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Der kleine Flecken ist festlich belebt. Unter den alten großen Steinhäusern, die ein paar kurze Gassen bilden, drängt sich das Volk. Muntere Leutchen schauen aus den kleinen, tiefen Fenstern, die zusammen mit den weit aus den Wänden ragenden viertelsrunden gemauerten Backöfen und alten Malereien und Sprüchen den Engadiner Dörfern ihr eigenartiges Gepräge geben, und die Landsgemeindegäste sammeln sich auf dem Platz vor dem Plantahaus.
An den Fenstern des stattlichen, doch einfachen Palastes der Familie von Planta, dessen reichster Schmuck die kunstvollen schmiedeeisernen Gitter sind, stehen in der festlich blumigen Tracht der Zeit die schönsten Mädchen des Oberengadins, Mädchen mit jenen feingeschnittenen Gesichtern und dunklen Augen, wie sie den Frauen eines Völkleins zukommen, das seine Abstammung unmittelbar von den alten Römern herleitet.
Da führt Pfarrer Taß noch Cilgia Premont in den Saal und geht. Mit anmutigem Neigen des Kopfes grüßt Cilgia die Mädchen, die ihre Gespielinnen werden sollen; dann tritt sie an ein Fenster und schaut ins Gewühl auf dem Platz.
»Das ist eine Stolze,« flüstern die anderen Jungfrauen und ihre scheuen Blicke huschen zu der Fremden hinüber.
»Er ist daheim!« Das ist der einzige Gedanke, der Cilgia beherrscht, seit sie mit Markus Paltram gesprochen hat. Fast statuenhaft lehnt sie am Fenster, lichtbraune Aehrenflechten krönen ihr Haupt wie ein Diadem, die junge, leichtgewölbte Brust atmet ruhig, ihre schlanke Gestalt zeigt verhaltene Kraft, schlichte Vornehmheit, und die schönen braunen Augen unter den langen Wimpern haben jetzt den nach innen gewandten Blick einer Träumenden.
Die Mädchen haben recht: stolz und schön ist sie und von lachender Frische – so recht eine gesunde Natur, und man versteht nicht gut, warum sie so vor sich hinstaunen kann.
Sie denkt an das Geständnis, das sie vor dem Onkel Pfarrer abzulegen hat; das Geheimnis, mit dem sie ins Pfarrhaus getreten ist, macht ihr Pein. Wie seltsam ist doch Markus Paltram in ihren Lebenskreis getreten!
Da dröhnen von der altersgrauen Peterskirche am Berghang hinter Samaden die Böller, sie hallen an der Bergwand der Muottas Muraigl wieder, unter Trommelwirbel beginnt der Umzug des Volkes, der der Landsgemeinde vorausgeht, durch den Flecken. Voran reitet der Weibel im langen zweifarbigen Mantel, das Bündnerwappen, den springenden Steinbock, auf der Brust. In gemessenem Abstand folgen der alte und der neue Landammann, den Degen zur Seite, den Zweispitz auf dem Haupt. Hinter ihnen reitet einzeln der Landgerichtsschreiber, der das silberbeschlagene Landbuch auf den Sattelknopf stützt. Dann schreitet einer zu Fuß, ein gar düsterer Geselle, der ein langes, zweischneidiges, mordlustiges Schwert in markiger Faust erhoben hält. Das ist Domino Cla, der auf einer Innmiese bei Bevers vom Leben zum Tode richtet. Es folgen zu Pferd die dreizehn Richter in dunkler Tracht und hinter ihnen zu zwei und zwei junge und alte Reiter.
Einige Jünglinge grüßen, die Hüte lüftend, zu Cilgia empor, und sie erwidert mit anmutigem Nicken. Es sind ehemalige Zöglinge des Instituts a Porta: der hochaufgeschossene Luzius von Planta von Samaden, der bedächtige Andreas Saratz von Pontresina und Fortunatus Lorsa von St. Moritz, eine kraftvolle Feuerseele.
Einer aber grüßt nicht, Konradin von Flugi, der Sohn des neuen Landammanns, und Cilgia zieht einen lustigen Schmollmund.
»Natürlich der Poet – auf dem Pferd sitzt er am Ehrentag seines Vaters wie ein Schneider – warte, du heimlicher Tasso des Engadins!«
Der berittenen Vorhut des Zuges, die langsam hinter den Häusern des Fleckens verschwindet, folgen die Wagenfahrer, eine Abteilung älterer, gemütlicher Herren, die ihre Frauen und Töchter zu sich auf die Fuhrwerke gehoben haben, und endlich die Fußgänger, unter denen sie auch Markus Paltram entdeckt.
Sie erwidert seinen Gruß und errötet.
Zusammen mögen die Ziehenden, die die hellgelben hirschledernen Kniehosen und den halbhohen Hut tragen, etliche Hundert sein, ländlich elegante Junker, die sich Zweispitz und Degen gestatten, stolze Herrenbauern, reiche Händler, viele, denen man es ansieht, daß sie in fremden Ländern gewesen sind, und das bodenwüchsige Volk der Säumer, Weger, Sennen und Kleinbauern, das sich im Gegensatz zu den glatt rasierten Herren Schnurr- und Kinnbart gönnt. Und das von Süden strahlende Silberlicht der Bernina, das neugierig wie ein Kind an allen Häuserecken hervorguckt, weiht das schlichte Volksgepränge.
Allein Cilgia lebt von ihren Kindertagen her in den bunteren Bildern italienischen Volkslebens, in den heiteren Tönen einer wärmeren Volksseele – hier aber, im Heimatthal ihrer Mutter, ist alles so voll Ernst und Würde, voll Einfachheit und Festigkeit.
»Wie würde dieses strenge Volk urteilen, wenn es wüßte, was zu Fetan geschehen ist?«
Auf dem Landsgemeindeplatz, wo zuletzt nur noch wenige Gruppen gaffender Zuschauer stehen, sieht sie ein altes, häßliches Weib in bunten Lumpen herumgehen und den müßigen Leuten Ziegenglöckchen und Kuhschellen anbieten. Das ist die Mutter des Hauderers und Glockengießers Pejder Golzi, die Wahrsagerin mit dem fleischlosen Kopf – der wandernde Tod. Auch sie mahnt Cilgia an Fetan. Hätte sie dort anders handeln können, als sie gehandelt hat? Ewig würde sie es doch freuen, daß sie ein junges Leben sich selbst und einer Mutter den Sohn zurückgegeben hat. Was komme, sie wird die Verantwortung tragen!
