Fastnacht,« hofft die Dogaressa, aber sie sitzt wie auf Kohlen und ist doch blaß; sie plaudert, um ihr Inneres zu verbergen, zerstreut mit Pia, die als armseliges Mäsklein eben noch mit anderen geringen Masken durch den stolzen Schwarm der schön Kostümierten geflogen war.
»Du Närrchen, schau mich doch nicht so grenzenlos neidisch an! Das ist ja nur Fastnachtsgewand!«
Und Cilgia ärgert sich auch über Pia.
Endlich, endlich ist die ersehnte Stunde erlebt. Wie wird sie daheim im Pfarrhaus den Mummenschanz von sich reißen!
Der Doge und die Dogaressa tanzen die letzte Runde.
Im Sonnenaufgang des Winters ist die Bernina rot wie Blut, und ein Gespann gleitet aus Samaden in den rötlich erflimmernden Schnee.
Doch Markus und Cilgia, die ein Bärenfell vor der beißenden Kälte des Morgens schützt, haben kaum das äußerste Haus des Fleckens hinter sich, so spricht jener:
»Dogaressa, einen Kuß!«
Er spricht es, den Kopf voll Musik und Wein, im Ton des Befehles. Er zittert vor Leidenschaft.
»Jetzt nicht, Markus!« antwortet die Dogaressa traurig, »ich mag nicht.«
»Einen Kuß!« herrscht er sie an – und plötzlich richtet er, ihre Hand unter dem Bärenfell ergreifend, die Augen, mit denen er Leidenden die Schmerzen stillte – die schrecklichen Augen, die sie im Rosegthal an ihm gesehen hat, in schwüler Gier auf sie.
Ein stummes Ringen der Blicke spielt zwischen Doge und Dogaressa.
Ihr blasses schönes Haupt übergießt sich mit Rot, sie flammt auf:
»Schäme dich Markus – schäme dich, daß du mich mit Pia verwechselst.«
Er hört es kaum, was sie spricht; er sieht nur, wie schön sie ist in ihrem bebenden Zorn, sein glühendes Gesicht verzerrt sich, mit heftigem Arm umfaßt er ihre Hüfte, er reißt sie an sich und will sie mit Gewalt küssen.
»Tuons, halt!« schreit die Dogaressa.
Und das Krönchen gleitet ihr vom Haupt.
Der Säumer, der mit den heimwärtsdrängenden Tieren so viel zu thun hat, daß er sich nicht darum kümmern kann, was hinter ihm vorgeht, hält verwundert an.
Der Doge hat einen Augenblick wieder die Vernunft erlangt und die Dogaressa losgelassen. »Es ist nichts, Tuons – wir haben das Krönchen –« ruft er dem Schlittenführer zu.
Wie die Pferde wieder anziehen, sinkt die zitternde Dogaressa, die sich erhoben hat, durch den Ruck von selbst auf ihren Sitz zurück.
Der Schlitten jagt weiter, und zwischen den beiden herrscht peinvolles Schweigen.
Da springt im Morgensonnenstrahl ein armseliges Mäskchen, dem Gefährt ausweichend, in den Schnee.
Cilgia erkennt Pia.
»Tuons,« ruft sie, »laßt Euer Bäslein Pia zu uns hereinsteigen!« Und die frierende Kleine klettert bereitwillig in den weichen Polsterschlitten.
Es ist nicht nur Mitleid, was die Dogaressa so thun heißt, es ist die Hoffnung, daß die Gegenwart des Schützlings Markus beruhige.
Sie haben Pontresina erreicht, vor dem Pfarrhaus hält der Schlitten, die Dogaressa verabschiedet sich:
»Nein, Markus, begleite mich lieber nicht, fahre gleich mit Pia heim!«
Müde und traurig spricht es die Dogaressa.
Er aber wirft ihr einen Blick voll Wut und Elend nach.
Von einer wundervollen Liebe ist der erste Duft gewischt – Cilgia möchte in Thränen ausbrechen – aber sie muß stark sein vor dem Pfarrer.
