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1.
In der Hauptstadt

Noch brütete die Nacht über Peking. Die Stille wurde nur von den Wächtern unterbrochen, die, die Arme gekreuzt und die Hellebarden zu den Sternen emporgerichtet, auf der Mauerkrone auf und ab schritten. Das Bellen eines Hundes wurde von nah und fern erwidert, und von der Straße zum Nankou-Paß klang das taktfeste Klingeln der Glocken von Karawanentieren herüber; Kamele zogen dort aus der Mongolei, aus Turkestan und aus den Ländern im fernen Westen, bis zu denen vor einigen Jahren die Heerführer des Kaisers von China die Grenzen des unermeßlichen Reiches ausgedehnt hatten. Peking schlief. Das schwache Brausen, das von den Häusern aufstieg, kam von dem Rauschen des Nachtwindes in den Baumkronen.

Die Soldaten gähnten und richteten sehnsüchtige Blicke nach Osten. Graute nicht bald der Tag und schlug die Ablösungsstunde?

Endlich! Es dämmerte! Die Schatten wichen. Der Tag brach an. Das Brausen unten in der Stadt war nicht mehr das Rauschen des Winds; es kam von Menschen, die an ihre täglichen Geschäfte gingen. Immer schärfer traten die langen, geraden Linien der Stadtmauer, ihre Basteien und Türme hervor. Von der mittelsten Torfahrt klang ein knarrendes Geräusch herauf – die Tore wurden geöffnet. Die Karawanen hielten ihren Einzug in Peking.

Noch war die Sonne nicht sichtbar. Aber die eiförmige Spitze auf dem obersten runden Dach des Himmelstempels, die aussah wie der Knopf auf einem Mandarinenhut, erglomm plötzlich wie glühendes Gold. Feuern gleich entflammten eine nach der andern die Spitzen des Glocken- und des Trommelturms, der riesenhaften Turmbauten der Stadtmauer, der Pagoden und Tempel und die goldnen Dächer der kaiserlichen Residenz in der Verbotenen Stadt. Im Westen leuchtete das Gebirge gelbrot. Langsam sanken die Schalten an den Mauern hinab. Wie ein funkelnder Diamant hob die Sonne ihren Rand über den Horizont.

Peking und seine Umgebung schwimmen im Morgenlicht. Alles wird Farbe und Leben. Die eben noch in gleichmäßiges Grau getauchte Mauer tritt in warmen, rotgelben Tönen hervor. Eingebettet in dichtbelaubte Gärten und Parke zeigt sich ein Wirrwarr von gelben und braunen Dächern, von blutroten Tempeln, von geschnitztem Hausfassaden, von schlanken Straßentoren aus Holz mit vorspringenden, aufwärts gebogenen Dächern, von vornehmeren Häusern mit Altanen und Galerien, von Läden und Magazinen mit langen, senkrecht herabhängenden roten Schildern, deren schwarze Buchstaben die Kauflust der Menge reizen.

Das Brausen schwillt an und verschmilzt zu einem einzigen Ton. Zu beiden Seiten der Straßen werden Läden und Buden geöffnet. Die Auslagen der Marktstände bedecken sich mit Waren und werden mit malerischen Sonnenschirmen überspannt. Vor den Wirtshäusern, aus deren Küchen der Dampf warm und duftend in die Höhe steigt, werden Tische aufgestellt. Die Töpfer ordnen ihre irdenen Gefäße, und vor den Läden der Gemüsehändler halten schon Karawanen von Maultieren und Eseln, die von den Dörfern hereingekommen sind.

Das Gedränge nimmt zu. Ein Strom von Menschen bewegt sich die Hauptstraße auf und ab. Vor jedem Tisch sammeln sich Leute an. Man handelt, man feilscht und schreit. Mit selbstbewußter Würde schreiten Mönche und Priester verschiedener Glaubensbekenntnisse durch die Menge. Vornehme Kaufleute eilen in ihre Geschäftsräume. Hohe Mandarine und Beamte in Uniform schaukeln in Sänften vorüber. An einer Ecke steht ein Zauberer und führt einem Haufen Neugieriger seine Künste vor. Aus einer andern Ecke erklingt die durchdringende Stimme eines Märchenerzählers, und dort reizt ein Marionettentheater sein Publikum zu Gelächter. Neben einem Bäckerladen, wo frische Pasteten auf einem Eisenblech rauchen, stutzt ein Barbier seine Kunden zurecht.