Unbeweglich ruht sie und sinnt. Vor ihrer Erinnerung steht hellglänzend das kleine Dorf Fetan, das halb noch auf Erden, halb schon im Himmel sich auf einer Bergaltane des Unterengadins erhebt und in die tiefe Schlucht, wo sich die silberschuppige Schlange des Inns windet, hinabsieht. Im Institut a Porta sind nur wenige Zöglinge, die meisten hat der Krieg in die Heimat zerstreut. Man hat sich – es war anfangs der vergangenen Woche – in einem lichten Föhren- und Birkengehölz um den gebeugten Dekan gesammelt und horcht auf die ferne Schlacht, die seit gestern abend schon und seit dem frühen Morgen in der Gegend von Martinsbruck und Finstermünz tiefer im Innthal wütet. Es ist, als ob der dumpfe Donner der Kanonen aus der Erde selber steige, und je nachdem der Wind weht, hört man auch Gewehrgeknatter wie das Geräusch eines Hagelwetters. Die Zöglinge legen das Ohr auf die Erde, um zu entscheiden, ob der Kampf näherrücke oder sich entferne. Sie werden nicht klug daraus. Dann und wann jagt eine französische Stafette auf der Straße. Der Reiter heischt Wasser, gibt keinen Bescheid, flucht auf die Oesterreicher, auf Gott und die Welt. Endlich erbetteln sich die Zöglinge die Freiheit, gegen Remüs hinunterzuwandern, damit sie, wenn möglich, etwas über den Gang der Schlacht vernehmen.
Da kommt von der anderen Seite, von Steinsberg her, ein einsamer Gänger, er grüßt, er fragt a Porta: »Seid Ihr der Herr Dekan?« Er übergibt ihm zwei Briefe. Der erste versetzt den würdigen Philanthropen in einen Taumel der Freude. »Sieh, Cilgia, was mir der herrliche Zerr Heinrich Pestalozzi von Zürich schreibt: ›Meinen Segen und Kuß Dir, Du Engel des Engadins.‹ Das ist Himmelstau in der schweren Betrübnis dieser Zeit! Erquicke den Boten!« Markus Paltram – er ist der Ueberbringer – sagt gespannt: »Lest auch den anderen Brief, Herr Dekan!« Dieser thut's und erschrocken fährt er auf: »Sie haben den Vater unseres Konradin gefangen genommen. Ich muß den Armen vorbereiten – ich führe ihn morgen selbst seiner Mutter zu! Cilgia, wenn ich Pferde auftreiben kann, kommst du mit – du bist auch sicherer im Oberengadin!« Und der würdige Philanthrop eilt den Zöglingen nach.
Sie ist allein mit Markus Paltram. Ein mit einer Leinwandblache überdachter Wagen schwankt heran. Ein derber schwarzer Mann und eine Frau, über die der Schweiß niederströmt, ziehen ihn, das alte hagere Weib mit dem Totenkopf schaut vorn, schmutzige Kinder blicken auf der Seite der Leinwandblache heraus, und eines der Kleinen schreit: »Mutter, Millich, dort ist Millich!« Der Wagen steht und der Zauderer stößt einen Fluch aus: »Hol's der Teufel, weiter fahren wir nicht!«
Cilgia bringt ein Becken gestockter Milch, sie tränkt die Kleinen, da tönt eine Stimme aus dem Inneren des Wagens: »Fräulein, um Gott's und Maria willen gebt mir ein Tröpfchen – ich thu' verbrennen.« Der Hauderer, der rauhe Pejder Golzi, fährt auf: »Du dummer Hund, wenn du dich selber verrätst, so magst du sehen, wie du weiter kommst – wir bringen dich nicht mehr vorwärts!« Er öffnet die Blache, er reißt einen blutrünstigen, nassen jungen Mann aus dem Wagen und eilt, sein Weib antreibend, mit dem Fuhrwerk Hals über Kopf gegen Steinsberg, als wäre die Hölle hinter ihm her.
Da steht der Flüchtling, ein junger blauäugiger Mann, voll Schmutz, Schlamm und Blut, und trinkt gierig Milch. Auf der Straße von Remüs schreitet langsam a Porta mit den Zöglingen heran, strömen Leute, die von den freien Punkten Ausschau gehalten haben, und der Ruf »Die Franzosen kommen – die geschlagenen Franzosen!« verbreitet sich durch die Frühlingsdämmerung. – –
So weit sind Cilgia die Bilder des erregten Abends in eilender Hast vorübergezogen, da tritt eine zierliche Blondine, die einzige, zugleich die jüngste in der Schar der jungen Mädchen, auf Cilgia zu und die anderen begleiten sie mit neugierigem Blick.
»Fräulein,« sagt sie errötend, »wir wollten Euch nicht stören, aber wir sollten unsere Plätze wählen!«
Ein Lächeln gleitet über Cilgias Gesicht. »Ihr seid gewiß Menja Driosch!« und ein herzgewinnender Blick streift das Mädchen und seine vergißmeinnichtblauen Augen.
Es verwirrt sich und fragt: »Woher kennt Ihr mich?« Schüchtern klingt ihre Stimme,
Um Cilgias Lippen und Augen zuckt es von Schalkheit: »Kommt nur und zeigt mir das Gemach, wo ich die Gäste zu erwarten habe.«
»Nein, Ihr müßt es selber wählen, wir haben es so verabredet.«
Lieblich wie eine Hagrose glüht das sechzehnjährige Kind.
»So kommt, Menja, wir wollen uns das Haus ansehen.« Und Cilgia legt den Arm leicht um die Hüfte des Mädchens.
Sie wandern durch die Säle und Gemächer des Palastes. Stuccatur und gemalte Wappen mit lateinischen Spruchbändern schmücken die Decken, altes braunes Getäfel mit hübschen Friesen die Wände, Glasmalereien mit sammetroten Schildern die Fenster, geschnitzte Stühle stehen vor sauber gedeckten, schweren Tischen und auf diesen altes, schönes Venetianer Geschirr, auch zinnerne Kannen und Becher. Dazu auf bemalten Platten hochgeschichtete Haufen Biskuits und Kuchen.
»Das gefällt mir,« sagt Cilgia, »ein ganzes Volk bei seinem Landammann zu Gast!«
Menja Driosch, die liebliche Blondine, sieht sie fragend an, wo sie denn ihre Aufstellung wünsche, aber erst in einem weit zurückliegenden, halbversteckten Gemach sagt Cilgia: »Wenn Ihr einverstanden seid, so will ich hier die Gäste erwarten!«
»Wählt doch ein schöneres Gemach, Fräulein!«
»Laßt es gut sein, Menja!« bittet Cilgia.
Mit einer feinen, liebkosenden Bewegung fährt sie der Siebzehnjährigen über das in Seidenfäden fliegende Blondhaar, wirft einen vorsichtigen Blick um sich und sagt: »Woher ich Euch kenne, Menja, habt Ihr gefragt? Aus den Versen eines jungen Mannes, der das Ladin in kunstvolle Stanzen gießt und Blumen um den Namen Menja windet! Was er geschrieben hat, hat er mir gezeigt!«
Purpurröte steigt Menja ins blühende Gesichtchen, und mit leuchtenden Augen weidet sich Cilgia daran.
