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Umrisse

Manchmal, wenn ich die Bibel oder den Vedanta lese, überkommt mich das seltsame Gefühl, als wenn mir das innerste Fluten des innersten Geistwesens durch alle Zeiten hindurch plötzlich nahe käme, als wenn eine leise Wunderquelle durch das Tor der Buchstaben sich raunend ergösse – von alters her – vom Uranfang an. – Und wenn darnach der Fingeraufschlag auf die toten Tasten Beethoven befreit, und er mit seinem Besten neu meine Räume füllt – welches ewige Wunder der Gestalt!

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Kunstwirkung

Es geht ein Unbekanntes von Seele zu Seele und wirkt ewige Verwandtschaft.

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Wunderbare Erfindungen: die Erfindung des musikalischen Tones, die Erfindung der Instrumente, die Erfindung der ganzen Musik –: Engelchöre und himmlische Geschenke.

Der Mensch, der sein Eden suchte, erfand sie.

Und dagegen die tausend Erfindungen unsrer industriellen Kultur: eine Welt aus Krämerzwecken ins Licht gerufen, eine Notdurftstillung durch Zaubermittel.

Wo blieb darin die Erlösung und Beglückung des Einen, des sehnsüchtigen Einsiedels Mensch? Verlorene Paradiese!

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Ich hörte die Missa solemnis. Es fällt mir eben ein Zettel in die Hände mit einem Gedanken, der mir während des Hörens zum Erlebnis wurde. Welche gewaltigen, sinnlichen Machtmittel wendet der schaffende Mensch hier an, um durch die Sinne zum innersten Geistwesen durchzudringen, Posaunen des Jüngsten Gerichtes, damit die Mauern der heiligen Stadt fallen. Und Beethoven will nicht nur zum Menschen hindurch, er will hindurch zum Innersten alles Daseins überhaupt, so grandios und überirdisch und übermenschlich dringt er durch.

Dabei kommt mir in den Sinn, daß es recht charakteristisch ist, wenn Philosophen haben sagen können: » Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu«, und worin die Dürftigkeit dieser Ansicht beruhe. Die Sinne sind in der Tat das Tor des Intellektes. Deshalb ist nichts im Intellekt, was nicht in den Sinnen war. Aber der Intellekt knüpft uns an Zwecke – an das Äußere – an das Gesellschaftsleben zurück. Und der Mensch ist auch eine in sich verankerte, selbsteigene Macht. Hier sind die Sinne Tor und Mauern, um das ewige Geheimnis von Gestalt und Einheit zu bergen. Es ist an diesem Geheimnis, woran der Schaffende schaffen und rühren – es sind die Säulen, aber auch die Schranken der Persönlichkeit, die der Schaffende erschüttern will. Und wenn der Meister Tor und Mauern der Sinne umwirft mit Posaunenschall, da weckt er die freie Sonne des persönlichen Lebens.

Es ist nichts im Intellekt, was nicht in den Sinnen war. Aber es war niemals in den Sinnen, was im innersten Wesen ist, denn unser letztes Wesen ist Urgrundverwandtschaft von Gott und Mensch und aller lebendigen und toten Kreatur. Und die bebt, wenn sie der Schaffende anrührt, eindringend durch Tor und Mauern der Sinne.

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Ich sah Einwohner von Togo, hatte Gelegenheit, ihre Tänze und Gesänge zu beobachten, und empfand, wie die Künste immer mehr den leiblichen Zwecken entwachsen sind und in Geist und freie Schönheit sich verwandelt haben; wie wirklich aus Lärm, aus rhythmischem Lärm allmählich eine melancholisch weiche, monotone Klage sich aufgehoben, und wie dann immer mehr der Lärm starke, volksweite Harmonie geworden ist. Ich dachte: Was hat der Mensch aus dem bloßen Ton gemacht? Was hat er aus der Bewegung gemacht? Wie eng gebunden noch ganz in der sinnlich sexuellen Sphäre sind die Gliederverrenkungen der Togomädchen – und welche Freiheit und Losgebundenheit von allem Zweck, welche kühne Linienführung liegt in dem lieblichen Gliederspiel eines griechischen Tanzchores. Es ist überall derselbe Vorgang. Die Läuterung eines schlichten, menschlichen Tuns und dessen kühne Gliederung zu zweckverlassner Harmonie, zur spielenden Befriedigung unsrer ewigen irdischen Sehnsucht. Das ist Kunst.

