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15.
Tsangpo Lamas Abenteuer

Sobald es Tag wurde, trat Tsangpo Lama aus der Höhle. Kein Windstoß kräuselte den See, und auf der Wasserfläche regten sich nur ersterbende Wellen. Bei klarer Luft herrschte scharfer Frost.

»Ich muß mich mit Geduld wappnen«, sagte Tsangpo zu den Eremiten, die sich gerade von ihrem Lager erhoben. »Der Wellengang hat keine Kraft, und früher oder später würde ich festfrieren wie Namgjal auf seiner Eisscholle.«

Den ganzen Tag über war Windstille, und es wurde wieder Abend. Sie lagerten sich um das Feuer in der Höhle und legten sich wieder schlafen. Als Tsangpo am nächsten Morgen ins Freie trat, war der See zugefroren, und überall herrschte tiefste Stille. Er weckte Namgjal.

»In vier Tagen«, sagte er, »brechen die Pilger am Bokain-gol auf. Bekommen wir nicht heute oder morgen Wind, der das Eis sprengt und mein Floß nach einem Punkt am Festlandufer bringt, so muß ich hier warten, bis das Eis trägt. Und das geschieht nicht in vier Tagen.«

»Sag lieber acht«, sagte Namgjal.

»Das hat nichts zu bedeuten. Der Häuptling, am Bokain-gol hat Pferde, und ich werde die andern bald eingeholt haben.«

»Das sicherste für dich ist, du gehst auf dem Eise geradewegs nach dem Delta zurück. Wenn du weiter nach Südosten gehst, um dich dann allein zu Fuß und ohne Waffen nach dem Lager der Pilger zu begeben, besteht die Gefahr, daß du den Räubern vom Stamme der schwarzen Tanguten in die Hände fällst, die sich am Süd- und Südostufer des Tso-ngombo aufhalten.«

»Bei Nordwestwind und offenem Wasser mache ich mich ohne Bedenken auf die Reise.«

»Ich fürchte, jetzt müßte ein gehöriger Sturm kommen, um das Eis aufzubrechen.«

»Kann man im Wasser segeln, so kann man es auch auf dem Eise. Wo die schwache Eisdecke nicht einen Menschen trägt, trägt sie doch mein Floß. Vielleicht nicht heute, aber morgen oder in ein paar Tagen! Komm, wir wollen das Floß ans Land ziehen, damit es nicht festfriert! Es muh auch leichter gemacht werden.«

Sie gingen sofort ans Werk. Die Holzgitter wurden gelassen wie sie waren, aber alle Ziegenschläuche, bis auf etwa dreißig an den Ecken und in der Mitte, wurden entfernt. Als das neue Floß fertig war, wurde es aufs Eis geschoben, und Tsangpo ging an Bord. Die Eisdecke knackte; sie war noch zu schwach, und auf dem See draußen mußte sie noch dünner sein.

Wieder ging ein Tag zu Ende, und die Stärke des Eises nahm zu. Tags darauf war unter dem Floß kein Knacken mehr zu hören. Kein Lüftchen regte sich.

»Übermorgen zieht die Karawane weiter«, sagte Tsangpo.

Am folgenden Morgen wehte der Wind aus Nordwest. Tsangpo und die Eremiten gingen zum Tempel hinauf um Umschau zu Hallen. Kein Spalt war im Eis des Sees zu sehen, kein Loch.

»Lebt wohl!« rief Tsangpo und eilte an den Strand hinunter. Er machte das Segel klar, band die Taue los und schob das Floß aufs Eis. Es lief leicht auf der spiegelblanken Fläche, durch deren Glasdecke hindurch man tief unten auf dem Grunde Steine und Blöcke erkennen konnte. Als er abstieß, kam Namgjal mit einem Bündel angelaufen und rief:

»Hier hast du für fünf Tage Tsamba. Buddha segne deine Fahrt!«

»Buddha segne dich!« rief Tsembe.

Es ging jedoch nicht so leicht, wie Tsangpo gehofft hatte. Stand das Segel gespannt und gab er dem Floß einen Stoß, so glitt es ein Stück vorwärts: nahm er aber selbst darauf Platz, so blieb es stehen. Also band er hinten ein paar kurze Zeltstangen senkrecht fest und schob das Fahrzeug vor sich her. Es gegen den Wind vorwärtszutreiben, wäre unmöglich gewesen, und es im Stich zu lassen und zu Fuß nach dem Delta zu wandern, wäre allzu gewagt gewesen, da das Eis über den großen Tiefen wahrscheinlich nicht trug. Hatte er das Floß mit, so konnte er sich immer retten.

