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Verklungen war der laute Jubel, verklungen waren die Musik und die Trauergesänge und der brausende Lärm der Hauptstadt, und Dortsche kehrte nach dem Steppen seiner Kindheit zurück, wo Kummer und Sorge nicht gediehen, wo ein ferner Horizont beständig zu Abenteuern lockte.
Die Tsacharmongolen wohnten in Zeltlagern zerstreut in der Steppe. Sie hatten Pferde, Kamele und unübersehbare Herden von Schafen, Ziegen und Hornvieh. Im Westen waren ihre nächsten Nachbarn die Tumedstämme. Im Osten reichten ihre Weideplätze bis zum Flusse Schandu-gol, im Süden bis zur Großen Mauer, deren gewaltige Steinmassen sich, so weit das Auge reichte, auf Kämmen und Höhenzügen erhoben. Nach Norden breitete sich das endlose Grasland, hier und da unterbrochen von jedes Pflanzenwuchses baren Wüstenstrecken; nach den sibirischen Wäldern zu hatten die Chalchamongolen ihre Weideplätze. Wegen ihrer Herkunft von Dschingis Chan und Kublai Chan waren die Tsacharenfürsten stolz und selbstbewußt. Mehr als einmal hatten sie China Widerstand geleistet; aber schon ehe die Mandschu im 17. Jahrhundert das Reich erobert hatten, waren die meisten von ihnen getreue Vasallen der neuen Dynastie.
Seine ersten Schritte hatte Dortsche um das schwarze, runde Zelt seiner Mutter herum getan, hinter dessen äußersten Pflöcken die große unbekannte Welt sich ins Weite dehnte. Mit den Jahren erweiterte sich sein Gesichtskreis. Im Alter von drei Jahren hatte er ein kleines langhaariges Mongolenpferd zügeln gelernt, und von seinem Sattel aus hatte er immer weiter hinausgeschaut über die flachen Geländewellen.
Frühzeitig hatte er erkannt, daß die Tsacharen nicht die einzigen waren, die mit ihren Herden die Grasflächen durchstreiften. Bald merkte er sich die Namen der Stämme in immer größerem Umkreis. Oft kamen Häuptlinge und Reiterscharen zur Jurte seines Vaters, an deren Eingang zwei bewimpelte Lanzen in den Boden gerammt waren. Er wuchs heran bei Pferdegetrappel, Reiterspielen und Gastmählern und bestaunte die Pracht, die bei Hochzeitsfesten entfaltet wurde. Nie konnte er genug hören von den Beschwörungskünsten und der Zauberei der Schamanen und ihrer Gabe, aus dem Vogelflug und den Schulterblättern der Schafe kommende Dinge zu deuten. Entzückt lauschte er den Erzählungen von den Geistern seiner Vorfahren, die als unsichtbare Schatten freundlicher Hausgötter das Lager umschwebten; ihre an der Zeltwand aufgestellten Bilder aus Filz und Tuch nahmen die Opfergaben der Nachkommen entgegen.
Keiner lauschte mit größerer Spannung den Märchenerzählern in ihren dramatischen Schilderungen aus vergangenen Zeiten. Wie ein Märchen klang der Bericht von den Tagen des Glanzes, da der gewaltige Temudschin aus dem Geschlecht der wilden Tataren an den Ufern des Onon die kriegerischen Stämme der Mongolen und der Oirad unter der neunzüngigen Fahne sammelte und alle Völker zwischen dem Gelben und dem Schwarzen Meer von den frostigen Nebeln des Eismeers bis zu den lauen Wogen, die Indiens Küsten umrauschten, seiner Herrschaft unterwarf. Wie ein Orkan klang in Dortsches Ohren das Brausen der unübersehbaren Reiterscharen und der Lärm ihrer Bogen, Pfeile und Lanzen und ihrer Schilde aus gehärteter Ochsenhaut.
