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Kaum war Tsangpo Lama zwischen die Lanzen vor Erke Norvo Chans Zelt getreten, da erhielt er Nachricht von dem kaiserlichen Befehl, daß im kommenden Frühherbst Vertreter aller Mongolenstämme zu einer Pilgerfahrt nach dem Grabe des Taschi-Lama aufbrechen sollten. In dem Schreiben hieß es, der Kaiser betraure noch immer den Verlust des edeln Lehrers, der ihm die Wunder der seligmachenden Religion ausgelegt habe, und Höchstderselbe wolle durch die Berichte der von den Mongolen bevollmächtigten Männer die Gewißheit erhalten, daß das Grab des Heiligen auf eine des Toten würdige Art gepflegt werde.
Jahr für Jahr zogen gewaltige Pilgerscharen nach den Tempelstädten Tibets. An den jetzt anberaumten Zug, den der Tod des Taschi-Lama veranlaßt hatte, wurden große Ansprüche gestellt.
Schon im Winter begannen die Mongolen ihre Vorbereitungen. Reiter zogen mit Botschaft von Stamm zu Stamm. Auf einer Strecke von Hunderten von Meilen berieten Häuptlinge und Mönche über Geleit und Bewaffnung, Proviant und Geschenke und über die Zahl der Pilger, die von jedem Stamm zugelassen werden sollten.
Es wurde beschlossen, daß die Karawane gemeinsam mit den Gesandten des Dalai-Lama ziehen solle, wenn diese im Herbst nach Tibet zurückkehrten. Jahr für Jahr pflegte der oberste Geistliche von Lhasa Bevollmächtigte zum Kaiser mit Geschenken zu schicken, dem einzigen Tribut, den Tibet an China entrichtete.
Es war auch ein Vorteil, in großer, starker Gesellschaft zu reisen, da man durch die unsicheren Gegenden an den Quellen des Hoangho und des Jangtsekiang zog. Die Räuberhorden der kriegerischen Tanguten wagten dann nicht, die frommen Scharen zu behelligen. Kaiser Kienlung selbst sollte von einer Anzahl hoher Mandarine vertreten werden, die den Auftrag hatten, kostbare Gaben für die Grabkapelle des Taschi-Lama zu überbringen. Die Astrologen setzten den Tag fest, der für glückverheißend angesehen wurde.
Zum Sammelplatz war die kleine Stadt Wangjefu in Ala-schan bestimmt worden. Die Vertreter des Stammes der Tsacharen hatten von Erke Norvo Chan den Befehl erhalten, sich rechtzeitig bei seinem Zeltlager einzufinden.
Als der Sommer vergangen war und die Zeit herannahte, konnten die Tsacharen fast täglich ihre Nachbarn in kleineren Abteilungen durch die Steppe nach Kokochoto ziehen sehen, auf dessen Märkten mehrere von ihnen ihre Einkäufe machen wollten. Unter ihnen waren Pilger von den Stämmen der Tumed-, Ongnjod-, Naiman- und Barin-Mongolen. Torguten, Kalmücken, Chalchas und Burjaten hatten der Sommerhitze getrotzt; sie hatten mit ganzen Wolken von Bremsen zu kämpfen gehabt, die wie Rubine funkelten, wenn man ihre blutgefüllten Leiber gegen die Sonne sah. Sie waren meistens nachts gewandert und hatten ihre Kamele bei Tag weiden lassen.
Sunjuten, Uroten, Durboten und Ölöten hatten bis Wangjefu nicht so weit zu ziehen. Dagegen hatten die Boten des Dalai-Lama bis zum Sammelplatz eine ansehnliche Strecke zurückzulegen, da sie ihre Reise in Peking antraten. Sie waren Tibeter und kannten die Wege. Unter ihnen herrschte die beste Stimmung; sie kehrten ja in ihre Heimat zurück, während die Pilger, von religiöser Begeisterung getrieben, ihre Stammsitze verliehen.