Hier kommt ein Hausierer; auf der Achsel balanciert er geschickt eine Bambusstange, an deren Ende seine Körbe hängen. Er bläst in ein Horn, um anzukündigen, was er zu verkaufen hat; andere preisen ihre Waren mit einer Klingel, einem Gong oder mit ein paar Kastagnetten an.

Auf dem Fahrdamm wirbeln ländliche, von Pferden, Maultieren oder Ochsen gezogene Karren den Staub auf; sie fahren Getreide in die Stadt. In kleinen, zweirädrigen Wagen, die ein gewölbtes Dach aus blauem Tuch überspannt, sitzen vornehme Herren und Damen. Muskelstarke Männer schieben einrädrige Wagen mit Wasser wie Schubkarren vor sich her und weichen geschickt Karawanen, Reitern und Trägern aus.

Um die Mittagszeit gewann das Bild ein neues Aussehen. Die Läden wurden geschlossen, aber das Volksgedränge nahm zu. Schaulustige sammelten sich auf Straßen und Hausdächern, und auf der breiten Stadtmauer wimmelte es von Leuten. Von Dienern mit aufgespannten Sonnenschirmen begleitet zogen Mandarine in Wagen und Sänften zur Stadt hinaus. Eine festliche Stimmung herrschte an diesem Tag – es war Ende August 1779 – in Peking. Kaiser Kienlungs Gast sollte durch das Südtor seinen Einzug halten!

Alle hatten seinen Namen mit Andacht und Ehrfurcht nennen hören. Aber wer war dieser Mann, der die Gemüter der Menschen so in Wallung bringen und der durch sein bloßes Erscheinen größere Scharen herbeilocken konnte als selbst der Kaiser, wenn er von einer Heerfahrt oder einer Jagd zurückkehrte.

Von den Tibetern wurde er Pantschen Rinpotsche oder Taschi-Lama genannt, von den Mongolen Pantschen Erdeni. Er war eine Wiedergeburt des um die Mitte des 14. Jahrhunderts in der Nähe des heutigen Klosters Kumbum geborenen Reformators Tsongkapa, der seinerseits die Wiedergeburt des Schutzgotts Amitabha gewesen war. Von frühester Kindheit an war der jetzt zweiundvierzigjährige Taschi-Lama Großlama im Kloster Taschi-lunpo in Südtibet gewesen.

Vor mehreren Jahren hatte der Kaiser ihn dringend eingeladen, an seinen Hof zu kommen. Der Taschi-Lama hatte aber beständig neue Ausflüchte gesucht, er hatte die Minderjährigkeit des Dalai-Lama vorgeschützt und die Verantwortung für das religiöse Leben an den heiligen Stätten, die er nicht ohne weiteres so lange verlassen könne. Doch der Kaiser wurde nicht müde, ihn einzuladen. Nichts sollte versäumt werden, ihm die Reise so bequem wie möglich zu machen. Sogar neue Gasthöfe sollten an den Straßen erbaut werden!

Schließlich gab der Großlama nach. Mit einem Gefolge von fünfzehnhundert Soldaten, unzähligen Mönchen und Dienern brach er im Sommer 1778 auf. Seine Reise ging nach dem Kloster Kumbum, in dem er überwinterte. Aus Nomadenlagern strömten auf unbekannten Pfaden hungernde und dürstende Seelen herbei, um mit den Stirnen seinen Fuß zu berühren. Er wurde mit Geschenken überhäuft, mit Kamelen, Pferden, Maultieren und klingendem Silber.

Im Frühjahr 1779 ging der gewaltige Zug weiter durch Amdo und Nordchina, und im Juli hielt der Großlama seinen feierlichen Einzug in Jehol, der Sommerresidenz der Mandschu-Dynastie.

Eine 17 Li, also 7½ Kilometer, lange und drei Mannslängen hohe Mauer schützte das abgeschlossene Gebiet. Der große Kaiser Kanghi, der von 1662 bis 1722 herrschte, war der eigentliche Schöpfer. Sein Enkel Kienlung hatte Tempel und Palast vollendet und Kanäle, Brücken und Parke verbessert. Kostbare Vasen- und Gemäldesammlungen schmückten die verschiedenen Gemächer. In Teichen und Seen tummelten sich in kristallklarem Wasser Goldfische über einem Grunde, dessen Kies aus Achat und Jaspis bestand. Rehe und Antilopen weideten in Ruhe und Frieden unter Lärchen und Fichten. Dichte Eichen-, Ulmen- und Weidenhaine spendeten dem Sohn des Himmels erquickenden Schatten, wenn er von den Sorgen um das größte und stolzeste Reich der Welt ausruhen wollte.