»Hört!«, rief der Erzähler. »Als eines Tags der Großchan, siebzigjährig und müde, durch Ordos ritt, kam Botschaft von der Geisterwelt, daß das Maß seines Lebens erfüllt sei. Sein Leib wurde in einen silbernen Sarg gebettet, der unter ein Zelt aus gelber Seide gestellt wurde. Wo man auch gesucht hat, niemand hat seine Überreste wiederfinden können. Das Inschangebirge, der Thron des Dschingis Chan, birgt in seinen Grotten die Haufen von Gold und die Schätze, die der Eroberer auf seinen Feldzügen gesammelt hat. Gelänge es jemand, sie zu entdecken, ein Blitzstrahl des Himmels würde ihn treffen.«
Wenn die Abendröte über der Steppe glühte, glaubte Dortsche einen Widerschein von brennenden Dörfern und blutigen Schlachtfeldern zu sehen, und die Nomaden fürchteten, die Geister der Luft könnten kommen und für die Toten Rechenschaft fordern.
Dortsche liebte die Steppe und ihre beständig wechselnden Stimmungen, ihr warmes Sommerlicht, ihren schwarzblauen Winterhimmel mit dem Glanz zahlloser Sterne über dem Schnee. Die Wüste Gobi mit den im Winde wandernden Dünen schien ihm ebenso zaubervoll und unergründlich wie die rätselhaften Gefilde der Seelenwanderung, von denen er herumstreifende Bettelmönche hatte erzählen hören.
Er war ein Kind der Steppe und mit ihrem Leben vertraut wie die Antilopen. Wo dem Fremden der Boden eben erschien wie ein zugefrorenes Meer, erkannte er die leichtesten Senkungen und die flachsten Erhebungen. Er bemerkte die verschiedene Färbung des Erdbodens und die wechselnde Dichte des Steppengrases. Er kannte die Flugbahnen der Wildgänse und die Pfade, auf denen die Dseren-Antilopen rasch und leicht wie Wolkenschatten dahinflogen. Hörte er in der Ferne Hundegebell, so wußte er, welche Nomaden in der Umgegend ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Ritt er durch Gebüsch und stachliges Dickicht, an dem Zeugfetzen und Kamelhaarbüschel hängengeblieben waren, so konnte er sagen, vor wieviel Tagen die Karawane vorübergezogen und zwischen welchen Rastplätzen sie gewandert war.
Die Graslandflächen genügten jedoch dem jungen Mongolen nicht. In Gedanken durchstreifte er auch die Geisterwelt und fing gierig alles auf, was gelehrte Lamas und wandernde Mönche aus der Welt des Verborgenen zu berichten wußten. Seiner religiösen Veranlagung war der unwiderstehliche Wunsch entsprungen, dem Einzug des Taschi-Lama in Peking beizuwohnen. Die tiefen Eindrücke, die er dort erhalten, reiften in den zwei Jahren, die seit seiner Rückkehr in die Heimat verflossen waren. Und als ins Zeltlager der Tsacharen eines Tags die Nachricht gelangte, die Seele des Taschi-Lama habe, nachdem sie achtzehn Monate auf dunkeln Pfaden umhergeirrt sei, eine neue irdische Ruhestätte gefunden und sei in einem Knaben aus Lhasa wiedergeboren, beschloß Dortsche, als Pilger den Wohnsitz der neuen Wiedergeburt aufzusuchen.
Vorher aber wollte er seine Kenntnisse der Lehre vertiefen, die das Grasland und das Schneeland, die Mongolei und Tibet, beherrschte. In einem Kloster wollte er die Würde eines Lama erwerben. Sein Vater, der bereits einen Sohn dem Kloster geopfert hatte, versuchte ihn auf andere Gedanken zu bringen und wünschte, ihn in der Reiterschar des Roten Banners zu Ehren und Ansehen emporsteigen zu sehen. Dortsche aber ruhte nicht, bis er vom Vater die Erlaubnis erhalten hatte, in den »Tempel des felsenfesten Glücks und des hohen Alters« in Jehol als Novize einzutreten.
* * *
Am Dalai-nor, fünf Tagereisen nordöstlich von Dortsches Heimat, hatte der reiche Mongole Sonam seine Zelte, und nicht weit davon weideten seine Kamele.
Durch Auslese und Kreuzung schnellfüßiger baktrischer Rennkamele hatte Sonam eine Rasse herangezüchtet, die wegen ihrer ausgezeichneten Eigenschaften weit berühmt war und von den umwohnenden Fürsten hochgeschätzt wurde. Als Zuchttiere benutzte er nur solche, deren Stammbäume durch Generationen zurückverfolgt werden konnten und deren Vorfahren von den Ufern der Wolga und des Indus in das Zeltlager des Großchans Kunde von neuen Eroberungen gebracht hatten. In der ganzen östlichen Mongolei gab es keine besseren Renner als die Sonams. Sie waren höher, magerer und kräftiger gebaut als die Karawanenkamele, und nur reiche Mongolen besaßen die Mittel, sie zu kaufen.