Als er ein gutes Stück über die Südostspitze der Insel hinausgekommen war, fing die Eisdecke unter seinem und des Floßes Gewicht an, in langen, flachen Wellen zu gehen. Aber ruhig setzte er die Fahrt über die offenen Eisflächen fort und sah die Insel hinter sich zusammenschrumpfen.

Der Wind nahm zu, und immer längere Strecken wurde das seltsame Fahrzeug über das blanke Eis und die schwarzblauen Tiefen hinweggetrieben. Tsangpo sprang auf die Latten des untern Gitterwerks hinauf wie auf ein paar Kufen und glitt dahin wie auf gläsernem Boden. Die Sonne erreichte den Höhepunkt, keine Wolke war zu sehen.

Am Nachmittag wurde der Wind schwächer, und der kühne Pilger mußte zu Fuß gehen und sein Fahrzeug vor sich herschieben. Als die Dämmerung hereinbrach, war die Insel noch mehr zusammengeschrumpft, aber von dem südöstlichen Festlandufer war nichts zu sehen. So weit das Auge reichte, war ringsum alles Eis, nur die schneebedeckten Gebirgskämme ragten darüber empor.

Dann wurde es dunkel. Aber die Sterne gingen auf, und ihre Spiegelbilder auf dem welligen Eis waren ebenso scharf wie die Himmelslichter selber. Tsangpo gab auf sie acht, um nicht den Kurs zu verlieren. Der Wind flaute ab und hörte auf. Nun brauchte Tsangpo nicht mehr nach Südosten zu fahren, sondern ging in genau südlicher Richtung. in der nach seiner Meinung das Ufer auf kürzestem Weg zu erreichen sein mußte. Wieder richtete er sich nach den Sternen, war aber noch nicht weit gekommen, als das Eis von neuem zu knacken anfing. Da schlug er wieder die frühere Richtung ein. Aber das Knacken hörte nicht auf; er befand sich offenbar über den großen Tiefen, wo das Eis am schwächsten war. Plötzlich brach er ein, und das Wasser spritzte hoch. Glücklicherweise hielt er sich an den Stangen fest und schwang sich auf das Floß. Nun stieß er das Fahrzeug mit seinem Speer über das Eis vorwärts, um aus dem Loch und von dem heraufdringenden Wasser fortzukommen, in dem er sonst festfrieren konnte.

Es war bitter kalt.

»Ich bleibe hier über Nacht«, dachte Tsangpo Lama. »Unterdessen wird das Eis stärker. Wenn das Dunkel dem Morgenlicht weicht, kann ich besser sehen, wo das Land liegt. – Dort sehe ich im Süden und Südosten Feuer glimmen. Sie müssen vor dem Zeltlager der schwarzen Tanguten brennen. Vielleicht laufe ich den Räuberhorden, von denen Namgjal sprach, geradewegs in die Arme? Nach der Anzahl der Feuer zu urteilen, sind es viele. Sie haben festen Boden unter den Füßen, haben Pferde und Feuerwaffen und sind in ihrem eigenen Lande zu Hause. Täusche ich mich aber nicht, so haben sie des Drachen wegen Furcht vor dem See, bevor das Eis tragfähig ist. In den nächsten Tagen werden sie sich sicher nicht herauswagen. Nach Verlauf der Nacht, die jetzt begonnen hat, wird das Eis einen Menschen tragen. Mit einem einzelnen Tanguten werde ich leicht fertig. Kommen mehrere auf einmal, so bricht das Eis, und sie sinken ein. Und ich habe immer am Floß einen Stützpunkt. Zu Lande wäre ich ihnen eine leichte Beute. Aber ich kehre nicht eher um, als bis ich ermittelt habe, was sie im Schilde führen.«