Durch den Hauptpark im Süden zog die Prozession des Taschi-Lama bis vor den Empfangspavillon. Der Kaiser ging seinem Gast entgegen und geleitete ihn zum Thron hinauf, wo er zur Linken des Großlamas Platz nahm. Kostbare Geschenke wurden ausgetauscht, und ein Gastmahl wurde veranstaltet, wie es sich für den Beherrscher Chinas und für den Heiligen von Tibet gebührte.

In Jehol konnte sich der Großlama ganz zu Hause fühlen. Der »Tempel des felsenfesten Glückes und des hohen Alters«, den man zur Erinnerung an den siebzigsten Geburtstag des Kaisers und an den Besuch des Taschi-Lama eben vollendet hatte, war nach dem Muster von Taschi-lunpo erbaut.

Wie ein in Grün eingebetteter Blumenkranz schloß sich außerdem längs des West- und Nordrandes von Jehol ein Tempel an den andern, und von den Uferhöhen herab spiegelten einige von ihnen ihre Fassaden im Wasser des Johoflusses. In bunten Farben leuchteten ihre glasierten Dächer zwischen trauernden Zypressen und heiligen Hainen. Einige suchten in Schönheit und Pracht ihresgleichen in China. Nomaden aus dem Grasland im Norden und Westen, die zum erstenmal ihre Streifzüge bis nach Jehol ausgedehnt hatten, erstaunten, als sie all diese Pracht und Herrlichkeit erblickten, und sie glaubten sich nach den seligen Wohnungen versetzt, wo Buddha in ewiger Ruhe träumt. So band der Kaiser die Treue der Mongolen an sein Zepter.

Prinzen und Priester führten den hohen Prälaten von einem buddhistischen Heiligtum zum andern. Im Süden, am linken Flußufer, konnten seine Augen sich an dem Tempel der »allgemeinen Menschenliebe« ergötzen, einem Geschenk mongolischer Fürsten zur Erinnerung an die sechzig Jahre des unsterblichen Kanghi. Auf einer Tafel im Grundstein des Tempels hatte der Sohn des Himmels selbst die Worte einmeißeln lassen:

Wahrlich, wunderbar in seiner Schöne
Träumt des Johoflusses Strand.
Hohe Geister segnen dich, der
Mauer und der Grenze Heimatland.

Auf einer Anhöhe am Flußufer hatte Kienlung vor dreizehn Jahren den »Tempel der alles durchdringenden Freude« errichtet, der die Erinnerung an die Unterwerfung der Dsungaren verherrlichte. Hier standen auf den Tafeln der Eingangspforte kurze, kräftige Kernsprüche in den Sprachen der Mandschu, der Chinesen, Mongolen und Tibeter, und die vornehmste Tempelhalle schmückte das Bild des Buddha.

Das Staunen des Großlamas erreichte den Höhepunkt, als er das Kloster betrat, das den Namen Potala führte und ein getreues Abbild der Residenz des Dalai-Lama in Lhasa bot.

Auf seiner Terrasse erhob es sich elf Stockwerke hoch, und ganz oben thronten fünf Pagoden. Achthundert Mönche hatten ihre Freistatt in diesem Gotteshaus, das auch der Erinnerung an kaiserliche Jahrestage und siegreiche Feldzüge geweiht war.

Nach einem Monat nahm der Kaiser von seinem Gast Abschied und begab sich zu den Gräbern seiner Vorfahren in Mukden. Gleichzeitig brach der Taschi-Lama auf, um die letzten Tagereisen seiner langen Fahrt zu vollenden. Mit jedem Tag rückte der stolze Einzug in Peking näher, dessen Bewohner mit Ungeduld des Tages harrten, da sie einen Schimmer erhaschen durften vom Angesicht des Heiligen, das strahlend leuchtete wie die Götter der alten Sagen.

Von Jehol bis Peking standen unübersehbare Menschenmassen an der Landstraße. Je näher die Prozession der Hauptstadt kam, um so dichter drängte sich das Volk. Ja sogar die überwölbte Einfahrt des südlichen Stadttors, durch das der Zug in Peking einziehen sollte, wimmelte von Zuschauern.