»Ihr seid gewiß keine andere als Cilgia Premont von Fetan; von Euch hat mir Konradin viel Liebes und Gutes erzählt,« ruft Menja mit ihrer reinen Stimme, und zur Verlegenheit tritt die Ueberraschung. »Mein Vater hat gestern, als er von Baron von Mont zu Mals in Tirol zurückkehrte, auch von Euch gesprochen. Er sollte dem reichen Lorenz Gruber im Suldenthal berichten, ob Ihr von Puschlav seid.«
»Lorenz Gruber im Suldenthal.« – – Cilgia sieht vor sich hin und wird ihrerseits verlegen. Das ist gewiß wieder eine Erinnerung an den ereignisvollen Abend. – Kommt denn alles in Samaden zusammen?
»Er will einmal,« fährt Menja fort, »wenn die Welt etwas friedlicher ist, zu uns nach St. Moritz kommen und auf der Reise Euch in Fetan besuchen.«
»Ich wohne jetzt zu Pontresina, bei meinem Onkel, dem Pfarrer Taß,« berichtigt Cilgia das Mädchen.
»Das trifft sich aber schön, der Herr Pfarrer ist ja ein guter Freund meines Vaters,« sagt Menja Driosch herzlich erfreut.
Cilgia ist wie auf Kohlen, sie will nichts verraten und hätte doch gern mehr über Lorenz Gruber gefragt.
Da hört man den Trommelschlag des Umzuges, der wieder auf den Platz kehrt, und die Mädchen eilen durch den geräumigen Flur ans Fenster, wo sie den freien Ueberblick über die Landsgemeinde haben.
Mit entblößten Häuptern und in lautloser Stille ordnet sich das Volk im weiten Ring, lauter ernste Gesichter.
Die Landsgemeinde ist wie ein Gottesdienst im reinen Firnenglanz der Bernina. Nach einer kurzen, markigen Ansprache nimmt der alte Landammann Romedi den neuen in Eid:
»Junker Rudolf von Flugi, schwört Ihr, daß Ihr als Landammann die Gesetze und Satzungen des Volkes halten und daß Ihr unparteiisch richten und regieren wollt nach bestem Wissen und Gewissen?«
Der Junker legt die drei Eidfinger auf das Schwert, das vor ihm über dem Landbuch gekreuzt ist, und spricht mit tiefer, weittragender Stimme:
»Ich schwöre, daß ich als Landammann die Gesetze und Satzungen des Volkes halten und unparteiisch richten und regieren will nach bestem Wissen und Gewissen. Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!«
So werden auch der Landschreiber und die dreizehn Richter des Hochgerichts beeidigt, und dann heben sich die Hände und Finger des Volkes und dem Eid des Gehorsams folgt die Formel: »Wir schwören es, so wahr uns Gott helfe!« Die vielen Stimmen verwirren sich und tönen, als ginge Windesbrausen über den Platz dahin.
Cilgia, die zuerst nur einen kühlen Eindruck von der Landsgemeinde empfangen hat, ist von dem Vorgang tief ergriffen. Das Bild des Völkleins, das in Luft und Sonne tagend, die ewigen Berge und Gott im Himmel zu Zeugen seines wankellosen Willens nimmt, bewegt sie.
Der neue Landammann, der würdige Junker von Flugi, hält nun seine Rede. Er dankt Gott, daß er die Prüfungen des Krieges nicht schwerer gemacht habe, und wendet sich dann ans Volk:
»Ein Lob aber auch der engadinischen Treue! – Unter den schwersten Umständen blieb jeder von euch, liebe Mitlandsleute, der Verantwortung für alle anderen bewußt. Ihr habt manchmal der zürnenden Faust, selbst den weichen Stimmen des Mitleids Halt geboten, die Neutralität gegen eine übermütige Soldateska im großen und kleinen gehalten und damit dem Thal die Geißel der Brandschatzung und das Entsetzen des Standrechts, unendliches Leid erspart.«
Cilgia ist es, als dringe ein großes, schmerzhaft blendendes Licht gegen sie.
Ihre Brust atmet heftig. Sie hat es wohl vorher schon gefühlt, aber jetzt hat sie es laut aus berufenstem Munde gehört: ihre That zu Fetan ist ein Verrat an einem feierlich gegebenen Treuwort des Volkes; wenn sie bekannt wird, ist sie eine gräßliche Gefahr für das Engadin. Und eben rät der Landammann, Vorsicht zu bewahren, da noch Späher genug im Lande stehen?
Sie hört es nur undeutlich, wie seine Rede weitergeht, vor ihren inneren Augen steht wieder der Flüchtling, wie er bei dem Ruf »Die Franzosen kommen – die geschlagenen Franzosen!« eine schwache Bewegung der Flucht macht, in die Kniee sinkt und in dunklen, unverständlichen Lauten stöhnt, bis sie plötzlich und deutlich die Worte »Vater – Mutter« hört. Die Worte und der Anblick des Hilflosen foltern sie und sie wendet sich an Markus Paltram, der bisher dem Vorgang mit kühler Ruhe zugesehen hat, so g'rad', als wenn ein Mensch in höchster Todesnot für ihn etwas Alltägliches wäre, »Ratet, helft! Wir können den Unglücklichen doch nicht opfern.« – »Dem ist nicht zu helfen, der einzige offene Weg geht über das Sesvennagebirge. Den erträgt der Tiroler da nicht, er ist ja schon halb tot,« antwortet Markus Paltram. Dem Flüchtling laufen die Thränen des Elends über das Gesicht, und in der Ferne sprengen französische Reiter die Berglehne her. Sie weiß selber nicht mehr, was sie thut. »Seid barmherzig, Markus Paltram; wenn Ihr nicht um des Flüchtlings willen barmherzig sein wollt, seid's um meinetwillen!« So fleht sie ihn an. Da steht er auf und sagt mit einem seltsam höflichen Lächeln und einem sonderbaren Blick: »Wohlan – um Euretwillen, Fräulein. Es kann den Kopf kosten, aber für Euch reut er mich nicht. Ich führe den Burschen durch das Waldthal der Clemgia ins alte Bergwerk von Scarl. Dort mag er ruhen, bis er wegfähig ist, oder in Frieden sterben. Ich verlasse ihn nicht – auf mein Ehrenwort nicht!«
Und fast barsch wendet er sich an den Flüchtling: »Hängt Euren Arm um meinen Hals und vorwärts!«
»Gott geleite euch!« – Die beiden, der Tiroler auf Paltram gestützt, sind noch kaum bei den Uferstauden eines Bächleins, die sie schützen sollen, angekommen, so haben schon einige Fetaner das Fluchtunternehmen entdeckt; zum Glück erschweigt der Zornschrei der um ihr Dorf geängstigten Bauern in der Furcht vor den Franzosen, die jetzt Fetan besetzen.
Ein wilder Abend folgt. Ueberall Lichter, Gefluch der Hauptleute, Gestöhn Verwundeter, Hufschlag und Pferdegewieher; im Lehrsaal des Instituts sitzt der geschlagene General am Pult a Portas und die Offiziere, die Befehle holen, gehen ein und aus.
Bei ihm besorgt der Philanthrop einen Paß durch die Wachen von Zernetz.