Sonam hatte mehrere Söhne und eine Tochter Dolma. Fünfzehn Jahre alt, schön, keck und mutig, war sie weithin berühmt im Lande um den Dalai-nor. Sie haßte das Leben, das die Nomadenfrauen führten. Schafe und Ziegen melken, Butter und Käse, saure Milch und Kumyß bereiten war ihr zuwider. Sie verachtete das eingeschlossene Leben im Frauenzelt und überließ es ihrer Mutter und deren Dienerinnen, Wollstoffe zu Kleidern und Decken für die Jurten zu weben. Die Freiheit der Steppe war ihr Leben. Sie liebte die Sonne, die Sterne, den Sturm, und ihre höchste Lust war, schnell wie der Wind auf ihres Vaters vortrefflichsten Läufern über das Gras zu jagen. In ihrem harten, lederbesetzten Sattel saß sie wie angegossen zwischen den Höckern des baktrischen Kamels, und kein Jüngling vom Stamme der Barinmongolen ritt schöner als sie, kein Reiter paßte sich den schnellen wiegenden Bewegungen geschmeidiger und sicherer an als Dolma. Dank ihrer Herrschaft über die königlichen Tiere, ihrem festen Willen und ihrer Energie hatte sie sich von ihrem Vater die Oberaufsicht über alle Kamele erzwungen. Die Herden litten nicht darunter, und Sonam verlor nichts dabei. Die Hirten, die Dolma unterstellt waren, gehorchten ihr blind. Sie verteilte die Weideplätze für die Kamelhengste und -stuten, bestimmte die Auslese bei der Paarung und verstand sich auf zärtliche Pflege der Füllen.
Den widerspenstigsten, wildesten Kamelhengst vermochte Dolma zu bändigen und seine Launen völlig zu brechen. Einige waren schwer zu zähmen, und es war lebensgefährlich, ihnen nahezukommen. Besonders in der Brunstzeit brauchten sie nur einen ihresgleichen zu sehen, um sofort einen Kampf zu beginnen, der oft mit dem Tode des einen endete. Im Freien wurden sie mit eisernen Ketten getüdert. Dolmas Rufen gehorchten sie aber und verstanden ihr Pfeifen. Sie kamen, sobald sie rief, und sie nahm ihren zottigen Kopf zwischen ihre braungebrannten Hände und liebkoste ihre Augen. Auch im Winter, wenn sie ihren schweren Schafpelz trug, konnte sie sich mit Leichtigkeit auf ein stehendes Kamel schwingen. Durch einen Zischlaut brachte sie das Tier dazu, seinen Hals so tief zu senken, daß sie mit dem linken Fuß ihm auf den Nacken steigen konnte. Dann hob das Kamel den Hals wieder und gab dem Mädchen damit einen Schwung, der sie auf den Rücken des Tieres brachte; sie drehte sich dabei hurtig um und kam richtig zwischen den Höckern zu sitzen.
Es war eine Lust zu sehen, wie sie eine Kamelherde von einem Weideplatz nach dem andern trieb. Durch laute Zurufe hielt sie die Tiere in einem Haufen beisammen, den sie am Auseinanderlaufen hinderte, indem sie von einer Seite zur andern sprengte. Bald ritt sie ein Lieblingskamel, bald saß sie zu Pferd. Die Hirten hatten kaum mehr zu tun, als auf das Zelt und sein Zubehör zu achten. Am Ziel angekommen, brachte sie durch neue Rufe die Herde dazu, haltzumachen; mit einem Sprung stand sie auf dem Boden und ließ dann ihre Schützlinge sich auf der Weide tummeln.
Um ein solches Mädchen zu werben, war für Nomadensöhne von einfacher Herkunft aussichtslos. Die Mitgift an Schafen, Silber und Pelzwerk aus Peking, die Sonam als Entgelt für Dolmas junge, kräftige Glieder und ihren frischen Mut forderte, konnte nur von Fürstensöhnen aufgebracht werden. In diesem Punkt war sie derselben Meinung wie der Vater. Aber sie war stolz und eigensinnig genug, nicht seinem Rat zu folgen und sich bei der Wahl das entscheidende Wort vorzubehalten.