Mit der Geschmeidigkeit eines Kätzchens war Dortsche, ein fünfzehnjähriger Mongolenknabe, auf Vorsprüngen und Unebenheiten in den Steinfugen bis zu einer nischenförmigen Einbuchtung in der Gewölbemauer emporgeklettert. Niemand beachtete ihn, niemand machte ihm seinen Platz streitig. Über die Lanzen und Standarten der Wachtsoldaten hinweg hatte er die schönste Aussicht nach beiden Seiten, und neugierig betrachtete er den wogenden Menschenstrom.

Das Brausen von tausend Stimmen drang zu ihm hinauf, ernst, flüsternd, gedämpft, nicht laut wie im geschäftigen Alltag. Wie oft hatte nicht schon Dortsche als Kind seinen Vater und seine Stammverwandten vor der Großen Mauer von Pantschen Erdeni, dem »Lehrer«, reden hören und sein Bronzebild in den mongolischen Tempelhallen gesehen! Und nun nahte der Augenblick, da er ihn in der Entfernung von wenigen Armlängen von Angesicht zu Angesicht schauen sollte!

Dortsche entstammte einem vornehmen Fürstengeschlecht vom Stamm der Tsacharen, der in gerader Linie seine Ahnen vom Welteroberer Dschingis Chan herleitete. Er hatte deshalb eine strengere, ritterlichere Erziehung genossen, als sonst bei den Nomaden üblich war, und er war seinen Altersgenossen aus andern edeln mongolischen Geschlechtern im Denken und Wissen weit voraus. Der Zauber der Steppe hatte seine Seele erfüllt und seinen Sinn für das Übernatürliche empfänglich gemacht. Vor der Lehre Buddhas in der Form, wie sie Ostasien und Tibet beherrschte, hegte er tiefste Ehrfurcht, und oft hatte er die Winterabende im Zelt der Rede frommer Lamas und Schriftgelehrter über die Inkarnationen oder Wiedergeburten und die Seelenwanderungen gelauscht. Sein Vater Erke Norvo Chan hatte ihm auch den Wunsch erfüllt, ihn nach Peking begleiten und dem Einzug des Großlamas beiwohnen zu dürfen.

Am Morgen des Festtags hatte er sich von den Seinigen getrennt, um seine eignen Wege zu gehen. Und sicherlich hatte niemand einen besseren Platz als er. Da hockte er in seiner Nische und sah auf das Volk herab. Er glaubte am Ufer eines Stroms zu sitzen, dessen Wellen aus lauter Menschenköpfen bestanden. So war der lebendige Strom durch dieses Tor geflutet und – wenn auch in weniger reißenden Wogen – durch jedes andere von Pekings dreizehn Toren, wie einst an jenem denkwürdigen Tag vor gerade fünfhundert Jahren, als der Kaiser Tiping, der letzte Sproß der chinesischen Sungdynastie, ein Achtzigjähriger, sich von dem letzten Fußbreit seines Reichs, einer kleinen Insel an der Südküste Chinas, ins Meer stürzte und alles der Gewalt der siegreichen Mongolen überließ.

Unaufhörlich wogte der Menschenstrom durch das Tor. Da waren Chinesen und Mandschu, Mongolen und Turkestaner, und Vertreter aller der Völker, die dem Reich der Mitte untertan waren.

Weshalb hatten sie alle wohl solche Eile?, fragte sich Dortsche verwundert. Sicherlich, weil sie unglücklich waren und Trost brauchten. Wie viele von diesen Tausenden mochten frei sein von Kummer, und gab es auch nur einen einzigen, der nicht um einen Toten trauerte, den er geliebt?

Plötzlich schreckte Dortsche aus seinen Träumen auf. Von der äußeren Toröffnung her erklangen durchdringende Rufe. Lange Ruten in den Händen, kam ein Trupp Soldaten langsam anmarschiert und rief: »Platz! Platz!« Eine freie Bahn sollte in der Mitte des Durchgangs offen gehalten werden.

Das Gedränge war entsetzlich. Dortsche fürchtete, sie könnten einander niedertrampeln und ersticken. Unbarmherzig jagten die Soldaten Massen von Menschen aus der Torfahrt hinaus, in die Stadt hinein. Die stehenbleiben konnten, wurden gegen die Mauern gedrängt, und Trabanten mit Hellebarden und Standarten nahmen vor ihnen Stellung, um zu verhindern, daß sie wieder die offene Bahn verstopften.