Er sitzt beim Morgenkaffee und lacht, wie sie so blaß und übernächtig ins Zimmer tritt.
Und ob das Herz bricht, sie erzählt dem Onkel, wie schön der Besuch in Madulein gewesen sei.
Am zweitfolgenden Tag fragt der Pfarrer:
»Markus braucht aber lange, bis er sich ausgeschlafen hat. Wo bleibt er?«
»Ich will ihn holen,« erwidert Cilgia.
Fröhlich tritt sie in seine Werkstatt, er aber lehnt blaß und finster mit unterschlagenen Armen an der kalten Esse.
»Cilgia!« schreit er auf.
Etwas wie Grauen und Entsetzen steht in seinem Gesicht.
»Wir wollen doch keine grollenden Kinder sein, uns gegenseitig verzeihen und nie wieder Doge und Dogaressa spielen. Das Maskenkleid entwürdigt – das haben wir schrecklich erfahren.«
Sie spricht es gütig und hoffnungsvoll.
»So lache doch ein wenig, Markus,« bettelt sie ängstlich.
Aber er lacht nicht – er verharrt in seinem Schweigen.
»Thu mir den Gefallen und komm wieder ins Pfarrhaus! Der Onkel darf nichts merken von unserem häßlichen Streit,« fleht sie.
Er stöhnt überrascht auf. Und er kommt wieder ins Pfarrhaus, doch er kommt wie ein gezüchtigtes Tier, er kann nicht mehr lieb sein, er zittert nicht mehr nach einem Kuß, freudlos kommt er, freudlos geht er.
»Liebst du mich nicht mehr, Markus?« Durch ihre Stimme zuckt das heiße Verlangen. »Markus, rede, sonst sterbe ich!«
»Ich liebe dich wahnsinnig,« antwortet er traurig, und eines Abends spricht er wie ein Sterbender: »Lebe wohl, Cilgia, mich siehst du nie wieder!«
Wie ein Gerichteter wankt er davon.
So kommt der Abend vor Chalanda Mars, dem Frühlingsfest des Engadins. Cilgia schließt in dumpfer Verzweiflung kein Auge, sie ahnt immer noch nicht, was geschehen ist. Da tönen durch den Schnee die Rufe der Jugend in den kaum ergrauenden Tag: »Chalanda Mars – Frühling! – Frühling!« –
Mit Hörnern und Trommeln, mit Pfannendeckeln und Kuhglocken, mit allem, was Lärm macht, zieht die Knabenschar durch das schlafende Dorf, und in jedes Fenster und in jede Thüre gellt ihr »Frühling! – Frühling!«
Es ist noch nicht Frühling; noch zwei Monate wird das Engadin unter Eis und Schnee schlafen, ehe sich die erste Blüte regt – aber die Jugend ist der Herold des Lenzes: »Frühling – Frühling!«
»Lebe wohl, mein Frühling,« wimmert Cilgia in der Pfarrstube.
Um sechs Uhr schon kommt Tuons und treibt mit Faustschlägen die keifende weinende Pia vor sich her.
Er läßt das Mädchen im Flur stehen und tritt in die Studierstube des Pfarrers ein. Da naht sich Cilgia dem trotzigen Wildling: »Was ist geschehen, Pia?« fragt sie angstvoll.
»Jetzt habe ich Euch halt gebissen, Fräulein!« erwidert die Hirtin voll höhnischer Genugthuung und schielt Cilgia, die Thränen zurückhaltend, mit den schönen Raubtieraugen wie im Genuß der Rache an.
»Armer Tropf!« spricht Cilgia verachtungsvoll und wankt wieder in die Pfarrstube.
Da steht sie vor dem Bild der istrianischen Dulderin. Sie ahnt, ja sie weiß jetzt, was geschehen ist.
»O, wenn ich nur die Kraft hätte, zu verzeihen, wie du verziehen hast! Aber es ist schrecklich – ich habe die Kraft nicht« – und sie hebt ihre Hände empor: »Sei barmherzig, Katharina Dianti – spende mir deine Stärke, siehe, ich leide wie du – ich leide mehr als du!«
So steht sie und hebt die gekreuzten Hände zu dem Bild empor.