* * *
Als Dortsche im Begriff stand, von seinem Heim Abschied zu nehmen und nach Jehol aufzubrechen, beschloß sein Vater, einen letzten Versuch zu machen, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Er wandte sich an seine Sterndeuter und Medizinmänner, um ihren Rat einzuholen. Sie sagten:
»Dein Sohn hat sich bisher nicht rühren lassen von den lockenden, heißen Blicken, die die Steppenschönheiten ihm zugeworfen haben. Aber er hat noch nicht Dolma, die Tochter des Barinmongolen Sonam, im reifen Alter gesehen. Schicke ihn mit einem Auftrag an den Dalai-nor. Vielleicht erliegt er ihrer entzückenden Anmut.«
Insgeheim wurde ein Bote nach dem Dalai-nor geschickt. Sonam war leicht zu gewinnen. Die Verbindung war ehrenvoll und die Mitgift fürstlich. Kam Dortsche einst am Hochzeitstag mit einem glänzenden Gefolge, um Dolma nach Landesbrauch aus ihrem Zelt zu rauben, so stieg das Ansehen Sonams und des ganzen Stamms. In der Hochzeitsnacht sollten hohe Feuer vor dem Zelte brennen und die Gäste sich an Kumyß, an gegorener Pferdemilch, berauschen.
Sonam wußte, was er zu tun hatte. Vor dem stillen, ernsten Fremdling sollte Dolma in ihrer ganzen wilden Schönheit erstrahlen. War sie wie eine Braut mit Ohrgehängen und goldnem Diadem geschmückt und trug sie ein schimmerndes Seidenkleid, dann mußte der grüblerische Jüngling sie bemerken. War er nicht von Stein, dann mußte er ihrer Schönheit erliegen. Und trafen Erke Norvo Chans Berechnungen zu, so sah er den Sohn bald als Herrn über Zelte und Herden im herrlichen Grasland, und das Kloster in Jehol hatte einen Bruder verloren.
Erke Norvo Chan rief seinen Sohn und sprach zu ihm:
»Morgen reist du nach Jehol. Du hast in allem deine Freiheit und bleibst als Lama im Kloster, solange es dir gefällt. Du reist aber über den Dalai-nor und kaufst für meine Rechnung fünf Kamelhengste von der schnellfüßigen Rasse. Diener werden dich begleiten und sie hierherbringen. Und du wirst prächtig auftreten an der Spitze einer Reiterschar auf reichgeschirrten Rossen.«
Dortsche vollendete seine Ausrüstung, nahm Abschied von Vater und Stammverwandten und ritt mit seinem Gefolge nach dem Dalai-nor.
Am Tage vor seiner Ankunft ließ Sonam seine Tochter von der Kamelweide in die Zeltstadt rufen.
»Heute erwarte ich deinen auserkorenen Bräutigam. Er ist ein Fürstensohn aus dem Stamm der Tsacharen. Leg dein Feiertagsgewand und deinen Schmuck an.«
In demselben Augenblick kam einer von Sonams Dienern vor das Zelt geritten und meldete:
»Im Südwesten ist eine Reiterschar zu sehen. Sie wird hier sein, ehe der Schatten deiner Lanzenspitze zwei Hände breit nach Osten gerückt ist.«
Dolma warf stolz den Nacken zurück und sagte:
»Kann ich ihn nicht ohne Seide aus Peking und ohne goldenes Diadem vom Dolon-nor gewinnen, so mag er meinetwegen seiner Wege gehen, wohin er will.«
Der Sonnenschatten war bereits eine Handbreit nach Osten gewandert, als Dolma auf einen Hügel in der Nähe des Lagers hinaufeilte. Es war ein wolkenloser Spätsommertag mit schwachem Wind. Sie trug einen dünnen, leichten tibetischen Ziegenpelz. Das seidenweiche, kreideweiße Haar war nach innen gekehrt. Die milchweiße Außenseite war nicht mit Stoff besetzt. Eine Öse um einem silbernen Knopf hielt den Pelz über der rechten Achsel geschlossen: an den Seiten war er fast bis zur Mitte geschlitzt, damit er beim Reiten nicht hinderte. Den Leib umschloß ein grauseidener Gürtel. Wie die Männer trug sie Beinkleider und Stiefel aus weichem Leder mit aufwärts gebogener Zehenspitze und roten Stickereien. An der linken Seite führte sie ein Messer in einer Scheide, einen Feuerstahl, ein Pulverhorn und einen Beutel mit Bleikugeln. Das Haar war in zwei Zöpfe geteilt, die unten einfacher Silberschmuck zusammenhielt. Ihr Gesicht war frisch und wohlgeformt, die Haut fast braun, der Blick stolz und selbstbewußt, aber auch fröhlich und träumerisch, nicht schwermütig und melancholisch wie bei den Frauen in den tibetischen Bergen. Sie hatte einen schönen, freien, anmutigen Gang, nicht wiegend und ungeschlacht, wie das bei den beständig reitenden Bewohnern des Steppenlandes sonst gewöhnlich der Fall war.