Tsangpo hatte recht. Durch ihre Spione im Lager der Pilger am Bokain-gol halten die Tanguten von seinem Plane, bei Nordwestwind über den See zu fahren, Kenntnis erhalten. Da dieser Wind im Winter vorherrschte, hatten sie allen Grund, zu vermuten, daß Tsangpo unbedingt weiter nach Südosten getrieben werden würde. Ein Räuberstamm aus den nächsten Bergen hatte daher seine Zelte am Südostufer und im Süden aufgeschlagen. Sie hatten Schafe und Jake bei sich, um sich für Hirten ausgeben zu können, wenn die Mongolen etwa berittene Patrouillen am See herumschickten. Da der Frost anhielt und der See früher zufror als sonst, glaubten die Tanguten, ihre Beute könnte ihnen entwischen. Doch beschlossen sie, zu bleiben, da das Eis noch so schwach war, daß es von einem schärferen Wind aufgebrochen werden konnte. Die Mongolen ihrerseits glaubten, Tsangpo werde auf der Eisdecke zu Fuß über den See zurückwandern. Deshalb dachten sie nicht daran. Reiter auszuschicken.

Die Tanguten wußten, daß Tsangpo Lama, wenn er überhaupt auf ihren Strand zusteuerte, mit leeren Händen kommen würde. Sie lauerten ihm auch nicht auf, um durch Plünderung einen Gewinn zu machen; es geschah seiner Person wegen. Sie wußten, daß sein Vater sehr reich und daß er selbst bei den Pilgern hoch angesehen war. Konnten sie ihn lebend fangen und in ihre Berge im Süden verschleppen, so konnten sie ein beträchtliches Lösegeld erpressen. Sie hatten erst gedacht, mit der Ausführung ihres Plans zu warten, bis die Pilger nach Hochtibet gekommen waren. Nachdem sie aber von Tsangpo Lamas Seefahrt gehört hatten, wollten sie die Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Gelang es, so ersparten sie sich meilenweite Ritte und allerhand Gefahren. Mißlang es, so wollten sie die Mongolen nicht einen Tag aus den Augen verlieren.

Tsangpo Lama saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Schaffell, das er über sein Fahrzeug ausgebreitet hatte, und hing beim Sternenschein seinen Gedanken nach, während im Südosten die rätselhaften Feuer wie kleine gelbe Punkte schimmerten. Der Frost schnitt ihm durch Mark und Bein.

»Hier sitze ich und friere«, dachte er, »und habe die ganze Nacht vor mir. Und doch habe ich Feuerstahl mit Zubehör, habe Brennholz, wenn ich einen Teil des Floßes opfere, und ein Messer, um Späne von einer Zeltstange zu schneiden! Aber hier draußen Feuer zu machen, hieße, mich den Tanguten zu verraten. Sie würden mich vom Ufer aus umringen und mich wieder auf den See hinaustreiben. Das Floß gegen den Wind vorwärtszustoßen, ist zu schwer, und ohne Floß dem See zu trotzen, würde den Tod bedeuten, wenn heftiger Wind das Eis aufbräche.«

Mit steifgefrorenen Fingern machte er sich eine Schale Tsamba zurecht und aß. Dann zog er den Mast und das Segel ein, hüllte sich in seinen Schafpelz und versuchte zu schlafen. Im Verlauf der Nacht wachte er einmal auf und sah, daß die Feuer der Tanguten erloschen waren.

Gegen Morgen nahm die Kälte noch zu. Tsangpo sehnte den Tag herbei. Er kam, im Osten wurde es hell, die Sterne verblichen, klar und strahlend ging die Sonne auf und warf ihren Purpurschein auf den zugefrorenen See und das frosterstarrte Land. Vorsichtig stieg Tsangpo wieder aufs Eis. Jetzt hielt es. Er ergriff seinen Speer und stieß ihn mit aller Kraft senkrecht durch die Eisdecke. Die Eisdecke war nur daumendick, aber dank der Kälte zäh, und trug Tsangpo, ohne zu krachen, als er sein Fahrzeug eiligst gerade nach Süden weiterschob.