Erke Norvo Chan vertraute die Aufsicht seiner Stammverwandten einem Häuptling des Roten Banners an. Er selber wurde durch seinen Sohn Tsangpo Lama vertreten, der für seine Rechnung kostbare Gaben für die Wiedergeborenen in Tibet mitführte, acht Kamele – zwei mit Silber beladen, zwei mit Burchanen, Buddhabildern aus Lamamiao, und vier, die in Häute eingenähte Ballen mit Pelzwerk, Seidenstoffen und Goldbrokat aus den besten Geschäften Pekings trugen.
Aus dem Lager der Tsacharen am Schandu-gol brachen an hundertundfünfzig Mann auf, Begleitmannschaft und Treiber eingerechnet. Vier Lamamönche begleiteten ihre Verwandten. Zwei von ihnen, die im Dienste Buddhas ergraut waren, hatten schon früher die Wallfahrt gemacht. Einige von den Pilgern nahmen auch ihre Frauen mit. Ulan Schereb, der alte Märchenerzähler des Stammes, sollte an den Winterabenden die Stimmung an den Lagerfeuern beleben. Man rechnete ja damit, ein halbes Jahr unterwegs zu sein!
Als der Tag gekommen war, hatten sich alle, die von den Tsacharen teilnahmen, bei Erke Norvo Chans Zelt versammelt. Man begann beizeiten, die Lasten abzuwiegen, die Kamele zu beladen und die Pferde zu satteln. Die Hirten, die auf nichts zu warten hatten, brachen mit ihren Scharen von wohlgenährten Fettschwanzschafen auf. Fast der ganze Tag ging hin, bis die letzten Vorbereitungen getroffen waren. Erst am Nachmittag wurde die Zugordnung festgesetzt. Häuptlinge und Mönche, die in Erke Norvo Chans Zelt mit Tee bewirtet worden waren, stiegen zu Pferd. Als die Sonnenscheibe gegen Abend sich rot zu färben begann und die Bremsen aufhörten zu summen, vernahm man das Läuten der Kamelglocken an der Spitze der Karawane, und langsam und schwerfällig setzte sich der Zug in Bewegung.
Erke Norvo Chan ritt an der Spitze. Er wollte die Karawane bis zu ihrem ersten Lager begleiten. Neben ihm ritt der Tsacharenhäuptling, der zum Führer des Zugs ausersehen war, und die beiden ältesten Lamas in roten Togen und gelben runden Hüten. In zerstreuten Gruppen ritten Pilger und Bewaffnete. Die Kamele wurden in Reihen von sechs, acht oder zehn geführt. Zwischen ihren Höckern und an ihren Flanken schaukelten die Lasten unter Reitern in bunten Trachten und unter Frauen, die zur Hälfte in ihren Kissen und Kleiderbündeln verschwanden.
An der Spitze des Zuges hatten die Glocken schon eine gute Weile im Marschtempo geklingelt, als bei den letzten Kamelen die Klöppel erst die uralte Karawanenmelodie einzuläuten begannen. Da trat Tsangpo Lama aus dem Zelt seiner Mutter heraus; er hatte von ihr und den übrigen Frauen der Familie Abschied genommen. Er stieg zu Pferd, um mit zwei treuen Dienern darauf zu achten, daß niemand zurückblieb.
Man wollte sich erst gegen Mitternacht lagern, wenn der Mondschein unterm Horizont verschwunden war. Noch brannte der Widerschein des Abendrots über der Steppe. Die ganze Karawane war wie in Glut getaucht. Die Kamele schaukelten roten Kolossen gleich dahin. Weiße Pferde sahen hellrot aus, braune und schwarze blutrot. Lederkoffer, Zeltstangen, Gewehre, Säbelscheiden, Steigbügel und metallbeschlagene Sättel konnten mit derselben kirschroten Farbe angestrichen sein wie die Säulen in den Tempelhallen von Jehol. Unendlich lang streckten sich die Schatten von Menschen und Tieren auf dem Steppenboden. Tsangpo Lama, der am Ende des Zuges ritt, sah die ganze Karawane sich rabenschwarz vom flammenden Westhimmel abheben.
