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Bei Tagesgrauen wurden die Schläfer durch Pferdegetrappel und Menschenstimmen geweckt. Sonam und seine Leute waren mit einigen von Dortsches Dienern herbeigeeilt. Solange der Brand anhielt, hatten sie nicht zu Dolmas Lager vordringen können. Nun aber war die letzte Glut erloschen, und ihre Nachforschung hatte sie ans Ziel geführt.
Nachdem sie die Tsamba, das Frühstück aus geröstetem Mehl, genossen hatten, brachte Dortsche mit Sonam den Kamelkauf in Ordnung, nahm Abschied und stieg zu Pferde. Dolma ließ sich nicht anmerken, was sie fühlte, als sie Dortsche über die verbrannte Steppe davonreiten sah.
Von zwei Dienern begleitet, ritt er südwärts nach Jehol.
Eines Abends hielt er vor der Klosterpforte. Der Prior hieß ihn willkommen. Von Höfen, Balkonen und Altanen musterten Mönche in roter Tracht den neuen Bruder. Alle kannten ihn dem Namen nach. Man wußte, daß er fürstlichen Geblüts und weit gereist war und daß ihn derselbe Taschi-Lama gesegnet hatte, dessen Andenken der Klostertempel geweiht war.
Schon auf der Schwelle zerriß er alle Bande, die ihn mit der Welt verknüpften, indem er seine Leute verabschiedete. Sein Reitpferd durfte er behalten. In zwei kleinen Lederkoffern verwahrte er das chinesische Silber, die Kleider und Kleinigkeiten, die sein ganzes Gepäck ausmachten. Er besaß einen Rosenkranz mit 108 Kugeln und trug das Götterbild bei sich, das er vom Großlama erhalten hatte.
Der Prior war ein ehrwürdiger Kanpo-Lama, also ein Mönch von sehr hohem Rang. Vor etwa sechzig Jahren war er nach Taschi-lunpo gekommen, hatte dem in Peking entschlafenen Großlama während seiner ganzen Inkarnationszeit nahegestanden und hatte im Gelben Tempel in Peking an seinem Totenbett gesessen. Deshalb hatte der Kaiser ihn zum Abt des Klosters ernannt, das für ewige Zeit die Erinnerung an den Toten bewahren sollte.
Von Geburt war der Prior Tibeter. Er trug dieselbe rote Toga wie die andern Mönche; sein schneeweißes Haar war gleichfalls kurz geschoren, das Gesicht bartlos. Den Geistlichen gegenüber, die ihm unterstanden, bewies er freundliche Nachsicht, als fühlte er auf Grund seiner langen Erfahrung Mitleid mit ihnen wegen der Zukunft voller Geduld und Entsagung, die sie erwartete.
Er klopfte Dortsche auf die Achsel und sagte:
»Willkommen, Bruder! Ich sehe dich nicht zum erstenmal. Als du im Gelben Tempel den Taschi-Lama vor der Gefahr warntest, die ihm drohte, habe ich dich empfangen. Für das, was du damals tatest, segnete er dich, und alle seine Freunde segnen dich noch heute dafür.
»Ich weiß, daß du gegen den Willen deiner Verwandten zu uns gekommen bist und daß du die Schlingen zerrissen hast, die dir gelegt wurden. Du wirst nie bereuen, daß du den einzigen Weg gewählt hast, der zur Befreiung, Rettung und Ruhe führt.
»Sei also willkommen, Tsangpo Lama! Denn auf diesen Namen sollst du fürderhin hören. Jeder Bruder unserer Gemeinde muß einen Klosternamen religiösen Klangs führen. Höre nun, weshalb ich diesen gewählt habe!
»Das Kloster Taschi-lunpo, in dem der Großlama fast sein ganzes Leben verbrachte, in dem ich an seiner Seite alterte und nach dem deine Pilgerträume wandern, liegt nicht weit vom Südufer eines Stroms, des Martsang-tsangpo, der gewöhnlich nur Tsangpo, der Strom, genannt wird. An Größe und Ruhm kann sich kein Fluß in Tibet mit ihm messen. In schäumenden Kaskaden durchbricht er die hohen Berge und schenkt Millionen von Menschen in Indien Leben und Nahrung. Dort strömt er unter dem Namen Brahmaputra, Brahmas Sohn, gewaltig und ruhig wie ein Greis zwischen Hügeln, Wäldern, Äckern und Dschungeln hindurch seiner Vernichtung im Indischen Ozean zu. Möge dein Leben, Tsangpo Lama, wie der große Strom schließlich in sein Nirwana münden.