Offenbar nahte die Prozession heran. Die Spannung erreichte den Höhepunkt. Zu Pferd oder in Sänften kamen Prinzen von Geblüt und Mandarine hoher Rangklassen, alle in kostbaren Kleidern aus blauer und kirschroter Seide, von Reitern und Soldaten begleitet.

Während sie noch vorüberzogen, hörte man schon die Töne der tibetischen Klostermusik. Von dem Augenblick an, als die Musikanten in das Gewölbe einzogen, verstärkten sich die Töne durch den Widerhall, den sie weckten. Zuvorderst gingen barhäuptige Lamas in roten Gewändern; sie stießen in messingbeschlagene, zwei Mannslängen messende kupferne Posaunen, deren Mündungen auf den Schultern junger Novizen ruhten. Dumpfe, tiefe Töne entquollen den Instrumenten.

Es folgten Mönche, die mit aller Kraft Becken aneinanderschlugen. Dann kamen wieder Lamas mit schmetternden Schneckenhörnern, kreischenden Klarinetten und feierlich brummenden Trommeln, die auf hohen, geschnitzten und bemalten Stangen getragen und mit langen, schwanenhalsförmig gebogenen Trommelstöcken bearbeitet wurden, an deren Spitze ein Lederball angebracht war.

Überwältigt von den mächtigen Tönen der Musik, richtete das Volk in atemloser Spannung seine Blicke nach dem äußeren Eingang des Tors. Ein ganzes Heer zu Fuß gehender Lamas füllte den Durchgang. Zuerst kamen Novizen und dann Mönche von immer höheren Graden in der Rangskala der Lama-Hierarchie bis hinauf zu den ehrwürdigen Prälaten mit vornehmen, ruhigen Gesichtszügen. Nur diese trugen hohe gelbe helmähnliche Kopfbedeckungen. Alle übrigen waren barhäuptig, kurzgeschoren und bartlos.

Jetzt wurde in der Dämmerung der Torfahrt ein Tragsessel sichtbar, den etwa fünfzig Männer an langen Stangen auf den Schultern trugen. Er sah aus wie ein prächtig geschmückter Altar mit Einlagen von Gold und Edelsteinen.

Auf seiner Höhe thronte der Großlama. Ein gelbseidener Mantel bedeckte seine Schultern; auf dem Kopf trug er eine hohe Mitra. Die Hände hatte er auf die Knie gestützt, den Kopf etwas vornübergebeugt, und ein ständig gleiches, kaum bemerkbares Lächeln umspielte seine Lippen. Den Blick hielt er so unverwandt abwärts gerichtet, daß er zu schlummern schien. Er dachte nach. Hörte er die Musik? Sah er die Pracht und das Gedränge? Bemerkte er, wie sich das Volk zu Boden warf und ihn wie einen Gott anbetete? Nein! Er schien keine Ahnung davon zu haben, daß unübersehbare Saatfelder von Menschen, die sich draußen im Freien und hier im Durchgang um ihn geschart hatten, beim bloßen Anblick seines Gesichts wie reife Ähren vor der Sichel hinsanken.

Die barfüßigen Träger waren so gut eingeübt, daß die Bahre mit dem Thron nicht im geringsten schwankte. Sie bewegte sich die ganze Zeit auf der gleichen Ebene vorwärts – wie auf einem ruhig dahingleitenden Fluß. Die Töne der Musik waren nur noch schwach zu vernehmen; sie hatte bereits das Gewölbe verlassen, der Widerhall hatte aufgehört, der Klang erstarb.

An Dortsches Blicken zog Pantschen Erdeni wie eine Offenbarung vorüber. Wohl leuchteten das Gold und die Seide und all der gelbe Glanz, der den Thron umgab, aber vom Träumer selbst schien ein Schein auszugehen, der alles überstrahlte. Wie erleuchtet schien das Torgewölbe, das noch eben im Halbdunkel lag, und es war, als schwebe der Heilige in einem Lichtkreis vorüber, der von ihm selbst ausging.

War es Einbildung, oder warfen die Lanzen und Hellebarden der Soldaten Schatten auf die Mauer? Dortsche war's, als müßte sein Herz aufhören zu schlagen. Hätte der Großlama jetzt den Blick auf ihn gerichtet, er wäre gestorben. Als das Gesicht vorübergezogen war, schien sich die Dämmerung wieder in den Durchgang herabzusenken. Neue Scharen von Lamas, Mandarinen und Soldaten beschlossen den Zug.