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Böcklin hat selten Studien nach der Natur gemalt, wohl aber die Dinge stundenlang angeschaut. Er hatte es nicht auf die Wirklichkeit abgesehen, wie sie jedem bekannt ist. Er spürte ein eigenes Erstaunliches heraus, das nur ihm fühlbar wurde. Wer einen Gegenstand stundenlang anschauen kann, ohne zu ermüden, muß Erstaunliches und Eigenes darin erblicken. Nur dem, der Versunkenheit hat, sich in Gegenstände oder Ereignisse hineinzuträumen, kommen Visionen. Es braucht Zeit, durch den gewöhnlichen und bekannten Wirklichkeitseindruck in Erstaunliches und Neues an den Dingen zu versinken.

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Der Steuerassistent N. erzählte, er hätte kein Lieblingsbuch. Er hätte von jedem Buche einen sehr starken Eindruck. Aber der neue löschte den alten aus. – Gott! Wie ist das bezeichnend für die moderne Seele. Sie lebt nur im augenblicklichen Eindruck. Das ist ihr genug. Nichts kann sie auszeichnen im Gefühl. Es ist immer dasselbe Gefühl. Nicht mit den feinsten Organen für die Besonderheiten klammert sie sich fest. Es ist Unterhaltung, nicht Liebe, Sättigung, nicht Feinschmack. – Wie der Christ die Bibel, wie der Mohammedaner den Koran, so muß jeder Mensch sein Allerheiligstes haben und bezeichnen können.

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Ich kann nicht allen dienen – nicht alles lieben. Ich muß mich aus dieser Allgemeinheit des Wunsches zur Wirklichkeit entscheiden. Die Allgemeinheit ist weit, umfaßt tausend Möglichkeiten. Die Wirklichkeit ist eng und einzeln. Auch die Wirklichkeit der eigenen, schaffenden Seele. Sie ist ein einzelnes Herdfeuer – und nur ein paar Menschen, die wie Freunde darum sitzen, ein wenig Licht und Wärme finden.

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Reisetag

Im Coupe III. Klasse, es war Pfingsttag, saßen drei einfache Leute im Sonntagstaat, die Frau eines Krämers aus G. und ein junger Handwerker, ein beinah kindlicher Mann, dem noch der Flaum sproß, neben seinem älteren Weibe, das ein Kind im Schoß hielt und mit ihrem zahnlosen, großen Munde halb desparat, halb scharf und selbstgefällig das Wort führte. Der Mann sprach selten und immer sanft, hörte meist der Frau zu, mit einem so freundlichen, treumütigen Gewährenlassen, als spräche ein Orakel. Dann und wann ging's wie ein Lächeln von seinen Mundwinkeln, aber es lief nicht bis zu den guten, hellen Kinderaugen, es erstarb plötzlich, und die Mienen schienen gläubig wie vorher. Der Gedanke, daß sie nach Pfingstfreuden ausfuhren, beschäftigte mich. Und ich sann weiter, was diese Menschen wohl Letztes und Bestes vom Leben überhaupt wünschen möchten. Aber als ich ihre Gedanken in diesem Sinne führte, wußten sie nichts. Sie wußten nicht, was sie über die dürftigste Biedermanns-Aussicht auf ein bißchen besser essen und trinken und Ruhe haben vor Sorgen um das Nötigste wünschen sollten. – Und so ist es. Die Menschen haben keine Phantasie. Sie wissen nichts zu wünschen! Der Künstler erst muß ihnen ihre Wünsche lehren und deuten. Das ist der Sinn der Kunst, über die Zeiterfüllung, die die Notdurft fordert und aufdrängt, eine zu lehren, die nichts mit aller Bedürftigkeit zu schaffen hat, die den Menschen aus der Notdurft heraus in das freie Land der Liebe führt. Die Persönlichkeit losknüpfen von der Notdurft, sie anknüpfen an eine freie Freude, das, was so ein Wunsch nach dem Letzten und Höchsten im Leben nur ausdrücken kann, das gibt die Kunst. –

Wie ich noch so dachte, befand ich mich in einem einsamen Hotelzimmer, dessen Fenster nach dem Hofe zu sich öffneten, und unten zu ebener Erde saß ein Hausdiener auf einer Kiste und pfiff eine Melodie. Da begriff ichs von neuem. Wie sollte dieser einfache Mann Pfingstsonntag mit solchen heitren Weisen feiern, wenn ihm nicht der Künstler das Lied erst einmal vorgesungen. – So in allem. – Künstler lehren uns unsre Wünsche und deuten sie uns. Und wenn wir unsre Schmerzen und Freuden und unsre Sehnsuchten in ihren Melodien austönen, wenn wir mit ihren Bildern urteilen, mit ihren Gestalten messen, mit ihren Ideen erkennen, dann erst fühlen wir den Sinn unsrer Zeit begriffen.