Jeden Augenblick fürchtet Cilgia, daß die Kunde komme, ein Fetaner habe die That Markus Paltrams verraten – sie werde zu einem Verhör gerufen – es werden Häscher nach den Wandernden ausgeschickt. Doch nichts geschieht!
Um Mitternacht kniet sie in ihrem Kämmerlein. Ueber den Domen des Sesvennagebirges, hinter dem das Tirol liegt, steht die Mondsichel und über dem dunklen Scarlthal zieht die Bergwand entlang ein Nebelchen – ein Nebelchen wie ein Reiter in weißem, fliegendem Mantel. Dort gehen Paltram und der Tiroler! – –
In ihr tiefes Sinnen über alles damals Erlebte klingen jetzt die letzten Worte der Landammannsrede: »Und also, liebe getreue Vorsteher und Mitlandleute, lade ich euch nach altem Brauch zu einem kleinen Imbiß ein und bitte die Ehrenjungfrauen im Plantahaus und in den anderen Häusern der Nachbarschaft eurer zu warten.«
»Hoch der Landammann – hoch – hoch!« schallt es, und bald erdröhnt das Plantahaus unter den Schritten der zuströmenden Gäste; doch dauert es eine Weile, ehe sich der erste in das Gemach Cilgias findet, die vor ihr helles und blumiges Kleid eine blitzblanke Schürze gebunden hat.
»Ihr, Herr Konradin – das ist hübsch! Die Poesie hat man immer gern. Doch denkt, ich habe Menja Driosch, Eure Flamme, kennen gelernt.«
Der Angeredete ist ein Jüngling von zwanzig Jahren, nicht besonders hübsch, etwas mißfarbig, sommersprossig und, obgleich er den Zweispitz und den Degen des Junkers trägt, von linkischer Art. Ein Aufleuchten geht über sein gutmütiges Gesicht, allein es erlischt rasch und traurig sagt er: »Ich wage es heute nicht einmal, Menja Grüß Gott! zu bieten. Mein Vater grollt dem ihrigen so schwer!«
»Er hat sie doch als Ehrenjungfrau geladen,« bemerkt Cilgia teilnehmend.
»Das wohl. Die Väter sind zwei vornehme Gegner, aber darum nicht weniger hart gegeneinander. Es geschah nur, um keine Todfeindschaft heraufzubeschwören, und aus dem gleichen Grund hat Driosch die Menja hierhergehen lassen. Denkt, wir wohnen in St. Moritz, Fenster gegen Fenster, an der gleichen Straße. Es muß jeder etwas überwinden.«
»Da seht Ihr sie doch häufig,« scherzt Cilgia. »Aber sagt, was haben denn Eure Väter gegeneinander?«
»Ach, Fräulein Cilgia – ein alter Handel um die Sauerquelle von St. Moritz; mein Vater hängt an den Zeiten, die vergangen sind, der Menjas an denen, die kommen sollen; die unglückselige Gefangennahme des meinen ist dazu getreten, er redet sich ein, niemand als Driosch habe ihn an die Franzosen verraten. Die Wahrheit ist: es hat gar keinen Verrat gebraucht, denn es ist landbekannt, daß mein Vater an Oesterreich hängt und die Franzosen nicht leiden mag, obgleich mein Bruder Alfons im Dienst Napoleons steht. Wißt aber, Fräulein Cilgia, Driosch siegt, er hat die Jugend für sich. Sagt ehrlich, hat Euch heute die Rede meines Vaters gefallen?«
Mit lebhaften Augen und roten Wangen fragt es Herr Konradin.
Cilgia will nicht bekennen, daß sie die Rede, von den eigenen Gedanken gefangen, überhört hat, und bejaht freundlich.
Konradin von Flugi, der sich auf einen Stuhl gesetzt hat, steht auf.
»Ich hätte die Rede anders gehalten,« zürnt er. »Es ist lächerlich, mit geheimen Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden, das Volk zur Zufriedenheit, zur Bescheidenheit, zum Sichfügen in die Ratschlüsse Gottes zu mahnen. Unser Engadin hat noch nie gepraßt, und jetzt, wo es nichts mehr zu beißen hat, gehört ihm ein anderes Wort. Einen Spiegel soll man ihm vorhalten und die Krebsschäden aufdecken, die an seinem Mark nagen, und es mahnen: die Zeit der großen, selbstgenügsamen Faulenzerei ist vorbei, das Herrenspiel von Jahrhunderten her ist aus. Das Veltlin ist gefallen. Wir wollen jetzt zu arbeiten anfangen. Laßt uns Straßen bauen, damit der Verkehr von Deutschland nach Italien wieder wie in früheren Jahrhunderten über Bünden geht; kündigt den Bergamaskern unsere Alpen, damit wir selbst Alpwirtschaft treiben; laßt unsere Jugend Handwerke lernen, damit wir nicht jeden Kessel, der eine Beule hat, nach Chur oder Cleven zum Flicken schicken müssen, sucht das Heil nicht in der Auswanderung, die wohl etwas Geld zurückbringt, aber unser Volk langsam in der Fremde hinsiechen läßt! Freie, arbeitsame Engadiner im Engadin – das sei die Zukunftslosung! Einen Mann aber, Fräulein Cilgia, einen mutigen Mann sollten wir haben, der es ohne Menschenfurcht sagt, was not thut, und selber Hand anlegt.«
Mit schöner Lebendigkeit spricht der Jüngling.
»Werdet selbst der Mann, Herr Konradin,« lacht ihn Cilgia mit einem vollen warmen Blicke an.
Allein die Glut auf dem Gesichte des jungen Mannes, die es mit einer Art Schönheit geschmückt hat, weicht der Trostlosigkeit und hält den glänzenden Augen Cilgias nicht stand.
»Ich habe kein Talent dazu,« sagt er gedrückt, »ich bin ja doch nur ein Poet – ich könnte mit meinem Vater nicht brechen – ich bin nicht rücksichtslos genug – ich bin der wohlerzogene Sohn eines Adelshauses, mit allen Gebrechen eines solchen Sohnes. Die Wiedergeburt des Engadins muß von einem herbeigeführt werden, der – hau' es, stech' es – seinen Weg geht. Und die wachsen nur in der Tiefe – in den Hütten!«
In diesem Augenblick öffneten zwei junge scheue Geschwister in schäbigem Trauergewand die Thür des Gemachs, wollten sich aber wieder zurückziehen.
»Kommt nur, Pia,« rief Cilgia, »da sind ganze Haufen Kuchen für euch und Raum, wie ihr seht!«
Da setzen sich die beiden, Bruder und Schwester, schüchtern und beginnen an dem Gebäck zu knuspern.
»Es sind die Waisenkinder des verunglückten Fischers Colani, Pia ist unsere kleine wilde Ziegenhirtin und ihr Bruder Orland will in die Fremde ziehen,« wendet sich Cilgia an den Junker.
»Also auch ein Opfer unserer Mißstände,« antwortet er bitter und verabschiedet sich, um seine Freunde aufzusuchen.
Cilgia wendet sich zu den Geschwistern und ermuntert sie zum Essen.