Von Zeit zu Zeit hörte man Mahnrufe an die Kamele, die allzu gierig die Köpfe nach dem Steppengras senkten. Hier und da unterhielten sich Pilger oder berieten über die Lagerplätze. Ausgeruhte, wohlgenährte Pferde waren ungebärdig und schwer zu zügeln. Sie kauten den Geifer am Zaum, tanzten mit angespannten Muskeln, warfen anmutig Hals und Kopf und grüßten die Kameraden mit lautem Wiehern.
Das Abendrot verblich und schwand. Die Steppe dunkelte, die Schatten siegten. Im Osten stieg die Nacht herauf. Silbern schien der Mond auf die Karawane herab. Die Kamele, die im Dunkeln schlecht sehen, hörten auf zu grasen. Die Pferde wurden ruhiger, und die Unterhaltung erstarb allmählich.
Um mit seinen Gedanken allein zu sein, ließ Tsangpo Lama den Abstand zwischen sich und dem letzten Kamel immer größer werden.
Wie auf einer Karte erblickte er das ganze grenzenlose Grasland, das er nach allen Richtungen durchstreift hatte und das er nun hinter sich ließ. Vor ihm lag das heilige Tibet, das Ziel seiner Sehnsucht, und das Grab des Taschi-Lama, dem er sich in einem halben Jahre in Ehrfurcht nahen wollte. Er dachte an die Nacht, die er vor vier Jahren mit Dolma verbracht hatte, und wie wenig gefehlt hatte, daß sie ihn vom Wege der Pflicht ablenkte.
Langsam schritt die Nacht über die Erde. Bald mußte der Mond untergehen. Die Glocken erklangen immer leiser in immer größerer Ferne.
Da hörte Tsangpo plötzlich hinter sich dumpfes Pferdegetrappel auf dem weichen Sandboden und das Rascheln von Schritten im Grase. Als er sich im Sattel umdrehte, sah er schon einen weißen Hengst neben sich, und auf ihm im weißen Ziegenpelz ein Weib, neben dem ein Hund herlief.
Er erkannte sofort, wer die Reiterin war. Anfangs fürchtete er, die Prüfung, die er in jener Nacht bestanden, als der Brand in der Steppe gewütet hatte, würde von nun an seine tägliche Gesellschaft werden und ihn wieder vom Ziel der Wallfahrt abziehen. Deshalb rief er:
»Woher kommst du, Dolma? Wenn du zu den Pilgern gehörst, ist es besser, du schließt dich deinem Stamm an. Sonst könntest du Verdacht erwecken.«
»Die Steppe ist weit und hat viele Pfade«, antwortete sie stolz. »Die Nacht ist düster und hat trübe Augen. Sei ruhig, ich begleite meine Stammverwandten nicht. Du weißt, daß ich unsere Herden nicht im Stich lassen kann. Ich bin ihnen ebenso treu wie du deinem Klostergelübde und deinen lebenden und toten Mönchen. Ich wollte dich nur einmal in deiner Lamatracht sehen, um mich zu überzeugen, daß du dich nicht einmal in Gedanken einem Weibe nähern darfst. Nun ist mein Gram und meine Einsamkeit leichter zu ertragen. Ich weiß, daß eure Karawane sich lagert, wenn der Mond untergegangen und das Dunkel der Nacht undurchdringlich geworden ist. Tsagan soll dich in das ferne Land begleiten und vor deinem Zelt wachen.«
Nachdem sie den Hund an Tsangpos Sattel festgebunden hatte, fügte sie hinzu:
»Du siehst, der Mond segelt schon wie ein Schiff auf dem Gras des Horizonts. Lebe wohl.«
Ehe er noch ein Wort erwidern konnte, war sie verschwunden. Der Mond war untergegangen, und die Dunkelheit hüllte ihn ganz ein.