Es gibt übrigens Weisen, die, lange gesungen, dem Ohre und Gemüte immer wieder neu und schwer erscheinen. Dabei fällt mir ein Betrunkener nachts von der Leipziger Straße ein. Als ich dem stillen, jungen Manne, den der Rausch unversehens übermannt hatte, in die Droschke geholfen, drückte mir eine einfache Frau mitten aus den Gaffern die Hand und sagte herzlich: »Ich dank Ihnen schön!« Der betrunkene junge Mensch ging sie offenbar so wenig etwas an wie mich; und sie bedankte sich im Namen der Menschlichkeit. Und ihr Dank war nur eine Freude über die alte und doch noch immer seltene Melodie vom barmherzigen Samariter, die mir zufällig das Herz gestimmt hatte. Denn tatsächlich war ich anfangs auch gleichgültig vorbeigelaufen. Aber da hatte die alte Geschichte in meiner Seele zu rumoren begonnen, wurde lauter, überwand mich – und ich war zur Hilfe zurückgegangen.

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Ich fuhr gestern nach W. Unterwegs mußte ich mein Rad an einem Trauerzuge entlang führen. Ein Stück darüber hinausgefahren, hielt ich, um mir den Pomp von der Ferne anzusehen. Die Posaunenbläser machten einen einschneidenden Trauerlärm. Und ich dachte bei mir: »So begräbt man also einen Toten.« Und ich sah mir an: dieses Gepränge mit Festkleidern und Blumen und vier Pferden. Man will dem Toten noch einmal alles Gute antun. Er ist dahin. Und man stimmt herzzerreißende Klagelaute an, die ewige, gewaltige Anklage, daß nach einem Leben voll Tun und Hoffen und Herzeleid der Mensch endlich sterben muß. Ein mächtiger Chorus in volksweiter Harmonie öffnet seine Lippen und starrt zum Himmel und verzweifelt auf den Leichnam, dessen Leben rätselhaft entwichen, und es geht ein wahres Getümmel der Erdennot und Trübsal langsam durchs Tal und in jedes Herz. Und wie ich weiterfuhr, klang in mir Chopins Trauermarsch nach, und ein junger Mann im Vorbeigehen pfiff ebenfalls seine Melodie. – Was ist doch der Tod für ein ewiges Rätsel! Was ist doch das Menschenleben, daß es der Tod dem endlichen Blicke entzieht!

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Als ich Bach hörte, dieses trotzige, starke, mächtige Fortschreiten und Aufbauen – dieses Zurücklassen selbst des Mysteriums unter sich in emportürmender Kraft – dieses seltene Quellen seelischen, neuartigen, eigenen Reichtums ohne alle Ration, frei von allen kleinlichen Nebengefühlen und Gefühlchen, nur das Innerste, Notwendige, nur die Urmächte widerspiegelnde Walten des Geistes – da fühlte ich es wie ein stählernes Bad, das alles Dürftige, Kleine, Nebensächliche, Zufällige, Eitle herauswachsen kann aus uns und allein das Diamantharte in uns leibhaftig macht.