Jetzt glitt Dortsche herab und schlängelte sich durch das Gedränge nach der Treppe, die auf die Höhe der Mauer hinaufführte. Auf der Westseite des gewaltigen Turmhauses über dem Tor stellte er sich in die Öffnung zwischen zwei Zinnen der inneren Brustwehr. Er kam noch zur rechten Zeit, um die ganze Prozession zu überschauen und von der Höhe aus die Musik im Zusammenhang zu hören. Posaunen und Becken blinkten in der Sonne, und die ganze bunte Pracht wogte zwischen den Häuserreihen. Der Großlama selbst war unter einem Sonnenschirm verborgen, der auf Bambusrohren über seinem Scheitel schwebte.

Überall fiel das Volk aufs Angesicht: ein Gott, nicht ein Menschensohn zog in Peking ein. Aber die Entfernung wuchs, die Prozession verschwand in der Ferne, und die Töne waren nicht mehr zu hören.

Um noch länger schauen zu können, schwang sich Dortsche auf einen der gewaltigen Steinwürfel der Zinnen hinauf, deren lange Reihe aus weiter Ferne aussah wie eine geklöppelte Spitze. Auf der quadratischen Fläche reckte er sich, so groß er war, und spähte, die Hand vor den Augen, nach Norden. Er war fast allein dort oben auf der Mauer, nachdem die Leute zu ihren späten Geschäften in die Stadt geeilt waren. Einige wenige nur ließen sich Zeit, und die Wachtposten gingen wie gewöhnlich auf und ab.

Dortsche stand hochgereckt und unbeweglich auf seiner Zinne. Er steckte die Daumen in den breiten, silberbeschlagenen Ledergürtel, der seinen Leib umspannte. Er trug einen Mantel aus dunkelblauem Tuch mit Zobelpelzkragen, auf dem Kopf eine schwarze Pelzmütze mit roter Tuchspitze. Die Stiefel waren kunstvoll aus gelbem und schwarzem Leder zusammengenäht. Vom Gürtel hing an silbernen Ketten ein Dolch herab in einer Scheide aus getriebenem Silber. Pulverhorn, Feuerstahl und kleine ornamentierte Platten, die wie Schilde aussahen, waren aus demselben Metall. Scharf von der untergehenden Sonne beschienen, erweckte er sogar die Bewunderung der Soldaten, wie er dort stand und über Peking hinblickte, als wäre es sein eigen, als beherrsche er, der Abkömmling des Dschingis Chan, noch immer ganz Asien.

Die Sonne streifte bereits den Kamm des westlichen Gebirges. Auf seinem schwarzen Schattenriß riefen ihre Strahlen ein wunderbares Farbenspiel von roten, gelben und violetten Tönen hervor, die in der Atmosphäre von feinstem Staub, den die Winde aus Steppen und Wüsten mitgebracht hatten, gedämpft wurden. Die Schatten breiteten sich wieder über dem Lande aus und stiegen die Mauer hinauf. Die warme Beleuchtung schwand allmählich. Einen Augenblick lang brannten die Drachen auf dem kaiserlichen Palast und der Knopf auf dem Himmelstempel, um im nächsten Augenblick zu erlöschen. Die eben noch so farbenfrohe Tracht des Mongolenjünglings wurde wie alles andere dunkel und tonlos auf dem Hintergrund der neuen Nacht, die aus dem Meer heraufstieg.

Nicht lange, und Pforten und Riegel wurden mit lautem Gepolter vor Pekings Tore geschoben. Aber immer noch mußten die Wächter die Menschen hereinlassen, die dem kaiserlichen Gast weit hinaus entgegengewandert waren.

Wenn diese Mauern reden könnten! Wenn das schlummernde Echo im Torweg dort unten von neuem von dem Jubel singen könnte, der den Triumphzug siegreicher Feldherren umbrauste, wenn es die Klagelieder wiedergeben könnte, die bei den Prozessionen nach den Gräbern der Mingkaiser erklangen! Zahllose Menschenschicksale! Dortsche gedachte des Schandu-gol, dessen Fluten niemals müde wurden, durch seine Heimat zu rinnen. Jeden Augenblick floß neues Wasser aus den Quellen und setzte rastlos seinen Lauf nach dem Meere fort. Aber der Strom selber blieb immer derselbe. Das Wasser war vergänglich, der Strom aber ewig.