In einiger Entfernung verriet Feuerschein, daß die Pilger ihr erstes Lager aufgeschlagen hatten.
* * *
Zwei Monate schon waren die Tsacharen unterwegs. Sie machten kurze Tagemärsche, um ihre Kamele und Pferde zu schonen für härtere Prüfungen, als sie in der Wüste und der Steppe zu bestehen hatten. Bei Paoto gingen sie auf flachen Fähren über den Hoangho, den Gelben Fluß, und setzten ihre Wanderung in südwestlicher Richtung durch Ordos fort, ein Wüstenland, das an drei Seiten vom Gelben Fluß umspült und im Süden von der Großen Mauer begrenzt wird. Sie lagerten an tiefen Brunnen, die uralte Namen trugen, und verweilten oft länger als einen Tag, wenn das Weideland gut war. Wildgänse flogen zu ihren Häupten nach südlicheren Gegenden, Geier schwebten auf unbewegten Schwingen hinter ihnen her, satt und aufgedunsen von dem letzten Fraß an einem Kamelkadaver und in der Erwartung, binnen kurzem auf ein neues Opfer herabzustoßen. Die Dseren-Antilopen hielten einen Augenblick im Laufe ein und verfolgten den langsam wandernden Zug mit verwunderten Blicken, dann verschwanden sie ins Innere der Wüste. Führte aber der Weg an einem Tempel vorüber, so blieben sie in aller Gemütsruhe stehen, denn sie wußten von alters her, daß ihr Leben in der Nähe des Heiligtums geschützt war.
Nicht weit von Ning-scha setzte die Karawane zum zweitenmal über den Gelben Fluß. Am Fuß der waldbewachsenen Höhen des Ala-schan-Gebirges angelangt, schlugen die Pilger den Weg nach Wangjefu ein und lagerten eines Abends auf der Ebene südlich des kleinen Ortes.
Hier bot sich ihnen ein fesselnder, seltsamer Anblick. Die sonst so stille und öde Steppe, auf der höchstens arme Nomaden ihre Herden weideten, hatte sich in eine belebte Stadt verwandelt.
»So muß es ausgesehen haben,« dachte Tsangpo, »wenn von Dschingis Chans Zelt das Aufgebot ausgegangen war und von nah und fern die Nomaden in die Sammellager strömten, um wie unübersehbare Heuschreckenschwärme nach Westen zu ziehen und Völker und Reiche dem Großchan zu unterwerfen.«
Bevollmächtigte des Ala-schan-Fürsten wiesen den Tsacharen ihren Lagerplatz an einem reichlich fließenden Brunnen an. Hier errichteten sie nach bestimmten Regeln gruppenweise ihre Zelte, während die Karawanentiere in Begleitung ihrer Treiber auf die eine Tagereise entfernten Weideplätze zogen.
In der Nähe der verschiedenen Brunnen und Quellen stand eine Zeltstadt neben der andern, und doch waren die Tsacharen noch lange nicht zuletzt an dem Sammelplatz angelangt. Tag für Tag erscholl neues Schellengeläute, das immer näherkam und schließlich verstummte, wenn neue Lager von runden, prismatischen oder unregelmäßig geformten Zelten aus schwarzem oder braunem, zuweilen auch aus weißem Filz erstanden waren.
Da kamen Karawanen von verschiedenen Stämmen des weiten Landes der Chalchamongolen, von den Ufern der Selenga, des Orchon und Kerulen, in ihren Reihen stolze, reiche Häuptlinge in dunkelblauen Wolf- und Schafpelzen, auf kräftigen schwarzhaarigen Kamelen oder ausdauernden Pferden, die mit Troddeln und Bändern aus rotem Garn und mit blinkendem Silberschmuck behangen waren. Sie waren gewohnt zu befehlen und hatten nicht nötig zu sparen.