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Wir sprachen abends über Turgenjeffs Erzählung von Radiloff, den eine Fliege, die er ungestört im halboffenen Auge der Leiche seiner Frau sitzen sieht, plötzlich so erschütterte, daß er um sein Leben rang. Bis dahin hatte er ungläubig und in einer Art Gleichgültigkeit, weil ihm das »Wissen« um den Tod nicht an sein Lebensgefühl rührte und reichte, dem Ereignis zugesehen. Einer unter uns meinte, das sei unmöglich, eine Ausgeburt dichterischer, um nicht zu sagen lügnerischer Erfindung. »Wisse man etwas, dann wisse man es. Ein anderes gibt es nicht.« Als wenn schlechthin ein jeder mein innerstes Seelenwesen bis zur letzten Erschütterung der Grundkräfte aufschließen könnte! Als wenn es keine Gabe wäre: – hinein ins Innerste und Letzte! Als wenn nicht nur die Berufensten die Schlüssel trügen ins innerste Allerheiligste und Allergrausigste der Menschenbrust, die die Menschen sonst verloren haben, oder nie besessen. Welche Menschen wirken denn überhaupt aufeinander?! Und wenn sie wirken, wirken sie mehr, als höchstens auf ihre Oberflächen? –: die dürftigen, nüchternen Verstandeswirkungen, die im Innern gar nichts fruchten und helfen, die die Menschen »gleich« machen, solange nicht ihre Abgründe sich auftun. Dagegen – wie selten greift einer da hinein! Radiloff wußte um den Tod. Aber er begriff nicht, was er wußte; er faßte und glaubte den Tod nicht. Und nun auf einmal glaubt und faßt er ihn. Der Tod erschüttert ihn, der Tod selber in leibhaftiger, sinnlicher Gestalt. Wie anders auch sollte der Tod einen nicht erschüttern, wenn man ihn mit dem innersten Wesen, faßt, greift, glaubt. Dieses Hineindringen des Todessinnes ins innerste Lebensgefühl ist ein Stück Sterben selbst – das ist mehr – unendlich mehr als »Wissen«. – So steht also auch hier der Zergliederer wider den Schauer, der Mörtelheld wider den wahren Baumeister, der nüchterne Ordner wider den begeisterten Hellseher, Aristoteles wider Platon. Überall steht eine demokratisierte Allerweltslehre für Praktiker gegen die echte, persönliche Geheimlehre, das Sonnenfeuer einer individuellen, schöpferischen Weltanschauung. Wer sich nur im bürgerlichen Leben zurechtzufinden wünscht, der mag nach der engen Ration greifen – aus der Zeit und für die Zeit. Wer sich in allem Dasein zurechtfinden und im Erkennen Ruhe finden will, der muß Zeit und Raum aufgesogen haben, wie die Sonne den Nebel, der die große Einheit ihm verhüllt, deren pulsierendes Herz er ist. –

Das ist auch die Formel des Erlösungsgefühls. Denkend kannst du nie das Rätsel des Menschenlebens, also auch das deines eigenen nicht, erschöpfen wollen. Denn jedes Leben ist eine irrationale Größe, und alles Denken ein rationales Maß. Denkend kann also auch kein Leben in Ruhe und Erlösung ausgehen, nur in Bedenken, in ewiger Skepsis. Du kannst es nur in einem ergreifen voll und ganz: wenn dein eigenstes, innerstes Wesen dein Leben glaubt, liebt, es stark, kühn, schöpferisch verklärt; wenn der Augenblick kommt, wo dein Wesen ganz ausgefüllt ist von dem persönlichsten Lebensgefühl und Lebensglauben selbst, daß du hintrittst – ein Liebender, Zeugender, Brennender – ein Erlöster – und sagen kannst: Ich stehe und falle mit dem, was ich bin, liebe, glaube, lebe. – Der Sinn des Lebens kann nicht gedacht, er kann nur mit dem ganzen Wesen erlebt sein. – Aber wer kann es ganz ausdrücken – dieses Geheimnis?! – Wenn wer – dann nur der Künstler. – Die Kunst hat kein anderes Ziel. Sie ist die Darstellerin des Wesens an sich, ohne alle Ration. Die Kunst, die uns nicht denken, die uns erleben macht im Innersten, die nicht den Verstand, die den ganzen Menschen aufschließt, erschüttert und erfüllt.

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Meunier. Zola

Wir standen lange vor Meuniers Le Grisou (Grubengas). Ein erschütternder Eindruck, diese um ihren Sohn ratlos irrende Mutter, die abgehetzt mit zerrungenen, müden Händen in der Nacht unter Leichen zu wählen hat und nun einem halb Erkenntlichen ins Gesicht sieht. – Ich will nichts weiter sagen über Meunier, ich will ihn mir nur als etwas Gewaltiges an Gestalt und Seele ins Innerste schreiben. Und will hier nur kurz den scharfen Unterschied zeichnen, den ich zwischen einem Geiste wie Meunier und Zola empfinde. Zola schildert in dem Schmied Gaucher im Assommoir den trotzigen, jungen »Ritter der Arbeit«, dann aber im Germinal den vom Industrieprozeß vergewaltigten und verelendeten Arbeitsknecht. Für ihn ist die wahre Macht außer dem Menschen, und er hat nirgend einen rechten Glauben an die Person. Nicht im Persönlichen liegt das, woran er sich hält, und wovor er sich fürchtet, nur im Milieu, in der Macht der Gesamtverhältnisse, im Ungeheuer Industrie und Kultur – ein wahrer verzehrender Knechtsdienst der höheren Einheitsordnungen, eine platonische Nichtachtung der wirklichen Lebensquellen in der Person. Es ist keine Ansicht von der Würde und kein Glaube an die Tüchtigkeit der Seele. – Und bei Meunier! Welche Größe, welche Würde, die wahre Tragödie der Arbeit! Die wahren tragischen Helden der Arbeit. Das Milieu ist nur noch ein Piedestal, auf dem sich die Tragödie der Menschenseele aufrichtet. Ein wunderbarer Glaube, eine wunderbare Liebe zu dem, was im Menschen in schwerer Arbeit vergewaltigt und erdrückt ist, zur Gutes ersehnenden Menschenseele, klingt in monumentalen Gestalten erschütternd aus. Das ist nicht sozialistische Lehre und zolaistische Menschenentwertung. Das ist das Evangelium »Mensch«, ein mächtiges Lied des Glaubens und der Liebe zum Menschenwesen, eine wahre Verklärung der gequälten Seele.