Am Morgen hatte er einen Hochzeitszug gesehen. Inmitten der festlich gekleideten Schar war die ganze Mitgift auf Bahren mitgeführt worden. Aus der entgegengesetzten Richtung war ein Leichenzug gekommen. An seiner Spitze hatten Männer mit schwarzen Röcken und Hüten auf Stangen seltsame Sinnbilder getragen und auf Gongs geschlagen, um den Teufel zu vertreiben. Die Seele des Toten war in ein kleines, auf einer Bahre stehendes Tabernakel eingeschlossen, während die Leiche auf einem Katafalk lag, den die Diener des Toten auf den Schultern trugen. Die einen wurden geboren, die andern wurden getraut, und wieder andere wurden zu Grabe getragen. Der Menschenstrom aber blieb unveränderlich derselbe. Sein Ziel war das Nirwana der Ruhe, wohin der Taschi-Lama den Weg wußte. War nicht im Bewußtsein davon das Volk zu seinem wandernden Thron herbeigeströmt?

In der zunehmenden Dämmerung blieb Dortsche eine Weile sitzen und sah, wie Lampen und Lichter in der Stadt angezündet wurden.

Er hörte Schritte hinter sich und sah zwei hohe Gestalten. In ein lebhaftes Gespräch verwickelt, näherten sie sich mit würdevollen langsamen Schritten dem Teil der Brustwehr, wo er saß. Beide trugen chinesische Tracht. Der eine war offenbar ein gelehrter Chinese, aber die Adlernase, das schmale Gesicht und der weiße Bart des andern verrieten einen Jesuitenpater. Sie sprachen von dem großen Ereignis des Tags.

»Weshalb«, fragte der erste, »lädt der Kaiser einen Großlama nach Peking ein? Um die Treue der Mongolen zu festigen oder um die Anhänglichkeit der Tibeter zu gewinnen?«

»Mag sein« antwortete der Jesuit. »Ich für meinen Teil vermute jedoch, daß dem Kaiser vor dem vertraulichen Verhältnis bangt, das sich zwischen dem Taschi-Lama und den Christen in Indien anbahnte. Wenn diese sich der unerhörten Macht bedienen, die der Lama über die Seelen der Menschen hat, werden sie selbst mit der Zeit eine Gefahr für das Kaiserreich.«

»Und nun will er dem Lama den Puls fühlen?«

»Mehr noch! Der Lama soll nie wieder in die Lage kommen, seine Macht auszuüben. Lebend kommt er nicht in sein Land zurück!«

»Soll er als Gefangener hierbehalten werden?«

»Nein, er soll sterben. Haben Sie ihn nicht gesehen? Sah er nicht aus, als hätte er bereits die Schwelle zur Ewigkeit überschritten?«

»Weshalb aber dann als dieser Pomp und Staat, der gerade soviel gekostet hat wie ein Feldzug.«

»Um die wirkliche Absicht zu verbergen.«

»Glauben Sie, daß er selbst eine Gefahr ahnt?«

»Ja, ein Lama hat mir erzählt, er habe beim Aufbruch aus seinem Kloster erklärt, er werde niemals zurückkehren.«

Dortsche hörte scharf zu. Er verstand genug Chinesisch, um zu begreifen, daß das Leben des Taschi-Lama in Gefahr schwebte. Er beschloß, ihn zu warnen.

In der Dunkelheit eilte er von der Mauer herab und begab sich in den Gasthof, in dem seine Stammverwandten abgestiegen waren.

Lange vorher war dem Taschi-Lama in Hvangsi, dem »Gelben Tempel«, dem vornehmsten Lamakloster bei Peking, eine Freistatt bereitet. Dort sollte er als Kienlungs Gast wohnen. Dort sollte er auch sterben.

An den folgenden Tagen drängten sich die Gläubigen um den Thron des Heiligen, und nachdem der Kaiser aus Mukden zurückgekehrt war, begann eine Reihe von Festen, Andachtsübungen und religiösen Feiern. Eines Tages segnete der Taschi-Lama in einer der geheimsten Hallen des Palasts auch die kaiserlichen Damen. Er saß hinter einem Vorhang von durchsichtiger gelber Seide und teilte seine Gnadengaben mit niedergeschlagenen Augen aus, um nicht durch den Anblick der Schönheit der Sünderinnen befleckt zu werden.

