Gerhart Hauptmann
Wanda
Gerhart Hauptmann

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Natürlich hatte die Zirkuswitwe die Wöchnerin einige Male besucht und ihr übrigens mehrmals gute Wochensüppchen zustellen lassen. Einmal, als Paul Haake Wanda und sie schon im Vorzimmer lebhaft sprechen und lachen hörte, trat er unvermutet ein und bewirkte dadurch ein jähes Stillschweigen. Da wehte den Bildhauer irgend etwas rätselvoll Undurchschaubares an, so eisig kalt, daß es ihm ein Friesel über den Rücken jagte. –

Es war vergessen, als er eines Tages, aus der Apotheke kommend, wo er Talkum und andere Dinge zur Behandlung seines Kindes geholt hatte, dessen Trockenamme er war, vom Hausknecht erfuhr, der Herr Zirkusdirektor Flunkert sei oben im Zimmer.

»Hat er nach mir, oder hat er nach meiner Frau gefragt?«

»Er hat nur nach Ihrer Frau gefragt. Ich sagte, Sie seien nicht zu Hause, aber er sagte, das mache nichts, es handle sich um Zirkussachen.«

Seltsamerweise stieg Haake mit der fast unhörbaren Sohle eines Diebes die Treppe hinauf. Ebenso leise trat er ins Vorzimmer.

Wanda girrte. Dann schien es Haake, als wechselten Schmollen, Lachen und Liebesgeflüster.

»Nun, wie gefällt er dir, Balduin?«

»Na freilich, ganz gut, kleine Kröte!«

»Wie er dich anglotzt! Ganz, wie wenn du deine Dressuraugen machst!«

»Nun wirst du also nach Breslau gehen mit diesem Blechseppl!«

»Ja Kuchen! Ich – und nach Breslau gehen!«

»Wie willst du den Heckenscheißer loswerden?«

»Den werd' ich schon von selber loswerden, jetzt, wo ich schon wieder ganz kregel bin!«

»Weißt du was? Meine Mutter möchte den Jungen. Sie ärgert sich, sie findet so eine Ähnlichkeit.«

»Kunststück, Balduin: Ähnlichkeit!«

»Elsa will ihn auch nicht hergeben!« Das war Flunkerts angetraute Frau. »Nun geht's bald wieder los, kleine geile Canaille!«

»Nicht! Nicht! Nicht jetzt! Nicht! Nicht! Nicht jetzt, Balduin! Er muß jeden Augenblick kommen!«

Es schien, er ließ ab, er trat zurück. Man hörte ihn tief und hastig atmen und ein verlegenes Lachen ausstoßen.

»Bibi, hörst du, sorge dafür, daß er dir über seinen Gips die Verfügung läßt. Der Kerl ist wie toll und verrückt! Er will seinen Gips haben!«

Die Unterredung zu zweien fand ihr Ende. Der Zirkusdirektor Balduin Flunkert blickte in Haakes furchtbar entstelltes, steingrau gewordenes, stummes Angesicht. Es war eine schreckliche Maske mit zuckenden Mundwinkeln.

Ein Zittern ging durch den sehnigen Körper des Luftspringers. Er und Wanda wechselten einen leeren Blick. Dann ging er, ohne daß zwischen den dreien das Schweigen gebrochen und ohne daß er von jemand gehalten wurde. Haake kippte die Wasserflasche und goß ihren Inhalt in sich hinein.

Dann ging auch er, ohne Wanda und den Säugling im Bettchen auch nur mit den Augen gestreift zu haben.

Die grünen Wagen und das Zelt waren außerhalb des Städtchens auf einer Brache aufgestellt. Die Burg von Weinsberg blickte auf sie herunter. Als Flunkert, dorthin zurückgekehrt, vom Wagen aus den Bildhauer langsam herankommen sah, war er sich nicht schlüssig darüber, was er tun wollte. Einer Täuschung über die Absichten Haakes verfiel er nicht.

Machte er sich vielleicht dennoch unnütze Sorgen?

Er hatte noch eine gewisse Frist, das Herankommen seines Feindes zu beobachten: Haß, Übereilung, Wut lag in seinen Bewegungen nicht. Eher hatten sie etwas Bequemes, Schlenderndes.

In der Tat dachte Haake: Zu dem, was jetzt geschehen muß, brauche ich restlos meine ganze Kraft. Also heißt es, vor dem Beginn des Tanzes bis zur Knausrigkeit sparsam sein!

Er bückte sich und ergriff einen kindskopfgroßen, runden Stein. Ja, man wurde an den Kopf eines Säuglings erinnert. Er lachte blöd. Mit dem Kopfe des Sohnes dem Vater ein Loch in den Kopf machen: diese Vorstellung war belustigend.

Die Witwe befand sich in ihrem Wohnwagen. Pudelko war mit den Gäulen zur Hufbehandlung fortgeschickt. Maskos war aus irgendeinem Grunde nach dem nahen Heilbronn gereist. Die Musikanten lagen in ihren Quartieren, ebenso die Artisten, bis auf Adriana Tomalla, die im Zirkuszelte arbeitete. Dies war die Lage, die Flunkert im Augenblick übersah, als er niemand fand, den er diesem Blechseppl, diesem Heckenscheißer hätte entgegenschicken können, um ihn nach seinem Begehren zu fragen.

Da war freilich Pix, der aus Steinen eine Burg baute. Pix stand mit dem Bildhauer gut. Der Junge wurde hereingerufen.