Eines Tages erklangen die Glocken der Burjaten, die monatelang auf dem langen Marsch von den Nadelwäldern des Jablonovijgebirges und dem kühlen Dickicht an Schilka, Onon und Argun in Ostsibirien her geklingelt hatten. Man sah es den Männern an, daß sie aus dem Waldland waren; denn sie trugen kostbare Grauwerk- und Zobelpelze. Ihre Zelte waren dagegen weniger kunstvoll aufgeführt als die der Mongolen. Ein frommer burjatischer Pilger schmückte den einfachen Altar in seinem Zelt mit einem vergoldeten russischen Kirchenbild, das Christus den Erlöser darstellte; er war der Meinung, das Bild gebe den Königssohn aus Sakjas Stamm, den ewigen Buddha, wieder.
Für die Pilger der Barinmongolen, die mit Götterbildern aus Lamamiao reichlich ausgerüstet waren, hegte Tsangpo Lama ein besonderes Interesse, denn zu ihrem Stamm gehörte Dolma. Nicht weit von ihnen lagerten die Ongnjoden, von denen einige in der Nähe der Palisaden an der mandschurischen Grenze ihre Wohnplätze hatten.
An einer andern Stelle waren zwischen ihren Zelten die Ölöten geschäftig; sie sangen Lieder, die seit der Zeit, da die Großchane die Welt beherrschten, von Mund zu Mund gingen. Ihre Heimat hatten sie in dem Lande nordwestlich vom Ala-schan, wo ehemals Uiguren und Usunen ihre Herden weideten und unter Trauerweiden ihre Zelte aufschlugen.
Wie zu einem Schauspiel versammelte man sich, als eines Abends neuer Glockenklang ankündigte, daß eine kleine Kalmückenkarawane im Anzug war. Die Kunde von ihrem Schicksal hatte sich in der ganzen Mongolei und in China verbreitet.
Kaum fünfzehn Jahre war es her, da waren dreihunderttausend Männer, Frauen und Kinder, alles Kalmücken vom Stamm der Torguten, vor der Härte des Zaren über den Ural, durch die Sümpfe des Emba und durch die Wüsten Turkestans nach der Dsungarei geflohen, um neue Wohnplätze am Fuße der Bergketten des Altai, des Tarbagatai und des Tien-schan zu suchen; freiwillig erkannten sie Kienlung als ihren Herrscher. Seit diesem Tag gebot der Kaiser allen Mongolen, und im ganzen Tsaoti oder Grasland wogte kein Grashalm im Winde, der nicht ihm gehörte. Ihre Pilger sahen ärmlich aus. Einige von ihnen hatten ihre Pelze mit russischen Uniformknöpfen geschmückt, die den Namenszug der Kaiserin Katharina trugen.
Die letzten, die sich einstellten und deshalb in Alaschan eine kürzere Ruhezeit genossen als die andern, waren einige Torgutenkarawanen, die auf ihren Tschapanen, ihren Pelzröcken, und in der Wolle ihrer hohen Kamele Wüstenstaub aus dem Herzen Asiens mitbrachten. Sie kamen aus Chami, der Stadt der Melonen, aus dem großen, stolzen Urumtschi, aus der Gegend des Bogdo-ola, des Gottesbergs, dessen Kamm von Feldern ewigen Schnees schimmert; einige der Wallfahrer waren in den Ebenen um den Ebi-nor und Sairam-nor zu Hause.
Man war erstaunt, daß die Torguten in einer Stärke von hundert Mann dem Rufe zur Teilnahme an der Wallfahrt gefolgt waren. Kaum dreißig Jahre waren vergangen, seit sie mit dem Reich der Mitte im Kriege gelegen waren und in der Dsungarei zwei chinesische Heere vernichtet hatten. Eine dritte Armee, die der Kaiser zu ihrer Unterdrückung ausgesandt hatte, besiegte ihre Horden und richtete ein Blutbad an, das nie vergessen werden konnte. Mehrere von ihnen ritten kräftige Pferde, und ein bei einem ihrer Häuptlinge in Dienst stehender mohammedanischer Dungane versicherte, diese Pferde stammten von arabischen Ahnen, die vor tausend Jahren unter den grünen Fahnen des Kuteibe-Ibn-Muslim und des Propheten nach Zentralasien gekommen waren.