Bald hatte er sich warm gelaufen. Das Floß war schwer zu schieben, da ihm der Wind nicht half. Aber unmittelbar nach Sonnenaufgang setzte der übliche Nordwestwind ein, und nun brauchte er sich nicht länger anzustrengen. Er änderte den Kurs nach der Windrichtung und lief gerade auf den Strand zu, an dem er am Abend die Feuer der Tanguten hatte brennen sehen. Das Wetter war schlecht und winterlich rauh, und die Sonne verlor ihren Glanz infolge des feinen Staubs, den der Wind in die Höhe trieb. Die Stunden vergingen. Er hatte noch eine endlose Strecke zu gehen, bis er die Zelte der Tanguten im Gelände erkennen konnte. Die Windstärke nahm im Lauf des Nachmittags zu, und Tsangpo fürchtete, das Eis könnte aufbrechen. Sein Rückzugsplan über das Eis wäre dann vernichtet worden, und es wäre ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich den Tanguten geradewegs in die Arme treiben zu lassen.

Aber das Eis hielt, und er setzte seinen Weg fort Der Umriß des Strandes trat immer deutlicher hervor. Schließlich sah er Pferde, Jake und Schafe weiden und bei den Zelten erblickte er Menschen.

Plötzlich entstand im Lager Leben und Bewegung. Die Männer eilten zu ihren Pferden und sattelten sie. Eine Schar von etwa zehn Reitern ritt westwärts das Ufer entlang, eine andere, gleichfalls am zugefrorenen See, nordostwärts. In der Verlängerung seines Kurses sah Tsangpo dagegen kein lebendes Wesen am Strande, nur vereinzelte Reiter weiter hinten auf den Abhängen.

»Aha,« dachte er, »die Absicht ist, mir entweder am Nord- oder Südufer den Rückzug abzuschneiden und es mir unmöglich zu machen, durchzubrechen und auf Umwegen im Gebirge zum Delta zurückzukehren. Noch ist nicht alles verloren! Noch hält das Eis!«

Als er dem Ufer so nahe gekommen war, daß ein Flintenschuß zu hören gewesen wäre, schlugen die Hunde der Tanguten an; die mutigsten liefen aufs Eis hinaus, blieben aber in gehöriger Entfernung von dem merkwürdigen Ungeheuer stehen, daß über das Eis dahinglitt. Drei oder vier Reiter und einige Fußgänger eilten nach dem Teil des Strandes hinab, wo Tsangpo landen mußte, wenn er weiterhin in der Windrichtung folgte. Er bemerkte, daß sie nur Lanzen und Säbel trugen, aber keine Flinten. Offenbar lag es also nicht in ihrem Interesse, ihn ums Leben zu bringen. Aber er hatte keine Lust, den festlichen Pilgerzug mit düsterer Gefangenschaft zu vertauschen, und er wollte all seinen Scharfsinn aufbieten, um sie zu überlisten.

Als er so nahe gekommen war, daß Menschenstimmen zu hören waren, blieb er stehen, stieß seinen Speer ins Eis und erkannte, daß es ebenso dünn war wie bisher. Dann band er das Floß fest, um nicht vom Wind ans Land getrieben zu werden, setzte sich ruhig darauf und aß seine Tsamba. Die Männer am Strande wagten sich nicht auf das Eis hinaus, die Hunde aber kamen bis ans Floß heran und bellten sich dort heiser.

Der Himmel umzog sich, und schwere Wolken kamen über den See gezogen. In der Dämmerung begann es zu schneien, und weiße Streifen feinen, trockenen Schnees wirbelten über den See. Die Tanguten, die etwa zwanzig Mann stark waren, zündeten ein Feuer an. Als Tsangpo die Flammen sah und den Rauch, der landeinwärts zog, ging er an die Durchführung seiner Kriegslist. Er hieb drei Kerben ins Eis, in denen drei kurze Zeltstangen feststehen konnten, über die er das Segel deckte. Darauf zerlegte er das Floß, baute eine Unterlage von mit Luft gefüllten Ziegenschläuchen und legte darauf alle Stangen und Latten. Einige übrigbleibende Schläuche warf er den Hunden zu. Sie würden vom Wind erfaßt und über den zugefrorenen See geschleift werden, und die Hunde würden ihre Wut an ihnen auslassen.

Die Tanguten beobachteten alle seine Bewegungen. Von der Kühnheit der Hunde ermuntert, gingen ein paar von ihnen aufs Eis. Während sie sich berieten und die Dicke des Eises prüften, machte Tsangpo Feuer und zündete im Schutz des kleinen Zeltes einige Späne an, die er an den Scheiterhaufen legte, den er bereits aufgestapelt hatte. Der Wind schürte das Feuer, und der stöbernde Schnee zischte in dem brennenden Holze. Die Tanguten wurden immer kühner, als sie sahen, daß das Eis ein Feuer ertrug und daß der Mongole es sich neben ihm im Zelte bequem machen wollte wie in einem gewöhnlichen Lager.