»Was Sie wollen, läßt Vater fragen, Herr Haake.«

»Nichts für Kinder, mein Sohn!« Den hübschen Knaben an der Hand haltend, klopfte er bald darauf an der Tür der Direktorin.

Balduin hatte entschieden, sich einzuschließen.

»Ich habe mit Ihrem Sohn ein Hühnchen zu pflücken. Ich bin nicht bewaffnet. Sagen Sie ihm, er soll zu mir herauskommen, wenn er kein Hundsfott ist! Ich erwarte ihn. Bitte, nehmen Sie Ihren Enkel hinein!«

Mit Unschuldsmiene fragte sie: »Was haben Sie denn mit meinem Sohn?«, nachdem sie Pix ins Innere des Wagens gedrängt hatte.

Er gab zur Antwort: »Die Klaviatur, Frau Direktorin!« und machte mit seiner freien Hand, als ob er Klavier spiele.

Da begab sie sich in den andern Wohnwagen.

Balduin ließ sie, aber erst nach langem Parlamentieren, ein, und als er gewiß war, es könne geschehen, ohne daß Haake mit eindringe. Schnell schloß er auf und verriegelte augenblicks danach wiederum die Tür.

»Was ist geschehen?« fragte die Mutter. Sie war so schwach, daß sie sich festhalten und auf einen Schemel setzen mußte.

»Was weiter? Er hat uns belauscht. Er weiß, von wem der Junge ist.«

»Er ist grauenhaft anzusehen!« sagte die Witwe.

Balduin wieder: »Das mag wohl sein!« Ein Kanarienvogel nahm auch hier das Gespräch zum Anlaß, lauter und lauter zu schmettern. Der Käfig mitsamt dem Vogel wurde von Balduin in einen Winkel des Wagens geschleudert.

»Er will, du möchtest zu ihm hinauskommen, wenn du kein Hundsfott bist, Balduin.«

»Ich bin ein Hundsfott! Ich werde mich hüten. Geh und sage ihm, daß er sich fortscheren soll! Oder ich habe hier meinen Schießprügel! – Aber lieber nicht! Sag's ihm lieber nicht! Wir wollen es vorher im guten versuchen. Hör mal, Mutter, vielleicht geht es mit Geld! Mutter, was haben wir in der Kasse?«

»Was wird aber werden, wenn du doch zu ihm hinauskommen mußt?«

»Wenn es nach ihm geht, wird er mich totschlagen.«

Die Direktorin heulte erstickt und hielt sich die Hände vors Gesicht: »Ich habe diesem verdammten Pudelko gesagt, er soll mich nicht ganz allein lassen. Ich habe Maskos gesagt, einer muß dableiben! Ich habe sicher etwas geahnt!«

»Mutter, bleib mir vom Leibe mit deinen Ahnungen! Hätte ich mich lieber auf die ganze Geschichte nicht eingelassen und das Weibsstück gleich, als wir was merkten, zum Tempel hinausgeprügelt! Aber du hast mich in die Geschichte hineingeschwatzt! Du hast nichts geahnt! Du hast nichts geahnt!«

»Warte, mir ist ein Gedanke gekommen!«

Sie erhob sich, sie ging. In einer besinnungslosen Angst warf der Kunstreiter seine Mutter förmlich zur Tür hinaus, um nur schnell wieder schließen zu können.

Er flog. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er konnte keinen Gedanken fassen. Schließlich war er ja doch ein starker, katzengeschmeidiger, tollkühner Mensch, dessen durchtrainierter Körper es mit jedem aufnehmen konnte. Warum nahm er nicht seine Peitsche? seine Flinte? seinen Revolver? und trat ganz einfach, wie er gewohnt war, furchtlos vor den Wagen hinaus? Er war wie gelähmt. Es schien ihm ein Ding der Unmöglichkeit.

Woran lag das? Er konnte die schrecklich verzerrte, lächelnde Maske nicht loswerden, und immer gerann ihm gleichsam das Blut, wenn er sie im Geiste sah. Das Antlitz Haakes, in dem er sein Todesurteil gelesen hatte.

Der Kunstreiter wurde plötzlich hellsichtig. Der ganze Umfang seiner Schuld zerknirschte und erdrückte ihn. In diesem Bewußtsein wurde er ohnmächtig.

Nicht etwa, daß er die Besinnung verlor, das wäre für ihn ein Glück gewesen. Mit einer peinlichen Klarheit leuchtete das große fortgesetzte Verbrechen in ihn hinein, das er an diesem Manne begangen hatte.

In ihm, in Haake, das wußte er, war ebendiegleiche Hellsichtigkeit, vor der ebendieselbe Schuld, ebendasselbe Verbrechen sich, in allen Teilen qualvoll erkennbar, darstellte. Nur daß er selbst, nämlich Haake, nicht der Verbrecher war. Auch er ist, zuckt es Balduin durch den Kopf, durch seine Erkenntnis in einen ähnlichen Zustand wie ich gelangt, wo er nicht mehr Herr seiner selbst ist.

Warum hatte das Drohende etwas so Unentrinnbares? Er konnte die Tür aufstoßen, er konnte davonlaufen. Er war durch und durch feig und voll Todesangst. Es meldete sich kein Fünkchen Stolz, der ihm schmähliche Flucht verboten hätte. Er saß stier auf dem Bett, und es kam ihm so vor, als wenn er bei Gott um Gnade bettele.

Aber warum hatte er ihn in Versuchung geführt? Warum hatte er ihm diese Wanda gezeigt? dem andern diese Wanda gezeigt? diesen kleinen schwarzen Satan, der beide vernichtete!

 


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