»Du hast ja Wangen wie Alpenrosen, braune Pia!«
Das Kind, sonst eine wilde Hornisse, drängt sich zärtlich an den Bruder, wie wenn es sich die Gesichtszüge des schönen, gebräunten Burschen noch recht fest ins Gedächtnis prägen wolle.
»Sie hat so heiß, weil sie sich von der alten Golzin hat wahrsagen lassen,« gibt an ihrer Stelle Orland Bescheid, ein frischer Junge, dem man es wohl ansieht, daß er sich durch die Welt schlagen wird.
»Und was prophezeit sie euch Gutes?« fragt Cilgia neugierig.
»Mir geht's übel und ich bleibe ledig,« gibt die braune Pia mit funkelnden Augen zurück, »mein Bruder aber wird angesehen und reich.«
Die kleine rassige Hummel spricht es mit felsenfestem Glauben und schlingt den schmalen Arm um den Hals des Bruders. »Wenn du angesehen und reich bist, so komme ich zu dir, Orland – und wenn ich schon tot wäre, so stände ich aus dem Grabe auf und käme zu dir, Orland, um zu sehen, wie es dir gut geht!«
Der Zärtlichkeitsausbruch überrascht Cilgia an dem Kinde, das in Pontresina als ein böser, kratziger Waldteufel voll toller Einfälle gilt, die sich namentlich gegen die etwas kindisch gewordene Großmutter richten. Pia liebt es, der Alten eine Menge Blumen ins schneeweiße Haar zu stecken und ihren Rock mit Tannenzapfen zu behängen, und wenn die Alte so durch das Dorf geht und alles lacht, beißt sie sich vor Vergnügen in die Finger.
Jetzt ist sie ganz zahm und abschiedsergeben.
Allmählich füllt sich das Gemach Cilgias, doch, weil es so entlegen ist, meist mit einfachen Leuten, Wegern und Säumern und ihr bereitet es just Spaß, das verwitterte Werkvolk mit großer Liebenswürdigkeit zu bewirten.
Während sie eine frische Platte Kuchen aufstellt, hört sie plötzlich den Namen Markus Paltram.
Die Gäste sprechen von seinem Adlerschuß, und was sie nun weiter hört, fesselt sie so, daß sie ihre Pflichten als Wirtin völlig vergißt.
»Er ist ein Camogasker,« behauptet ein struppiger Weger, »in der Nacht, als er zur Welt kam, gingen hoch oben in der Ruine Guardaval die Lichter hin und her, als ob ein Fest wäre.«
»Ich weiß, was ich weiß,« prahlt der Säumer Tuons, der sein Birkenzweiglein aus dem Munde genommen hat und die Arme breit auf den Tisch stützt, »es wird bald genug eine Geschichte an den Tag kommen, die zeigt, was er ist.«
Und er grinst geheimnisvoll.
Ueber Cilgias Gesicht verbreitet sich die Purpurröte der Angst.
Und Tuons erzählt weiter: »Ich habe seine Mutter als Mädchen wohl gekannt. Ich war zehn Jahre beim reichen Romedi zu Madulein im Dienst und hätte selber Lust für die stolze Gredy gehabt. Da hat sie aber an einem verworfenen Tag am Piz Mezzàn, dort wo kein Mädchen hingehen soll, gewildheut, da ist der Jäger gekommen. Sie hat, weil er so schön gewesen ist, das Stoßgebet vergessen – und dann – dann hat sie auf einmal den Küfer genommen, der ihr so lange umsonst nachgelaufen ist, und den sie nie hat erhören wollen – Knall und Fall hat's Hochzeit gegeben, Markus war das erste Kind aus der Ehe.«
»Und mit fünfzehn Jahren,« versetzt ein anderer, »hat Markus den Stutzen geführt wie ein Alter. Eines Sonntags, während das Dorf im Morgengottesdienst ist, fällt ein Schuß. Der Stillständer eilt aus der Kirche, um zu sehen, was vorgefallen sei, Markus Paltram hockt auf einem Baum, Rosius, der zweite unter den Buben, auf einem anderen und der ruft: ›Es ist nichts, Stillständer, mein Bruder hat mir nur das Thonpfeifchen des Vaters vom Mund weggeschossen!‹«
Eine Bewegung des Erstaunens geht durch die Gesellschaft.
»Wartet, das Merkwürdige kommt noch,« sagt Tuons. »Der Stillständer, der reiche Romedi, bei dem ich diente, nahm Markus Paltram wegen des gottlosen Spiels das Gewehr ab und verwahrte es zu Haus. Zu jener Zeit war aber in der Familie g'rad' ein großes Unglück. Das Kind des Stillständers hatte sich bei der Wäsche aufs schrecklichste verbrannt und schrie in seinen Schmerzen, daß man es drei Häuser weit hörte. Unter dem Vorwand, daß er von der Mutter Lilienöl für die Verletzte bringe, kam Markus, der sein Gewehr zurückbetteln wollte, ins Haus. Er reichte dem hoffnungslos darniederliegenden Mädchen die Hand. Siehe da – plötzlich litt es keine Schmerzen mehr. Bis es starb, mußte Markus bei ihm bleiben, denn es bat in einem fort: ›Markus, halte mich, das thut so wohl.‹ Und das Mädchen, das ihn sonst immer gefürchtet hatte, sagte, wenn es wieder gesund und etwas älter geworden sei, so müsse Markus sein Bräutigam werden. Nun frage ich: Ist das nicht wunderbar, ist das nicht die Macht des Camogaskers?«
»Und die Geschichte ist wahr,« sagt wieder einer, »ich erinnere mich ganz gut daran, der Stillständer ist ja ein Vetter zu mir.«
Das Gemach Cilgias hatte sich inzwischen mit weiteren Gästen gefüllt, welchen sie aufwarten mußte; überall war frohes Getafel, Plaudern und Lachen.
Mitten in ihrer vielfältigen Thätigkeit verließ sie aber der Gedanke an das, was sie am Tisch der schwarzen Pia über Markus Paltram gehört hatte, nicht wieder.
Wohl sagt sie sich: die Geschichten von Markus Paltram sind ja trotz aller Versicherungen der Erzähler erfunden. Aber seit Fetan kennt auch sie die dunkle Wucht seines Wesens und den Reiz seines geheimnisvollen Auges. – Wie er so eigenartig gesagt hat: »Wohlan, Fräulein, um Euretwillen,« ist ihr gewesen, wie wenn ihr jemand ein unsichtbares Netz übergeworfen hätte, das sie abschütteln müsse.
Wer ist denn Markus Paltram? Aus dem Gespräch der Männer weiß sie es: der Sohn einer Wildheuerin und – sieht man von der tollen Camogaskersage ab – der eines beschränkten Küfers. Ein junger Handwerker ist er, ohne Werkstatt und Arbeit.
»Ich aber bin Cilgia Premont, die Tochter eines Podesta.« Mit einem Ruck hebt sie den stolzen Kopf. Da summt ihr die Rede Konradins von Flugi neu durchs Ohr: Die Wiedergeburt des Engadins muß von einem herbeigeführt werden, der – hau' es, stech' es – seinen Weg geht. Und die wachsen nur in der Tiefe – in den Hütten!