Die ersten Kundschafter schienen die andern beruhigt zu haben; denn nun gingen alle in einer zerstreuten Linie vor, offenbar in der Absicht, die wertvolle Beute, die nicht mehr entkommen konnte, zu umzingeln. Um die Last zu verteilen, krochen die Männer und ließen ihre Lanzen über das Eis gleiten. Von Zeit zu Zeit verschwanden sie in immer dichterem Schneegestöber. Zuweilen blieben sie stehen, um darauf zu achten, daß der Ring gleichmäßig geschlossen wurde. Das trockene Holz prasselte und knallte, und hinter den Flammen schmolz allmählich das Eis. Mit dumpfem Knall sprangen die Ziegenschläuche, und es zischte und dampfte, wenn Feuerbrände in das Wasser fielen, das infolge der Hitze entstanden war. Noch bildete die Schar der Angreifer einen Halbkreis, der sich von Süden her auf fünfzig Schritt Entfernung näherte.

Da sprang der Anführer auf und stieß ein gellendes Kampfgeheul aus. Alle andern kamen der Aufforderung nach und stürmten mit gefällten Lanzen gegen den einsamen Pilger. In demselben Augenblick trieb ein heftiger Windstoß undurchdringliche Wolken von Wirbelschnee über die Stelle. Tsangpo sah, daß jetzt der rechte Augenblick für ihn gekommen war. Geschmeidig wie ein Aal schlüpfte er aus dem kleinen flatternden Zelte heraus und schlängelte sich, so schnell er vermochte, durch das Schneegestöber nach Norden. Hinter sich hörte er das Krachen berstenden Eises und wildes Heulen und Fluchen. Er hatte das Gefühl, außer aller Gefahr zu sein. Im Schein des erlöschenden Feuers sah er, daß die Tanguten sich auf sein Zelt gestürzt und es leer gefunden hatten; ein paar von ihnen waren eingebrochen, da das Eis hinter dem Feuer von der Wärme angegriffen worden war. Die andern zogen sich eiligst ans Land zurück, nachdem sie ihre Lanzen den Eingebrochenen zugeworfen hatten, um es ihnen leichter zu machen, wieder aufs Eis hinaufzukommen. Tsangpo dachte gerade daran, ihnen zu helfen, als er den einen sich auf das Eis hinaufarbeiten und dann, auf einen Spieß gestützt, dem Kameraden die Hand reichen sah. Steifgefroren und tropfnaß eilten sie dem Strande zu wie die andern.

»Nun haben sie vom See genug bekommen«, dachte Tsangpo und setzte dem Wind und Schneegestöber entgegen seine gefährliche Wanderung über das Eis westwärts fort. Seinen Speer hatte er als Stab mitgenommen und stemmte sich mit ihm gegen die heftigsten Windstöße. Er wollte in einiger Entfernung vom Strand auf dem Eise weitergehen. Ans Land zu gehen, hätte bedeutet, sich von der Reiterschar einfangen zu lassen, die er nach Westen hatte ziehen sehen.

Nachdem er ein paar Stunden gegangen war, hörte er im Süden Hundegebell und schloß daraus, daß es nicht mehr weit bis zum Lande war. Er bog deshalb etwas weiter auf den See hinaus. Im Dunkel und Schneegestöber war es unmöglich, die Umgebung zu erkennen. Nun hörte er ein Donnern wie von Wogengang und spürte zugleich, wie sich das Eis unter ihm bog wie eine Brandung.

Lauschend blieb er stehen. Das Donnern kam näher. Also hatte der hartnäckige Wind auf der Westhälfte des Sees das Eis aufgebrochen, und die Sturmwogen rollten nun nach Osten und zerschlugen und zerschmetterten auf ihrem Wege alles, was sich ihnen entgegenstellte. Er kehrte um und eilte nach Osten. Nun hatte er den Wind im Rücken und kam schnell vorwärts. Als er so weit gekommen war, daß er nicht mehr hörte, wie die Brandung gegen die Eiskante schlug, bog er nach dem Lande ab und war bald auf dem Trockenen.