In der elften Stunde, am Tage vor dem Aufbruch, langten fünfundzwanzig Solonen mit Kamelen und Pferden aus der nordwestlichen Mandschurei an. Ihre Nachbarn vom Stamm der Chalcha zweifelten ihre Rechtgläubigkeit an und erzählten, die Solonen gehorchten abergläubischen Schamanen, opferten heidnischen Götzen, verbrennten ihre Toten und verwahrten die Asche in Säcken, die sie an Baumzweige hingen und im Winde schaukeln ließen. Sie selbst versicherten, daß sie zum rechten Glauben hielten, und zur Bekräftigung ihrer Worte schwangen sie ihre Gebetsmühlen und murmelten unablässig die ewige Formel: Om mani padme hum. Niemand verweigerte ihnen den Platz im Pilgerzug.
Als alle versammelt waren, zählte man gegen vierhundert Zelte, achtzehnhundert Pilger und über dreitausend Kamele und Pferde. Ein unbeschreibliches Leben herrschte in dem großen Lager. Man feilschte, tauschte Tiere, besserte Zelte und Sättel aus, packte um und holte die warmen Winterpelze hervor, die man an den kalten Herbstabenden bald gebrauchen konnte. Mongolische Hirten besuchten den Platz, um Schafe zu verkaufen. Chinesische Kaufleute hatten sich eingefunden mit Waren aus Liang-tschu-fu, Lan-tschu, Ning-scha, und es wimmelte von Possenreißern, Zauberern, Quacksalbern, Wahrsagern, Bettlern und Schmarotzern aller Art, die die Gelegenheit benutzen wollten, die Pilger zu schröpfen.
An den letzten Tagen pflogen die Häuptlinge der Karawane langwierige Beratungen über die Zugordnung. Es wurde festgesetzt, daß die Tibeter an der Spitze reiten sollten, da sie am besten mit den Straßen, Quellen und Weideplätzen vertraut waren. So weit die Wüste reichte, sollten sie sich mit wegkundigen Ölöten beraten. Hinter ihnen ritten Chinesen, Tsacharen, Chalchas und die andern, jedes Volk mit seinen Lasttieren und seiner Begleitmannschaft. Beim Lagern wurde dieselbe Reihenfolge beobachtet, nur mit dem Unterschied, daß am Ufer eines Flusses oder Baches die Chinesen das Recht verlangten und auch zugesprochen erhielten, ihre Zelte am weitesten oben aufzuschlagen, wo das Wasser am reinsten war, während die Solonen am weitesten unten lagerten, wo das Wasser von allen andern getrübt worden war. In öden Gegenden, wie in der Sandwüste Tengeri südlich vom Ala-schan und im Tsaidam-Becken westlich vom Koko-nor, mußten die einzelnen Abteilungen der Karawane in weiten Abständen lagern, damit Wasser und Weide für alle zureichten.
In den unsicheren Gebirgsgegenden galt es zusammenzuhalten, um die Gefahr eines Überfalls zu vermindern. Das Land westlich von den Quellen des Gelben Flusses war seit alter Zeit berüchtigt als Schlupfwinkel tangutischer Räuberhorden, die es als eine gute Einnahmequelle ansahen, die mongolischen Pilger ihres Geldes und ihrer Pferde zu berauben. Viele Pilger aus dem Grasland hatten dabei ihr Leben eingebüßt, und das Unglück war, daß die Mongolen sich mit den Tanguten nicht an Tapferkeit messen konnten. Buddhas Lehre hatte dem einstigen wilden, kriegerischen Mute der Horden der Steppe die Spitze abgebrochen. Die Klöster entzogen ihnen zuviel von ihrer männlichen Kraft. Die Nomaden waren verweichlicht, sie waren fromm geworden und liebten das friedliche, ruhige Leben in der grenzenlosen Steppe.