Sie sieht es nicht, daß Pfarrer Taß in die Stube getreten ist, erst sein Schluchzen weckt sie.
»O, Cilgia, du weißt noch immer nicht genug – selbst wenn du verzeihen könntest wie Katharina Dianti – es hülfe dir nichts!«
Sie horcht wie geistesabwesend – dann stürzt sie hin.
Sie liegt mit gebrochenen Flügeln wie der Adler, den Markus Paltram am Landsgemeindetag geschossen hat.
Der Pfarrer hebt sie auf.
Da flüstert die Taumelnde wie in wirrem Traum: »Nicht wahr, er muß Pia zum Altar führen – er muß?«
Ihr Schluchzen füllt das Gemach, in das die Morgensonne scheint.
»So wird es wohl sein,« spricht Pfarrer Taß mit halber Stimme, »das ist er der Mutter seines Kindes schuldig, sonst ist er vor Gott und Menschen ehrlos. Doch Schuld über Schuld – er ist geflohen von der verratenen Braut und von der zukünftigen Mutter seines Kindes hinweg. – Tuons hat ihn am weißen Stein gesehen – o, schon vorgestern wußte es das Dorf.«
Drei Tage brütet Cilgia wortlos, thränenlos – sie hört nichts von dem Entrüstungsschrei, der die engadinischen Dörfer durchbebt: »Er ist halt doch ein Camogasker!« nichts von dem Jammer des alten Mesners, der es allen Leuten erzählt: von Paolo Vergerios Zeiten an sei nie eine Braut im Strohkranz über die Kirchenschwelle von Pontresina geschritten – nur Pia müsse es jetzt thun!
Pfarrer Taß nimmt Cilgias Hand: »O, Cilgia, Leid ist schon vielen widerfahren, und ich weiß auch ein Lied davon! Wenn du in Tirano in die Häuser der Armseligen trittst, so findest du an den Betten der Kranken eine Nonne in weißem Haar, doch mit glanzvollen Augen. Jedes Kind kennt sie: Salome Forte! – wir konnten Glaubens halber nicht zusammenkommen.«
Doch Cilgia ist es, als ob den gleichen sengenden Schmerz wie sie noch keine menschliche Brust erduldet habe, keine mehr erdulden werde. Sie reicht dem Pfarrer die Hand: »Onkel, ich habe einmal über dein Junggesellentum gescherzt – es thut mir leid!«
Wie aus tiefem Schlummer erwachend, spricht sie mit ergreifendem Ton:
»Fort – fort von Pontresina – schon morgen, Onkel! Führe mich nach Fetan zu meinem geliebten Lehrer a Porta – hier kann ich nicht leben, und doch auch nicht sterben!«
Und der Pfarrer verstand sie und hatte Erbarmen mit ihrem furchtbaren Leid.
*
Es schneite, als müßte das Engadin untergehen, als der Schlitten, der Cilgia Premont entführte, thalwärts glitt.
Tuons führte sie und den Pfarrer.
Als sie aber an einem Wäldchen vorbeifuhren, das an der Straße zwischen Pontresina und Samaden liegt, reckte sich plötzlich eine Gestalt zwischen den seufzenden Tannen.
»Markus!« wimmerte das Mädchen.
»Cilgia!« stöhnte er wie ein wunder Stier.
Doch das Gespann verschwand in den Flocken.
So endete der herrliche Winter. Das Engadin wurde grün und die Blumen stickten ihre Pracht in den weichen Sammet der Fluren.
Da schritt Markus in der würdigen Ergebung eines Mannes, der es weiß, daß er eine himmelanschreiende Thorheit begangen hat, mit Pia Colani, die einen Strohkranz trug, zum Altar.
Er wollte ein Ehrenmann bleiben, und vor grimmigen Schmerzen sah er es nicht, wie die lose Jugend mit den Fingern Rübchen gegen sein Strohbräutchen schabte.