Als sie auf der Anhöhe stand, knöpfte sie den Pelz auf, ließ die Ärmel am Rücken herabfallen, erhob ihren nackten Arm und hielt die Hand schützend über die Augen. Die Reiterschar kam näher. Ihr Busen hob sich nicht schneller als sonst. Sie betrachtete die Freierfahrt der Tsacharmongolen mit eiskalter Ruhe. Als sie so nahe gekommen warm, daß das Brüllen eines Kamels in stiller Winternacht zu hören war, ging sie langsam zu ihrem Zelt hinab.
Sonam hatte die Vornehmeren seiner Stammverwandten eingeladen. Mit ihnen trat er aus dem Zelt, als die Reiter herangesprengt kamen. Dortsche war ähnlich gekleidet wie beim Einzug des Taschi-Lama in Peking. Nach den Begrüßungen und den üblichen Fragen nach dem Ergehen der Menschen und Herden, lud Sonam den Gast und sein Gefolge in seine Jurte. Man gruppierte sich auf den Teppichen um den Herd. Auf silbernen Schüsseln mit Porzellandeckeln wurde Tee in Tassen aus chinesischem Porzellan aufgetragen und vor den Gästen auf die Teppiche gestellt. Dolma trug noch immer den weißen Pelz ohne allen Schmuck.
Dortsche konnte nicht umhin, auf ihren anmutigen Gang, ihre geschmeidigen Bewegungen und ihr frisches Lachen zu achten. Dolma aber fühlte sich vom ersten Augenblick an überwunden und bereute, daß sie nicht ihr Feiertagskleid angelegt hatte. Sie fühlte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Er saß still und ernst auf den Kissen des Ehrenplatzes dem Eingang gegenüber, wo sie stehengeblieben war und mit den Silberketten ihres Geschmeides spielte. Berauscht von seiner männlichen Schönheit, konnte sie sich nicht enthalten, ihm feurige Blicke über die Herdglut hinweg zuzuwerfen. Er bemerkte den Bann, in dem sie sich befand. Mit einem Wort konnte er sie gewinnen. Er kämpfte einen harten Kampf gegen die Versuchung, um eines Weibes willen seinem Beruf untreu zu werden.
»Wo weiden deine schnellfüßigen Kamelhengste, Nachbar?« fragte er Sonam. »Ich habe keine Zeit, länger in deinem Zelte zu verweilen.«
»Hast du keine Zeit, uns einen Tag zu opfern, da du doch ein ganzes Leben hinter Klostermauern vor dir hast? Nun wohl, der Gast ist heilig! Seit gestern warten die Kamele auf dich. Führe sie vor, Tochter!«
Dolma hob den Vorhang am Zelteingang und verschwand. Bald darauf vernahm man draußen die gurgelnden Laute der Kamele. Sonam stand auf und ging hinaus, mit ihm Dortsche und die andern Mongolen. Die Hirten führten die hohen, dunkelbraunen baktrischen Kamele heran. Ihr Körper war nur mit einem feinen Flaum bedeckt, der im Laufe des Jahres zu dichter schwarzer Winterwolle werden sollte. Alle trugen rote, unter dem Bauch fest zugezogene Satteldecken. Die Köpfe waren zu beiden Seiten mit runden Garnbüscheln geschmückt, die Hälse mit Schellenkränzen. Eins nach dem andern wurde am Halfter an Dortsche vorübergeführt, der in der ersten Reihe der Mongolen stand.