Plötzlich fühlt sie: »Dieser Mann ist Markus Paltram – es gibt keinen anderen außer ihm!« Ihr ist, als ob eine Stimme in ihrem innersten Innern es schreie. »Nein, nein,« wehrt sie sich, »was geht mich Markus Paltram an?«
Plötzlich hört sie die aufkreischenden Worte der schwarzen Pia: »Der darf nicht in unser Haus – ich zerkratze ihn, wenn er kommt.« Und der kleine Waldteufel sträubt sich wie eine Wildkatze. Jetzt richtet sie ihre zornigen Augen auf Cilgia selbst.
»Wenn uns der Pfarrer das zu leid thut, wenn Markus Paltram in unsere Hütte kommt, dann, Fräulein – beiße ich Euch einmal, daß Ihr ewig an mich denkt!«
Cilgia muß hell herauslachen, der braune Wildling mit seinen Raubtieraugen ist so schön in seinem grenzenlosen Zorn.
Bald lockt indes vom Landsgemeindeplatz Tanzmusik, die lustig durch die Fenster hereindringt, und die Gäste verlieren sich aus dem Gemach – auch die Hornisse Pia mit ihrem Bruder.
»Ich wünsche Euch herzlich Glück in der weiten Welt!« sagt Cilgia und gibt ihm die Hand.
Nun, die hellen Augen des Burschen bürgen dafür, daß es ihm nicht schlecht gehen wird. Fortunatus Lorsa und Menja Driosch kommen und holen Cilgia zum Tanz. Auf dem Landsgemeindeplatz wiegt sich bei den Klängen einer bäuerlichen Musik das junge Engadin bald im Ringelreigen, bald in Paaren. Um die Tanzenden steht ein dichter Ring und Knäuel von Zuschauern, aus den Fenstern des Plantapalastes schauen die alten würdigen Herren auf die Lustbarkeit, und über die Dachgiebel der Nachbarhäuser blickt die Bernina, die sich im Abendsonnenstrahle rötet, auf das Völklein ihres Thales.
Ein Kreis von Bänken, die zum Ausruhen dienen, scheidet die Zuschauer von den Tanzenden. Dort sitzen eben Cilgia und Menja in einem Kranz von Gespielinnen, welche die Scheu vor der Fremden abgelegt haben.
Cilgia fühlt sich heimisch und glücklich.
Da lachte die zierliche Menja: »Seht, dort im Fenster links hin stehen mein Vater und der Herr Pfarrer, Euer Onkel – gewiß erzählt er ihm von Mals, sie reden so ernsthaft – schaut, Euer Onkel hat ja einen ganz roten Kopf.«
Auch Cilgia erglüht nun so heiß, daß sich Menja auf die Lippen beißt und denkt, sie habe wohl eine Thorheit gesagt.
Zum Glück kommt gerade Fortunatus Lorsa mit seinen Freunden, die Mädchen zum Tanze zu holen. Cilgia liebt den Reigen, sie liebt alles, was die Kräfte spannt, und ist die anmutigste und begehrteste Tänzerin im Kreis.
Sie tanzt eben mit Konradin von Flugi, der ein herzlich schlechter Partner ist, und die Furcht, mit dem ungelenken Jüngling, den sie sonst wohl leiden mag, unansehnlich zu erscheinen, beengt sie.
Jetzt erblickt sie unter den vordersten Zuschauern Markus Paltram, der seine blauschwarzen Augen auf sie geheftet hält.
Ihr ist, als ob ein höhnisches Lächeln über seine Lippen gehen müsse; aber wie sie mit Konradin einmal ganz nahe an ihm vorübergleitet, sieht sie in seinen Augen nichts als ein großes, zitterndes Verlangen.
»Er wagt es nicht, mich um einen Tanz zu fragen, er tanzt aber auch mit keiner anderen.« Der Gedanke gefällt ihr, sie will sich ihm dankbar erweisen, und er ist so wohlgekleidet, sieht so gut aus, daß sie sich mit ihm schon im Ring zeigen darf. Sie erliegt dem geheimnisvollen Reiz; wie das alte komische Musik- und Tanzmeisterlein ruft: »Die Mädchen wählen!« überwindet sie das Bedenken und knixt zur großen Ueberraschung ihrer jungen Freunde mit ihrer vollen Anmut vor einem Burschen, den sie nicht kennen.
Markus Paltram zögert einen Herzschlag lang – dann läuft ein Glücksstrahl über sein Gesicht, und nun wiegt sich das Paar in den Klängen der warmen Musik. Einige Leute aber drehen die Köpfe nach ihnen und fragen verwundert: »Wie kommt der Camogasker zu dieser Ehre?«
»Mit Euch geht es besser als mit Herrn Konradin,« sagt Cilgia schon nach ein paar Takten, und er sieht zwischen frischen Lippen ihre weißen Zähne fröhlich blitzen.
Sie fand in seinen Zügen auch plötzlich das nicht mehr, was sie wie eine Warnung, wie eine rätselhafte Scheu von ihm abgestoßen hatte, sondern mit dem Gefühl der Sicherheit und erhöhten Lebens glitt sie an seiner Seite dahin; doch spürte sie es, wie er sie im leichten Tanz je länger desto fester an seine Brust zog, sein heißer Atem streifte sie, und plötzlich sah sie in seinen Augen wieder ein Funkeln, vor dem sie erbangte.
»Nicht zu wild,« flüsterte sie; als er aber ihrem Wunsche augenblicklich nachgab, da bereute sie ihre Mahnung fast.
So hatte sie noch nie getanzt, an seiner Seite hatte das Spiel eine hinreißende Macht, es war ein Fordern und Nachgeben, ein Ineinanderrinnen der Bewegungen wie ein Lied und mehr, unendlich mehr als ein fröhlicher Kinderreigen.
Einmal flüsterte Markus Paltram: »Einen solchen Dank habe ich mir damals zu Fetan gewünscht. Aber habt Ihr auch bedacht, Fräulein, wie gefährlich es ist, daß wir hier tanzen?«
»Gefährlich?« fragte sie.