»Du wirst selbst einmal das Urbild deines Klosternamens sehen, wenn du an der Schwelle deines Wallfahrtziels, am Grabe des Taschi-Lama, stehst. So wisse denn, daß deine Vorbereitungszeit im Kloster sich über drei Jahre erstrecken wird. Binnen kurzem wirst du die Prüfung durchlaufen, die dich zum Getsul, zum Novizen, macht und dir die Berechtigung gewährt, die einfache priesterliche Tracht zu tragen. Bei den Tempelfesten mußt du in dieser Eigenschaft die Pflichten eines dienenden Bruders erfüllen. Wenn du dein zwanzigstes Jahr vollendet hast, wirst du der schweren Prüfung unterworfen werden, die dir den Titel Gelong und die Würde eines Lama verleiht. Als solcher besitzest du die Vollmacht, alle priesterlichen Ämter auszuüben, und das Recht, die hohe gelbe Mütze und den goldnen Dortsche, den Donnerkeil, zu tragen, das Symbol des reifen Mönches.«
Während der Prior sprach und Tsangpo Lama zuhörte, gingen sie langsam über Klosterhöfe, durch Gassen und Parke und traten schließlich in einen dunkeln Gang, der in eine Tempelhalle mündete. Auf dem Hochaltar saß ein in tiefe Betrachtung versunkener Buddha. Öllampen brannten vor ihm. Hier blieb der Prior in Anbetung stehen. Dann sprach er, die Hände nach dem Bilde ausgestreckt:
»Er ist der Erlöser! Gautama ist sein Name. Er war ein Königssohn, der der Welt entsagte, großen Ruhm durch seine Weisheit und Tugend erwarb und viele Jünger und Anhänger um sich versammelte. Wenn man, wie ich, ein ganzes Leben im Kloster zugebracht hat, findet man schließlich, daß alles, was hier gelehrt wird, nur ein Schritt ist auf dem Wege zu dem hohen Gesetz, das unter Indiens Sonne von Gautama Buddha gepredigt wurde. Für dich genügt es, daß du in den drei Jahren, die du bei uns zubringst, nach Buddhas Gesetz zu leben versuchst und das ›Rad der vier Wahrheiten‹ drehst. Da wirst auch du eines Tages die Klarheit erringen, ohne die kein Sterblicher in das Nirwana eingehen kann.«
Der Rundgang endete in der Mönchszelle, in der Tsangpo Lama hausen sollte. Das Zimmer lag ganz oben im Hauptgebäude des Klosters. Nach Norden hinaus ging ein kleines viereckiges Fenster, nach Osten ein Balkon mit schwarzgestrichenem Geländer. Die Ausstattung war einfach, wie die Ordensregeln es bestimmen: eine Holzpritsche mit Schafpelz, ein Schemel, ein Hausaltar mit Statuen von Buddha, Tsongkapa und andern Heiligen.
Die Aussicht vom Fenster und Balkon war herrlich: eine Welt mittelhoher Berge in gelben und hellroten Tönen und in der Ferne verblauende Kämme. Von Norden her schlängelte sich das Tal des Joho bis zum Zusammenfluß mit dem Luanho südlich von Jehol; in Südosten erkannte man die Talschlucht der vereinigten Flüsse auf ihrem Wege nach der Küste des Gelben Meeres.
Das Kloster war von einem herrlichen, eingezäunten Park umgeben, in dem Kryptomerien, Lärchen, Weiden, Birken und Pappeln wohligen Waldduft verbreiteten. Im Schatten eines Hains pflegte Tsangpo Lama die heiligen Bücher zu lesen, die man kennen muß, um Lama zu werden.
Schagdur Lama, ein Mönch mittleren Alters und Burjate von Geburt, führte ihn durch die metaphysischen, astrologischen und medizinischen Irrgänge der unerschöpflichen Schriften.