Als das letzte Kamel mit leichten, tanzenden Schritten vorübertrippelte, eilte Dolma nach vorn, nahm dem Hirten den Riemen des Halfters aus der Hand, zwang das Tier, den Nacken zu senken, und schwang sich zwischen die Höcker hinauf. Sie ließ ihre Gerte durch die Luft sausen und einen grellen Pfiff ertönen. Die Augen des Kamels blitzten auf. Seine Nasenlöcher erweiterten sich. Es spannte seine Muskeln an, senkte den Hals und schien sich vornüber in die Steppe zu stürzen. In rasender Geschwindigkeit ritt Dolma einen weiten Bogen. Sie hatte weder Sattel noch Steigbügel, saß aber wie mit dem Renner verwachsen. Dortsche hatte noch nie jemand so reiten sehen. Er stand wie verzaubert. Die Versuchung kam wieder. Würde er stark genug sein, diese herrliche Freiheit mit der Gefangenschaft in einem Kloster zu vertauschen? Sie ritt wie eine Amazone aus der Frauengarde der alten Großchane. Sonam bemerkte das Entzücken des Gastes und lachte.
Schließlich ritt sie in gestrecktem Galopp auf Dortsche zu und hielt ein paar Schritte vor ihm so scharf, daß Sand und Erde seinen blauem Mantel bespritzten.
»Nun, kaufst du den da?« fragte sie.
Nachdem er mit einem Neigen des Kopfes ja geantwortet hatte, sprang sie ab und schwang sich, als hätte sie Flügel, auf ein anderes Kamel. So ritt sie eines nach dem andern vor, stellte immer wieder dieselbe Frage und erhielt stets dieselbe Antwort. Als sie aber das fünftemal mit Windeseile auf Dortsche zusprengte – stolz, strahlend, heiß, während der rechte Ärmel wie eine Fahne hinter ihr herflatterte – und wiederum fragte:
»Willst du das Kamel hier kaufen? Ich liebe es; ich könnte es keinem andern verkaufen als dir!«, – da dachte Dortsche:
»Wenn ich jetzt wieder ja sage, dann ist mein Geschäft erledigt, ehe die Sonne die Mittagshöhe erreicht hat. Sie verschwindet dann aus meinem Leben, und ich sehe sie nie wieder.«
Er schwankte. Die Versuchung wurde zu stark für ihn. Er vergaß seine Klosterträume und seine Pekinger Erinnerungen. Und nach einer kurzen Pause antwortete er:
»Nein!«
Lachend rief Dolma:
»Du beliebst zu scherzen, Herr! Man könnte glauben, du wärst bereits Lama, mehr in die Geheimnisse des Tempels eingeweiht als in die der Kamelzucht! Denn von den guten und schlechten Eigenschaften der schnellfüßigen Tiere hast du nicht mehr Ahnung als die Novizen am Dolon-nor. Der Hengst, der mich jetzt hoch über der Erde trägt, ist der vorzüglichste von allen. Er ist noch einmal so teuer wie die andern.«
Dortsche wurde verwirrt und antwortete:
»Du sagtest, du liebtest ihn. Ich will dich nicht eines Freundes berauben, den du vermissen würdest.«
Dolma sah still im Sattel. Sie dachte: »Hoffentlich hält er Wort in Hinsicht auf sich selbst!« Und Dortsche dachte: »Wenn sie sagt, sie wolle das Tier keinem andern verkaufen als mir, so hofft sie, daß es wieder ihr gehören soll, wenn ich sie als Braut in mein Zelt führe.«
Endlich sagte sie: »Fürst vom Stamme der Tsacharen! Du hast fünf Kamele begehrt. Hundert unserer besten Renner weiden eine knappe Tagereise von hier. Willst du mir dorthin folgen und selber wählen? Wenn es dämmert, sind wir am Ziel. Ist es dir möglich, vor Einbruch der Dunkelheit deine Wahl zu treffen, so kannst du heute nacht hierher zurückkehren. Wenn nicht, so findest du Unterkunft im Zelt der Hirten. Tu, was du willst. Kommst du aber mit, so beeile dich!«
Sie rief das Kamel wieder herbei und flog hinaus in die Steppe.