Unter den Pilgern befanden sich auch die Häuptlinge vom Roten Banner der Tsacharmongolen mit dem Dsassak Erke Norvo Chan an der Spitze. Als dessen Sohn Dortsche gesegnet werden sollte, richtete sich dieser hoch auf und flüsterte:

»Rinpotsche, dein Leben ist in Gefahr; gewähre mir die Gunst, dir ein Wort zu sagen.«

Lachend gab Taschi-Lama einem Mönche ein Zeichen, und dieser führte Dortsche in ein anstoßendes Gemach. Nach Schluß der Zeremonie trat ein alter Lama in das Zimmer und fragte den Jüngling, was er wünsche. Er antwortete, er könne das nur dem Großlama selber sagen. Nachdem der Taschi-Lama hereingekommen war, erzählte Dortsche, was er in der Dämmerung auf der Stadtmauer gehört hatte.

»Ich beschwöre dich, Rinpotsche, reise heim nach Tibet ohne Pomp und Prunk!«

Der Heilige antwortete freundlich:

»Meinem Schicksal kann ich nicht entgehen. Es ist mir vorausbestimmt seit Anbeginn der Zeiten. Gesegnet sei dein Leben!«

Damit legte er dem Jüngling die Hand auf das Haupt und schenkte ihm ein vergoldetes Bronzebild des Gottes des langen Lebens.

Einige Tage darauf drang zu Dortsche das Gerücht, der Großlama sei erkrankt. Feste und Wallfahrten hörten auf. Almosen und Geldgeschenke wurden freigebig unter das Volk verteilt, und bei brausender Musik hielten die Mönche im Gelben Tempel Gottesdienst, um die bösen Geister zu vertreiben, die den Leib des Kranken quälten. Eine steigende Unruhe war in den Gemächern von Hvangsi zu spüren.

Der Heilige lag in Fieberträumen und verstand nicht die endlosen Gebete, die neben ihm gemurmelt wurden. Er erkannte den greisen Kaiser nicht mehr, der kummergebeugt an sein Lager trat. Seine Seele löste alle irdischen Bande, um wie ein Schmetterling seine Puppe zu verlassen. Und eines Tages – es war am zweiten des elften chinesischen Monats im fünfundvierzigsten Regierungsjahr des Kaisers (Anfang Dezember 1780) – erhob sein Geist die Schwingen und flog in die geheimnisvollen Gefilde der Seelenwanderung.

Die Nachricht vom Tode des Gesegneten traf Peking wie ein Blitz. Wo sie gingen und standen, sprachen entsetzte Menschen davon, und viele fanden einen Trost darin, daß sie doch seinen Segen erhalten hatten, ehe es zu spät gewesen war. Kummerbeschwert kam der Kaiser in die Gelbe Kapelle, wo die Leiche des Taschi-Lama saß; denn sitzend wie der meditierende Buddha müssen alle buddhistischen Mönche sterben. In dieser Stellung wurde der Entschlummerte einbalsamiert und in einen hohen goldenen Sarkophag gebettet. Vor diesem wurde drei Monate lang Totengottesdienst gehalten, und schließlich wurde er auf Menschenschultern den langen Weg durch die Wüsten und die Gebirgsgegenden nach dem Kloster in Taschi-lunpo in Tibet getragen.

Ebenso still und ehrfürchtig wie beim Einzug des Großlamas wohnte das Volk von Peking seinem Aufbruch bei. Erke Norvo Chan und sein Sohn folgten dem Zuge bis Kalgan und zu der Großen Mauer; es war der Weg, der sie auch nach den Weideplätzen ihrer Herden führte. Zwischen roten und gelben Mönchsgewändern hob sich der goldene Sarkophag schimmernd vom Hintergrund der grauen Felsen ab. Fromme Pilger nahmen an dem Zuge teil, und Scharen bewaffneter Reiter zogen mit. Die Leichenkarawane nahm sich aus wie ein Kriegsheer auf dem Marsche. Verwundert und entsetzt sahen die Bewohner der Städte und Dörfer und die Nomaden in der Steppe das glänzende Gefolge vorüberziehen. Die Mönche ließen beim Gehen die Kugeln des Rosenkranzes durch die Finger gleiten. Eintönig und feierlich hallten die Totengebete zum Getrappel der Pferdehufe und dem Gebrüll widerspenstiger Kamele. Die kleinen goldnen Glöckchen an den Ecken des Sarkophags klingelten mit größerer Unruhe als sonst, wenn neue Träger während des Marsches die müden Kameraden ablösten.

Dann kam der Tag, an dem der junge Dortsche und seine Verwandten sich von der Leichenkarawane trennen mußten. Deren Weg bog hinter Kalgan nach Westen ab, während die Pferde des Tsacharenfürsten ihre Stirnen nordostwärts den Weideplätzen der Heimat zuwandten.


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