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Selbst zum Beten blieb keine Zeit. Flunkert konnte es kaum begreifen, als die Tür, von Haake mit seinem steinernen Kindskopf zerschmettert, bereits krachend in Splitter gegangen war. Er fühlte sich aus dem Wagen gerissen. Er wälzte sich, gepackt, mit einer lebenden Masse verknäult und verbissen, würgend und gewürgt, auf dem Stoppelfeld herum. Da gelang es ihm glücklich, sich loszureißen. Er floh. Sein Angreifer folgte ihm um die Wagen herum. Gott sei Dank tauchte in der Ferne Pudelko auf. Die Witwe Flunkert stieß gellende Schreie um Hilfe aus. Ich habe das Laufen zu wenig geübt, dachte Flunkert. Ich hätte nie geglaubt, daß ein schwerer Mann wie dieser Blechseppl, dieser Tagedieb, dieser Trunkenbold, dieser Akademieprofessor, so rennen kann! Plötzlich will ich mich umwenden und ihn anfallen!
Vorläufig aber lief er noch. Warum lief er nicht ins freie Feld, sondern zum zweiten-, zum drittenmal um die Wagen herum? Weil er dort draußen, von seinem Verfolger ereilt, allein mit ihm gewesen wäre, während er hier auf Hilfe rechnen konnte. Pudelko kam näher. Und jetzt tauchte auch Maskos auf. Allbereits kamen auch andere Leute. Wenn er noch hundert Schritte lief und sich dann unerwartet seinem Verfolger entgegenwarf, konnte er schon allgemeiner, kräftiger Hilfe gewärtig sein.
Daß er blutete, fühlte er an der Nässe, die ihm aus Mund und Nase rann, auch war ihm klar, daß er eine Menge Zähne ausgespuckt hatte. Allzuschnell kam der Feind heran. Man konnte die Finte nun nicht länger hinausschieben. Also wandte er sich und fiel Haake an.
Ein häßliches, grausiges Schauspiel begann, wovon sich die Seele mit Ekel abwendet. Und doch ist es nichts gegen die unzähligen, gewaltsamen, blutigen Todesarten, gegen die übermenschlichen Roheiten, die ein Krieg im Gefolge hat. Haake hatte einen Knüppel zu fassen bekommen, wie ihn der Fuhrmann beim Zusammendrehen von Stricken und Ketten zu benutzen pflegt. Solche Knüppel sind meistens aus zähen Wurzeln großer Bäume gemacht, die, durch Alter verhärtet, weder brechen noch splittern. Mit diesem Prügel schlug er Balduin, als er sich gegen ihn wandte, über den Kopf.
Der Kunstreiter schützte sich mit den Armen. Er konnte nichts weiter tun. Der Bildhauer schlug wie eine Maschine. Man begriff es nicht, daß ihm Balduin nicht den Stock zu entringen suchte, sondern immer nur parierte und sich nach Möglichkeit, durch Windungen aller Art, dem fürchterlichen Hagel von Schlägen entzog.
Dadurch entfernte er sich von den Wagen. Er schien nicht zu wissen, wo er war. Wahrscheinlich hatten ihn Treffer auf die Schädeldecke in einen verwirrten Zustand gebracht. Die Leute schrien. Kinder und Frauenzimmer jammerten. Pudelko lief nach. Aber da hatte er schon einen Schlag irgendwohin bekommen, der ihn kampfunfähig niederwarf. Und der Prügel prügelte fort.
Die ganze Umgegend wurde aufmerksam. Hier ging etwas vor, was dem Bauer auf dem Acker, dem Winzer in den Weinbergen das Herz stocken machte. Dieser Prügler, jener vor ihm sich drehende, windende, gleichsam tanzende Mann boten ein Schauspiel, wie es selten ans Licht des Tages tritt. Es war ersichtlich, daß man hier einer letzten Abrechnung beiwohnte. Da war nicht einer unter den Zuschauern, dem das nicht klar wurde. Die Sache lief auf Totschlag hinaus. Es war die Vollstreckung eines Todesurteils, war eine Hinrichtung. Abdecker hatten die Artisten Haake genannt, nachdem er die Bulldogge mit einer Kugel von ihren Leiden erlöst hatte. Jetzt war er Richter und Urteilsvollstrecker in einer Person, ein Mensch, der blindlings Vergeltung übte. Und seltsamerweise: jeder nahm eigentlich in der Seele irgendwie die Partei des Prügelnden. Der andere mußte einer der schlechtesten Kerls von Gottes Erde sein, da er ihn keines besseren Todes für würdig hielt, als unter Knüppelhieben zu enden.
Maskos wußte nicht einmal, wer er war, der da auf Flunkerts Schädel, Schultern, Arme, Rücken in schnellster Folge niederdrosch. Bewegungen, die der ganze Mann dabei ausführte, hatten mit denen des einstigen Bildhauers Haake nicht die geringste Ähnlichkeit. Auch die Direktorin schien nicht zu wissen, wer er war. Sie konnte Maskos auf seine Fragen nicht antworten. Sie schrie nur immer: »O Gott im Himmel, er schlägt ihn tot! O Jesus, mein Heiland! mein Heiland! mein Heiland! Er schlägt ihn tot!«
Und wirklich war dies auch Haakes Absicht.
Alle Schläge, die er dem Zirkusdirektor von der ersten Begegnung an zugedacht hatte, wurden nachgeholt. Fast bei jedem Hiebe wußte der Bildhauer, wofür er die Bezahlung war. Auch dem Empfänger fiel jedesmal eine Sünde ein und trat ihm, als beginge er sie erst jetzt, vor die Seele. Nur die Gewandtheit, die er sich als Trapezturner und Luftgymnastiker erworben hatte, bewahrte noch immer Flunkert vor dem Äußersten. Wenn er nicht stolperte oder fiel, konnte er vielleicht immer noch, freilich braun und blau geschlagen, davonkommen. Allein die Kraft des Urteilsvollstreckers ließ nicht nach – wie lange konnte die seine noch aushalten?
Die Winzer schrien, die Landleute schrien, Zurufe kamen von allen Ecken und Enden. Plötzlich sah man, wie Flunkert stolperte.
Aber schon stand er wieder auf. Es war bereits weit draußen im Felde. Man wollte retten. Halb Weinsberg war rebellisch geworden. Da stolperte Flunkert zum zweitenmal. Er stolperte wieder, – dann blieb er liegen.
Als man hinzukam, war noch Leben in ihm.
Den Bildhauer konnte man nirgends entdecken. Man suchte ihn tags darauf mit Polizeihunden. Man fand schließlich einen Mann hinter einer Hecke an der Landstraße, der bewußtlos auf dem Rücken lag und, halb singend, immer nur »Bolibö! Bolibö! Bolibö!« lallte. Es ist ein Wort der Gaunersprache, das Himmel heißt. Die Hunde schnoberten ihm im Gesicht herum.
Ein Karren wurde herangeholt, aber man konnte nur noch einen Toten hineinlegen. Dem Lebenskampf des Bildhauers Haake hatte wahrscheinlich ein Bluterguß ins Gehirn ein Ende gemacht.