Ein anderer Mönch, Tundup Lama, ein geborener Tibeter, unterrichtete ihn in der Sprache von Bod-jul, von Tibet. Tscherdon, ein Laienbruder, ein Mongole aus Uljassutai, bediente die im obersten Stockwerk hausenden Mönche. Als Novize mußte Tsangpo Lama sich dareinfinden, sein eigener Diener zu sein und älteren Mönchen aufzuwarten.
Schon nach einem Monat konnte er sich der ersten Prüfung unterziehen. Seitdem durfte er unter den übrigen Novizen in der kirschroten Tonsur erscheinen und in dem langen Gewande von derselben Farbe, das, in der richtigen Weise über Schultern, Arme und um den Leib geschlagen, wie eine römische Toga aussah. Als er vor dem Prior und den obersten Mönchen die Klostergelübde ablegte, unter anderm das eine, nie ein Weib zu berühren, glaubte er den Gang des schnellfüßigen Kamels zu hören, das Dolma über die Steppe trug.
Vom ersten Tag an ging er an seine Arbeit. Seine Zeit war zwischen Tempeldienst und Studien geteilt. Wie die andern Novizen mußte er seine tägliche Runde machen und in die blanken Messingschalen auf den Altartischen vor den Götterbildern Reiskörner, Tsamba, Butter und Wasser schütten. Er putzte rauchende Dochte, die zu Ehren der Heiligen brannten, und achtete darauf, daß die Altarlampen nicht infolge Ölmangels erloschen. Man sah ihn Holz und Reisigbündel zu den Öfen der Klosterküche tragen und mit einer schweren Kupferkanne voll dampfenden Tees nach den Zellen der Mönche wandern. Mit Wohlgefallen lauschte er dem wiegenden Rhythmus der Hymnen und Gebete, die Mönche und Novizen im Chore abwechselnd sangen.
Bei den Tempelfesten und Feiern, die jährlich an bestimmten Tagen wiederkehrten, fehlte er nicht. Halb hinter einer Säule oder einer Draperie verborgen, saß er da und betrachtete den wilden Teufelstanz der Mönche, durch den die bösen Geister beschworen werden feilten. Am meisten sagte es ihm zu, wenn er ältere Mönche begleiten durfte, die der Prior aussandte, um kranken Mongolen Heilmittel zu verabreichen, den Geistern der Toten behilflich zu sein, die irdische Hülle zu verlassen, oder neugebornen Nomadenkindern glückbringende Namen zu geben. Über die langen Pergamentblätter gebeugt, die lose zwischen zwei Holzdeckeln lagen, konnte er stundenlang im Klosterhain verweilen, um mit Schagdur Lamas Hilfe einzudringen in die Lehre von der Seelenwanderung, von den Wiedergeburten und in die unergründliche Weisheit und Mystik, die eingeschlossen sind in den Worten: Om mani padme hum, das heißt: »O, das Juwel ist in der Lotosblume«, oder »Die selbst schaffende Kraft ist im Kosmos.«
Gegen den Herbst hin wurden die Tage kürzer und die Luft kälter. Schließlich verließen Tsangpo Lama und sein Lehrer den Park und verlegten die Arbeitsstunden in Tsangpo Lamas Kammer. Von seinem Balkon aus sah der junge Mongole allmählich die sommerwarmen Farben verblassen und die blauen Berge in der Ferne sich in immer härteren Tönen abheben. Der Sturm heulte an den Ecken der Klostergebäude, und beißend kalter Nordwestwind trieb dichte Wolken feinen Staubes von der Wüste herein. Oft wurde es so dunkel, daß man nicht einmal die nächsten Höhen erkennen konnte, und mehrmals am Tage brachte der gute Tscherdon glühende Kohle in einem eisernen Becken, um Tsangpo Lamas Zelle zu erwärmen.
Dann hielt der Winter seinen Einzug, und des Sturmes Lieder nahmen einen noch schärferen eisigeren Klang an. Das ganze Land war in Weiß gehüllt. Die Haufen vergilbter Blätter, die sich vor kurzem noch im Wirbeltanz zwischen den Bäumen und an der Parkmauer gejagt hatten, wurden unter Schneewehen begraben. Mehlfeiner Schnee drang vom Balkon durch die Türritzen herein, aber Tsangpo Lama war abgehärtet, und er trug einen Schafpelz zum Schutz.