»Die Geschichte von dem geflüchteten Tiroler geht um.«
Sie wußte aber in diesem Augenblick kaum etwas, als daß sie in ein glückstrahlendes Gesicht geschaut hatte, und mit glühendem Gesicht, mit wogender Brust erwiderte sie: »Es geht jetzt doch rasch zu Ende. Holt mich auch zu einem Tanz, Paltram. – Ihr versteht Euch auf den Reigen ja so gut!«
Da lockten die Geigen wieder, der letzte Tanz in blauer Abenddämmerung war da, und nun kam Markus Paltram und erbat sich ihn. Rings um sie her wogten die Paare, selbst die braune Pia, der Waldteufel, drehte sich mit ihrem Bruder in der Runde, und wieder mahnte Cilgia ihren feurigen Partner: »Nicht zu wild!«
Plötzlich aber sagte sie: »Seht, dort ist ein Streit!« – Ein Dutzend Bursche hatten sich am Rand des Tanzplatzes um den schwarzen Pejder Golzi, den fahrenden Glockengießer, geknäuelt und schrieen: »Haut ihn, werft ihn zu Boden, er hat einen Tiroler Spion geführt!«
Neben dem Hauderer stand die Alte mit dem Kopf, der wie ein hautüberzogener Totenschädel aussah, und kreischte: »Die dort wissen es, wer ihn geführt hat – wir nicht!« Und sie wies mit ihrem langen dürren Arm und mit bösem Blick auf Markus Paltram und lenkte und zog den Knäuel in die Tanzenden. Ehe sie sich's versahen, standen Cilgia und Paltram in seiner Mitte, und das Aufhören des Reigens vermehrte die Verwirrung.
»Ja, der Camogasker – dem ist alles zuzutrauen! Schlagt ihn tot! Um den ist's kein Schade!« So erheben sich Stimmen.
Und die alte Wahrsagerin zetert am meisten gegen Markus Paltram, sie hetzt mit hexenhaftem Gekreisch. Die Stimmen schwirren ringsum, die Fäuste heben sich. Den Zornigen steht nichts mehr als die Gestalt Cilgias im Weg.
Paltram hat sie losgelassen – er weicht einige Schritte zurück, senkt den Kopf wie ein Stier, der auf seine Angreifer losgehen will, legt die Ellbogen an die Hüften, ballt die Fäuste, und die rollenden, funkelnden Augen, deren Weiß gespenstisch aufblinkt, suchen das erste Opfer.
Ein paar Mädchen, die in der Nähe stehen, schreien auf vor Entsetzen über die grausame, keuchende Wildheit im Gesicht des Burschen. Ein Unglück steht bevor.
Plötzlich faßt Cilgia ihren Tänzer am Handgelenk: »Ruhig, Markus Paltram – mir zuliebe!«
Sie hält ihn mit der einen Hand zurück, sie stellt sich so vor ihn, daß sie ihm den Rücken zuwendet, und sagt zu den Leuten: »Ich bin die Schuldige – ich schäme mich nicht. Wenn ihr schlagen wollt, so schlagt zu – ich stehe ja da!«
Ihre Brust wogt, sie ist blaß zum Verscheiden, aber ihre Augen sind hell und ihre tiefe, wohltönende Stimme besitzt Kraft genug, daß man sie ziemlich weithin hört.
Wer will in ein so bildschönes Gesicht und zwei so strahlende Augen schlagen?
Eine Verwirrung entsteht, die Angreifer sind unschlüssig, Gelächter ertönt: »Schaut – schaut! – Die schöne Podestatochter von Puschlav und Paltram, der Camogasker! – Wie kommen denn die zusammen?«
Der Augenblick genügt, daß sich die jungen Freunde schützend um Cilgia sammeln, Lorsa scheint nicht übel Lust zu haben, seinerseits die Feindseligkeiten zu eröffnen, und eine Stimme ruft: »Das ist ja klar, die Herrenbuben helfen dem Herrenkind!« Viele, die im Kreis herumstehen, wissen auch nicht, worum es sich handelt, sie zürnen, daß die Landsgemeinde mit einem Streit geschändet werden soll, und machen sich bereit, über den ersten herzufallen, der einen Streich führt.
So steht Cilgia eine lange, bange Minute vor hundert Augen, Paltram, wie einen blutdürstigen Tiger, den man zähmen will, an der Hand.
Und überraschend – er folgt dem leichten, zitternden Spiel ihrer Hand und verbeißt seine schäumende Wut.
»Der Landammann. – Der Landammann!« – Vor dem alten, achtunggebietenden Herrn legt sich die Bewegung. »Narrheiten, ihr Leute – he, Musik, noch einen schönen Tanz – jawohl – jawohl, an einer Landsgemeinde streiten wollen! – Ihr aber, Fräulein, und Ihr, Paltram, folgt mir!«
Die Musik spielt.
Die Haudererleute haben die allgemeine Verwirrung benutzt, um sich zu flüchten; aber Pejder Golzi ist zu einem Verhör im Plantahaus zurückgebracht worden, wo bereits der Landammann mit den Gerichtsherren, Cilgia und Paltram sitzen. – Auf die Frage des Landammanns beginnt nun der halb scheue, halb freche Mann zu erzählen:
»Wir flicken in Strada bei Martinsbruck, wo wir daheim sind, allerlei Lederzeug für das Militär und horchen auf die Schlacht. Wir haben den ganzen Tag noch keine Soldaten gesehen, da brechen plötzlich jenseits des Inns fünf Tiroler hervor – stutzen – einer wirft sich in den Inn, die anderen ihm nach, ein Dutzend Franzosen kommen auch aus dem Wald, schießen auf die Schwimmenden und alle versinken vor unserem Blick. – So meinen wir wenigstens. Und die Franzosen sind wieder fort. Da bellt der Hund so stark. Wir schauen nach – ein Tiroler liegt unterhalb des Dörfchens am Ufer. Er stöhnt: ›Rettet mich – mein Vater, der reiche Lorenz Gruber aus dem Suldenthal, wird es euch vergelten.‹«
»Der reiche Lorenz Gruber aus dem Suldenthal?« – Der Landammann und die Gerichtsherren spitzen bei diesem Namen die Ohren und flüstern.
Der Hauderer aber fährt hastig fort: »Gewiß haben wir ihn nicht wegen des Geldes, das er aus der Tasche klaubt, auf den Wagen genommen, nein, weil mir mein Weib mit viel Worten von christlicher Barmherzigkeit den Kopf vollgemacht hat. Unter den Kindern haben wir ihn versteckt und sind bis nach Fetan gekommen, der Weg und die Angst haben uns aber so müde gemacht, daß wir ihn dort abgeladen haben. Das weiß die da.«
Damit zeigt der Kuhglockengießer auf Cilgia und fragt mit verdächtiger Demut: »Darf ich jetzt wieder gehen?«
»Das drängt nicht,« versetzt der Landammann trocken.
Cilgia sitzt in glühender Scham vor den Herren und fühlt den Blick des Pfarrers, der wie sich wärmend am kalten Ofen steht, in Vorwurf, in großer Sorge und herzlicher Teilnahme auf sich gerichtet.
Er weiß aus dem Munde Drioschs wohl schon alles.
Die Gerichtsherren reden leise zusammen; es scheint Cilgia, als habe der Name Lorenz Gruber der Geschichte ein neues Gesicht gegeben, sie aber denkt mit heimlichem Verdruß: Jetzt ist der Geborgene nicht einmal ein Armer! Neben ihr steht mit zusammengezogenen Brauen Markus Paltram.