Die Tanguten dagegen waren mutige, kecke, wilde Männer, und Buddhas Lehre hatte sie nie zu zähmen vermocht. In ihren tiefen Tälern zwischen schneebedeckten Bergen wohnten sie in kleinen Gemeinden in schwarzen Zelten aus Jakwolle und schliefen rings um die Feuerstelle auf Stroh oder Filz, während der Schnee durch den Rauchfang hereinrieselte. Wie die stammverwandten Tibeter besaßen sie Herden von Jaken und Schafen.
Von der Leitung der Karawane, in der die tibetischen Gesandten das meiste zu sagen hatten, wurde der Befehl erlassen, sobald das Signal zum Aufbruch erklungen sei, sollten alle Gruppen des Zugs reisefertig sein, damit zwischen den einzelnen Abteilungen keine Lücken entstünden. Die Chinesen hatten auf einem Maultier eine kleine Kanone mit Lafette mitgenommen. Wenn am Morgen der erste Schuß erklang, sollten alle ihre Kamele und Pferde von der Weide hereintreiben, die Zelte abbrechen, die Tiere beladen und sich marschbereit halten. Wenn ein paar Stunden später der zweite Schuß abgefeuert wurde, sollte die Spitze sich in Bewegung setzen und die Abteilungen der Mongolen der Reihe nach folgen. Wer dann nicht fertig war oder wessen Pferde sich des Nachts verlaufen hatten, mußte für sich selber sorgen.
Zum letztenmal ging während des Aufenthalts der Pilger auf der Ebene bei Wangjefu die Sonne am blutroten Himmel unter. Um sicher zu sein, daß sie rechtzeitig fertig wurden, packten die Reisenden bereits am Abend ihre Sachen ein, hielten alle Sättel und Riemen bereit und trieben ihre Tiere in die Nähe der Zelte. Graublaue Rauchsäulen stiegen reichlicher als sonst aus den Rauchfängen der Jurten; denn jetzt konnte man mit ruhigem Gewissen den Brennstoff aufbrauchen, den man von armen Nomaden gekauft hatte.
Die untergehende Sonne beleuchtete den feinen Staub, der seit den letzten Stürmen in der Luft schwebte; darum flammte der Abendhimmel röter als Feuer. Die aufsteigenden Rauchsäulen färbten sich purpurn, und die Wälder auf den Abhängen des Ala-schan-Gebirges schienen zu brennen.
In der großen Karawane gab es keinen Stamm, den nicht zwei oder mehrere Mönche begleitet hätten, die während der Wallfahrt auf strenge religiöse Zucht hielten. In jedem Zelt diente ein Lederkoffer als Altar, auf dem einige Bilder Buddhas und anderer Heiliger standen. Das Innere eines Klosterbruderzeltes sah aus wie ein Tempel. Da standen Schalen mit Opfergaben und brennende Öllampen vor den Bildern.
Am Abend trat ein Lama aus seinem Zelt heraus und blies lange, tiefe Töne in sein Schneckenhorn; alle andern stimmten ein. Es war ein Abschiedsgruß an die Sonne, eine Aufforderung zum Gottesdienst, ein Gebet zu den Geistern der Steppe, der Berge und der Luft, den Wanderern gnädig zu sein. Nun wußten die Pilger, daß die Stunde des Aufbruchs herannahte und daß es ernst war mit der Wallfahrt.