Der Frühling kam. Der Schnee wurde weich und schmolz. Schüchterne Blumen lugten aus dem Boden hervor, die Bäume trieben Knospen, die Macht der Kälte wurde gebrochen, und bald lag der Studienhain wieder unter dichtem Laubdach im Schatten. Die Zugvögel kehrten zurück, die Wildgänse flogen nach Norden. Ehe man sich's versah, war der Sommer wieder da. Überall erwachte das Leben.
Tsangpo Lama dünkte dieser Sommer lang. Oft sah er an seinem Fenster und sah nach Nordwesten. Seine Gedanken umkreisten den Dalai-nor. Abends pflegte er den Horizont zu mustern, ob nicht vielleicht ein Steppenbrand Dolmas Tapferkeit von neuem auf die Probe stellte. Aber dunkel und still lag die Steppe.
Der Sommer ging zu Ende. Wieder wurden die Blätter gelb. Die Wildgänse flogen nach Süden, und das Leben entschlummerte. Alles ist eitel, nichts hat Bestand, sagt Buddha. Der Kreislauf vollendete sich nach ewigen Gesetzen. Es wurde wieder Herbst und Winter und Frühling, und Tsangpo Lama fühlte sich im Kloster immer mehr als ein Gefangener. Er sehnte sich hinaus! Die Steppe war seine Heimat. Er gedieh nicht in einem Steinhaus, dessen enge Kammern nie spannende Ereignisse boten. Sein einziger Trost war der Wind, der Grüße von der Steppe brachte, und der Anblick derselben Sterne, die auf seine Wege durch die Wüste hinabgeblickt hatten.
»Ich muß meine Pflicht erfüllen«, dachte er. »Jeder Tag bringt mich dem Ende der Klosterzeit einen Schritt näher. Nur als fertiger Lama will ich an Pantschen Rinpotsches Grab treten.«
Im dritten Jahr arbeitete er mit verdoppeltem Eifer und verkürzte die Zeit durch seinen Fleiß. Der letzte Winter in Jehol ging schneller vorüber, als er gehofft hatte, und er war ihm noch nicht allzulang erschienen, als schon die Lerchen die Wiederkehr des Frühlings verkündeten.
Als der Jahrestag von Tsangpo Lamas Eintritt ins Kloster zum drittenmal anbrach, wurde er in das Zimmer des Priors gerufen.
»Heute feiern wir das Fest des Neumonds. Wenn die Posaunen auf dem Dache erklingen, wirst du dich im großen Klosterhof einfinden, um deine Prüfung zu bestehen.«
Tsangpo Lama verbeugte sich. Als die Stunde gekommen war, erschien er auf dem Hof und stellte sich vor versammelter Brüderschaft dem Kreuzfeuer der ihm in der Prüfung entgegentretenden Mönche. Mit lauter Stimme stellten sie ihre verfänglichen Fragen, aber er beantwortete sie alle.
An den beiden folgenden Tagen wurde die Prüfung fortgesetzt. Schließlich wurde der neue Lama unter den üblichen Zeremonien mit der priesterlichen Tracht bekleidet. Die gelbe Lamamütze wurde ihm auf den Kopf gesetzt und ein schimmernder »Dortsche« in die Hand gegeben.
Während des gemeinsamen Teetrinkens auf dem Hof nahm er von den Mönchen Abschied und zum Schlusse dankte er dem ehrwürdigen Prior für die Güte, die er ihm in den vergangenen drei Jahren bewiesen hatte.
Während Tscherdon sein Pferd sattelte, stieg Tsangpo Lama im Schein der Morgenröte aufs Klosterdach hinauf, setzte das Schneckenhorn an die Lippen, grüßte die Sonne und rief die Brüder zur Last des neuen Tags.
Dann eilte er zum Tor hinab, schwang sich in den Sattel und ritt Tag und Nacht nach seinem heimatlichen Zelt am Schandu-gol.