Den Ufersaum entlang stemmte er sich dem saugenden Sturm, der das Schneegestöber wegfegte, mit Anspannung aller Muskelkraft gerade entgegen. Nach einiger Zeit bemerkte er am Boden ein Bündel weiße Punkte, die aussahen wie Rosenkranzkugeln, und fand, daß es Schnee war, der sich in den Löchern angesammelt hatte, die Pferdehufe getreten hatten. Soweit das Dunkel es zuließ, untersuchte er die offenbar noch ganz frische Spur. Sie mußte von der Reiterschar herrühren, die er nach Westen hatte ziehen sehen. Eine Zeitlang verfolgte er die Spur und überzeugte sich davon, daß sie in der Nähe des Strandes verlief.

»Früher oder später muß ich haltmachen,« dachte er, »wenn ich nicht der Räuberbande in die Arme laufen will. Aber eins habe ich voraus; ich gehe gegen den Wind und muß sie daher hören, ehe sie mich bemerken. Bei der jetzigen Geschwindigkeit muß ich morgen mittag das Delta erreichen.«

Seine Augen brannten, da ihm der Sturm den Schnee ins Gesicht trieb. Aber er sah ein, daß er versuchen mußte, durch das Dunkel hindurchzudringen, um nicht unvermutet in die Klauen seiner Verfolger zu geraten. Plötzlich blieb er wieder stehen, da er einige Schritte vor sich im Dunkel ein Pferd auftauchen sah. Ehe er selbst wußte, wie es geschah, hatte er es beim Zügel gepackt und sich in den Sattel geschwungen. Ein Schatten schlich sich durch das Schneegestöber heran – der Besitzer des einsamen Pferdes, einer der Tanguten. Er war wohl zurückgeblieben, um eine bestimmte Strecke des Strandes im Auge zu behalten, und war abgesessen, um im Schutze eines Hohlweges seine steifgefrorenen Glieder aufzutauen. Als ihm klar wurde, daß der nächtliche Wanderer nicht einer von seinen Genossen war, sondern der mongolische Pilger sein mußte, dem sie nachspürten, stieß er einen gellenden Ruf aus und eilte herbei. Tsangpo aber stemmte dem Pferd die Hacken in die Seiten, kehrte sich im Sattel um und rief:

»Leb wohl, Bruder! Grüß deine Freunde und sag ihnen, daß Tsangpo Lama nun nach seinem Zelt reitet!«

Er ritt in scharfem Trab. Er sah gerade noch die Spur, aber das Pferd, das sich nach seinen Kameraden sehnte, half ihm. Ein Stück weiter nach dem Strande zu spitzte es die Ohren und wieherte hell. Die Reiterschar konnte nicht weit entfernt sein. Tsangpo ritt langsamer und lauschte. Er machte eine Weile halt und wartete. Da sah er hinter sich drei Gestalten auftauchen. Das mußten die Kundschafter von dem Teil des Strandes sein, wo er sein Feuer auf dem Eise zurückgelassen hatte: sie mußten unterwegs, als sie der ersten Reiterschar nacheilten, von dem Mann Aufklärungen erhalten haben, dessen Pferd er bestiegen hatte.

Er trieb sein Pferd an und ritt pfeilgeschwind zwischen den Hügeln im Süden hinan. Er ritt auf Leben und Tod. Die Verfolger verloren seine Spur. Der ersten Schar entkam er durch eine Umgehungsbewegung. Als er sich wieder nach dem Strande hinunterwagte, konnte er keine frische Spur entdecken. Der Wind flaute ab, und das Schneegestöber hörte auf. Als er sich in der Morgendämmerung umwandte, sah er keinen Reiter. Da der Strand immer mehr nach Norden abbog und die Entfernung vom Delta nicht mehr groß sein konnte und da er auch kein lebendes Wesen hinter sich sah, sprang er vom Pferd und setzte seine Flucht zu Fuß fort. Das Pferd drehte er um und gab ihm mit dem Lanzenschaft einen Hieb, damit es zu den Seinen zurückkehren sollte.

Der Tag hatte seine Mittagshöhe erreicht, als er müde und schläfrig über die Schwelle des Häuptlingszeltes der Tsacharen trat.


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