Tsangpo Lama hatte vom Tsacharenhäuptling, seinem Verwandten, den Auftrag erhalten, nach den Weideplätzen zu reiten und dafür zu sorgen, daß die Kamele und Pferde des Stammes während der Nacht beim Lager zusammengetrieben wurden. Von Dolmas Hund Tsagan begleitet, ritt er ostwärts auf der Straße, die die Tsacharen aus Ordos gekommen waren. In der Ferne sah er eine kleine Schar Reiter und Kamele, die zum Sammelplatz getrieben wurden. Er schenkte ihnen keine Beachtung. Solche Karawanen erschienen täglich auf den Wegen und Stegen, die nach Wangjefu führten. Eben wollte er nach links von dem Wege abbiegen und nach dem Weideplatz am Fuß des Gebirges reiten, als die Klänge von den Halsglocken der Kamele an sein Ohr drangen und ihn unwillkürlich aufhorchen ließen. Der Klang dieses Glockenspiels dünkte ihm reiner und melodischer, als er ihn je gehört. Je nach den launischen Stößen des leichten Abendwindes hörte er ihn bald stärker, bald schwächer; er konnte kaum der Versuchung widerstehen, der Karawane entgegenzureiten.
Aber er hatte einen Auftrag auszuführen. Die Sonne war eben im Westen untergegangen. Er bog vom Weg ab und trabte aufs Gebirge zu. Tsagan bellte und sprang der Karawane entgegen. Als Tsangpo trotzdem weiterritt, kam der Hund in voller Karriere zurück, bellte und tanzte vor dem Kopf des Pferdes, flog aber dann wieder pfeilgeschwind auf die Karawane zu. Nachdem das Tier das noch einmal getan, wunderte sich Tsangpo, was er wohl meinte. Er kehrte wieder nach der Karawane um.
Einige Augenblicke später ritt er in einer Staubwolke an die Fremden heran. Es waren nur ein halbes Dutzend Reiter und etwa zehn beladene Kamele. Groß war seine Überraschung und Freude, als er in dem vordersten Reiter, der in einen Lamapelz und Baschlik gehüllt war, den alten Prior des Klosters in Jehol erkannte.
»Friede sei mit dir, Tsangpo Lama!«, rief der Prior. »Es freut mich zu sehen, daß wir nicht zu spät gekommen sind. Aber welch wunderbarer Zufall hat es so geführt, daß gerade du der erste bist, der mich am Sammelplatz der Pilger willkommen heißt?«
»Sei gegrüßt, Vater! Weder ich noch sonstwer in der Lagerstadt hat dich erwartet. Ich reite hinaus, um die Kamele und Pferde hereinzuholen, die den Pilgern meines Stammes gehören. Morgen brechen wir auf. Du wirst nicht von dieser Reise ausruhen können; denn ich glaube, daß du uns nach Tibet begleiten wirst. Die Zugordnung ist bereits festgesetzt. Ich hoffe, daß nichts dich hindern wird, mit den Tsacharen zu reisen.«
»Die Pilger aller Stämme in unserer Gegend waren bereits aufgebrochen, als der Kaiser mich fragen ließ, ob ich nicht bei dieser wichtigen Gelegenheit Taschi-lunpo und das Grab des Heiligen wiederzusehen wünschte. Ich antwortete sofort mit ja und brach binnen vierundzwanzig Stunden auf. Wie du siehst, sind zwei von deinen alten Freunden bei mir, Schagdur-Lama und Tundup Lama. Mit Freuden schließen wir uns deinem Stamm an. Ich vermute, die ersten Tagemärsche werden kurz sein, und Ruhe bekommen wir mehr als genug im Kloster von Kumbum und an den Ufern des Koko-nor.«
Tsangpo Lama begrüßte seine Kameraden aus der Klosterzeit und beschrieb genau den Lagerplatz der Tsacharen. Dann ritt er spornstreichs nach den Weideplätzen und brachte die Kamele, Pferde und Schafe seiner Stammverwandten in die Nähe von Wangjefu, noch bevor die Nacht völlig hereingebrochen war.
Der alte Prior war inzwischen von den Häuptlingen und Mönchen der Tsacharen ehrfurchtsvoll empfangen worden. Alle freuten sich, in ihre Karawanenabteilung einen so vornehmen Prälaten aufnehmen zu können.