Da pocht es; auf das »Herein« des Landammanns tritt sein Gegner, der Großviehhändler Driosch, ein frischer Vierziger, in den Saal und spricht:
»Ich glaube, ich kann den Herren, die hier sitzen, eine Sorge abnehmen. Als mir mein Töchterchen Menja erzählte, was vorgefallen ist, war ich eben mit meinem Freund Casparis von Thusis, den wir alle als einen zuverlässigen Mann kennen, in der ›Krone‹. Er berichtet, daß gestern morgen der französische Gesandte von Chur abgereist ist. Er hat ihn selber mit drei Fuhrwerken Kisten und Schachteln fortfahren sehen. Und seine Stelle wird vorläufig nicht wieder besetzt, da sie mit dem Abzug Lecourbes ihre Wichtigkeit für die französische Regierung verloren hat.«
»Wir danken Euch, Driosch,« sagt der Landammann kühl und höflich, »die Mitteilung ist wertvoll. Wir brauchen uns jetzt mit der Angelegenheit amtlich nicht weiter zu befassen, denn wo kein Kläger ist, ist kein Richter.« Und zu Pejder Golzi: »So, jetzt könnt Ihr gehen.«
Da flüchtete sich der Hauderer über Kopf und Hals.
Den Gerichtsherren aber sah man es wohl an, wie ihnen mit dem Bericht Drioschs ein Stein vom Herzen gefallen war. Man war aus der furchtbaren Zwangslage befreit, eigene Angehörige, die man im innersten Selbst nicht verurteilte, unter dem Druck einer fremden Macht zur Rechenschaft zu ziehen und einen gewissen vorgreifenden Eifer zu heucheln, damit nicht das ganze Thal wegen Neutralitätsbruch in empfindliche Strafe gerate.
Cilgia Premont und Markus Paltram wurden in Gnaden, ja mit bewunderndem Lächeln entlassen.
Die Frühlingsdämmerung war eingebrochen und das Volk wandte sich, als es noch rasch den befriedigenden Ausgang des Vorfalls gehört, seinen Heimatorten zu. – Die Namen Cilgia Premonts und Markus Paltrams liefen, zusammengekettet durch das Ruhmgeschmeide einer kühnen That, mit den Heimkehrenden auf den Straßen des Oberengadins.
Am meisten schwärmten die jungen vornehmen Freunde aus dem Institut a Portas für Cilgia Premont.
»Natürlich – das ist sie. – Aber wie hat es nur geschehen können, ohne daß jemand aus der Anstalt etwas gemerkt hat?«
Und sie frischten mancherlei Erinnerungen auf, wie glücklich Cilgia Premont immer zwischen den Wünschen der Zöglinge und dem festen Willen des Philanthropen vermittelt habe, der den fröhlichen Vorstellungen seiner einzigen Schülerin, seines Lieblings nicht zu widerstehen vermochte.
Konradin von Flugi war Feuer und Flamme für sie. Er schmiedete schon an einer Ode auf Cilgia.
Mit Recht. Keiner hatte mehr Grund, ihr dankbar zu sein als er. Mädchenhaft mütterlich hatte sie den unreifen, linkischen Jüngling in ihren besonderen Schutz gestellt und manches Donnerwetter a Portas vom unschuldigen Haupt des Zerstreuten abgewandt, der durch ein gewisses unordentliches Wesen immer zu Tadel Anlaß gab. Sie war die einzige Vertraute seiner keimenden Dichtkunst, die einzige, die wußte, daß sein empfängliches Herz durch eine tiefe Neigung zu der jungen, blonden Nachbarin in St. Moritz, Menja Driosch, gefangen war.
Er glühte in Verehrung für Cilgia Premont, aber er vollendete die Ode nicht, denn plötzlich fiel es ihm ein, wie stürmisch sie ihn auslachen würde, wenn sie die Verse zu Gesicht bekäme.
Im Schein der Frühlingssterne, die über den Scheitel der blaßschimmernden Bernina zogen, ritt Pfarrer Taß mit seiner Nichte heimwärts. Es wollte ihn kränken, daß ihn Cilgia nicht gleich bei ihrer Ankunft ins Vertrauen gezogen hatte, aber es war mit dem Mädchen nichts anzufangen. Auch zwang ihn die Kraft, mit der sie geschwiegen hatte, zu großer Achtung vor ihr: sie war doch eine echte Bündnernatur – eine von den Frauen, die stehen und schweigen können wie der Fels des Hochgebirgs! Sie hatte ein Erlebnis, eine That hinter sich!
Und der sonst so stillfröhliche Pfarrer Taß seufzte. Sein eigenes ruhiges Leben kam ihm wie ein langer Traumwandel vor.
Er suchte im Reiten Cilgias Gesicht zu erkennen, aber er sah in der Dunkelheit nur unsichere Umrisse.
In seinem einsamen Dasein war die frische Gestalt ein später Sonnenstrahl, und doch fühlte er ihr rotblütiges, heißes Wesen wie eine Bürde der Sorge. Gehen so hoffnungsreiche Menschenkinder nicht den härtesten Weg, brechen sie sich, nachdem sie alle Hindernisse überstiegen, zuletzt nicht doch die Flügel?
In der Ferne ertönten die Freudenjauchzer heimkehrender Bursche.
Da fand auch der Pfarrer seinen herzlichen heiteren Ton wieder:
»Kind – Kind – was sind das für Geschichten! – Ja, a Porta hat recht damit, was er über dich sagt.«
»Was sagt er denn?«
»Du seiest eine von denen, die man nie ganz ergründet – deine harmlose Schelmerei und Fröhlichkeit sei bei dir nur der Werktag; du habest aber für dich immer noch einen Sonntag von Gedanken, und die fliegen so hoch und so tief, daß man einen stillen Kummer um dich nie ganz los werde.«
»Das hat a Porta, mein verehrter Lehrer, sehr hübsch gesagt,« versetzte Cilgia mit einem Anflug von Spott.
»Und wenn nun Sigismund Gruber, euer Flüchtling aus Tirol, als Freier zu dir kommt, was sagst du ihm, Cilgia?«
»Ich kann noch keinen Freier brauchen,« lachte sie voll Mädchenübermut.
»Der junge Gruber kommt aber – Driosch sagt's. – In aller Not hat er sich zu Fetan in deine Augenlichter verschossen, und der Alte ist nicht dagegen, denn er hat deinen Vater gekannt.«
Cilgia schwieg eine Weile, dann sagte sie nachdenklich und warm: »Gott sei Dank, daß die Last des Geheimnisses von mir genommen ist! – Ich fürchte aber, Onkel, daß ich mit einem Mann nicht glücklich würde, den ich um sein Leben habe winseln sehen. Ich habe so wunderliche Vorstellungen von der Liebe. Ich meine, ich sollte zu einem Mann emporsehen können wie zu einem Berg, und es müßte von ihm Firneschein ausgehen für mich und viele. Dann könnte ich ihn lieben und ihm dienen wie eine Magd – ja ich fürchte, ihn liebte ich nur zu sehr!«
Die Lichter von Pontresina schimmerten und die Pferde hielten vor dem Pfarrhaus von selber an.
»Gott mit der Landsgemeinde und allen, die daran teilgenommen haben!« sprach der Pfarrer.