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Bei der lebendigen Menschenperson als bei dem noch ungeschiedenen Quellenborne alles Wirklichen und Scheinbaren, der einzigen unterschiedslosen Wirklichkeit alles wirklichen und scheinbaren Erlebens muß man im Anschauen und Gestalten beharren – beharren gegen die die Welt in Elemente zerstäubende Analyse der messenden Wissenschaft, wie gegen die über alles einzelne Wirkliche sich rücksichtslos ausspannenden metaphysischen Ideen. Der lebendige Mensch ist der Quellenborn alles Wirklichen und Scheinbaren, das sagt Meunier gegen Zola. Im wirklichen Menschen, in der lebendigen Persönlichkeit liegt die Überwindung aller Vergewaltigungen durch Gesellschaft und Staat, aller Knechtungen durch die erstarrende Übermacht der toten Mittel. Und eine antike Größe des ringenden Menschen hat Meunier aufgerichtet, die große Seele, deren quälendes Schicksal Erschütterung und Mitleid weckt um ihrer selbst willen, weil sie durch Leiden und Schicksal ihre Größe gewann. Das wunderbare Harmoniegefühl, daß diese Menschen in Kampf und Leiden ihren Kernwert innerlich errungen, gleicht der Wirkung echter Tragik. Zermalmt – und unendlich gehoben; im Leiden erstarkt und zur Größe geboren, zur lauten Verkündigung der Größe im Leiden. Das ist echte tragische Wirkung.

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In Zola lebt der soziale Oberflächenmensch, das Machwerk des Milieus, und der innere Mensch darin ist nach der Entwicklungstheorie im besten Falle der Affe; in Meunier lebt der Geist, der allezeit Geist ist, und der gemartert werden, aber nicht unter sich sinken kann. Zolas Menschen kämpfen einen Kampf mit der Maschine, das soziale Ungeheuer Industrie verschlingt oder degradiert sie. Meuniers Menschen kämpfen einen Kampf mit den großen, finsteren Naturgewalten und wissen sie zu bändigen, das Soziale, die Maschine ist vergessen, das Kosmische ist der gewaltige Gegner, und der Geist bleibt Sieger. Man sehe nur das Relief »Die Industrie«, mit welchen stolzen und entschlossenen Gebärden und Handreichungen diese große Zahl Männer den gemeinsamen Kampf mit einem Ziele zu führen weiß, mit wie bewußt überlegener Herrschaft hier der Geist dem ausbrechenden Element begegnet. Es ist eine Hoheit im Menschen in Kampf und Schicksal, die in der Massenwirkung zu höchstem Harmonieeindruck sich steigert.

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Es ist sehr merkwürdig, wie bei Zola auch ganz sinnfällig die Maschine im Zentrum steht, bei Meunier dagegen fast ganz zurücktritt. In seinen Bildern herrscht die Erde, die Halde, der Rauch, das Feuer, diese Elementargewalten geben der Landschaft den Charakter, alles Menschenwerk tritt zurück. Es ist nur der durch den Kampf mit den Naturmächten charakterisierte und vertiefte und stark gewordene Mensch und das Atmen und Sichregen und Aufbäumen der finsteren, kosmischen Gewalten. Meunier ist kosmologisch, nicht sozial.

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Berlin

Symphoniekonzert. Die Neunte von Beethoven. Was soll man sagen angesichts dieser gewaltig getürmten Jubelchöre aus der Höhe! – Wagners Musik zu Parsifal klang mir dagegen, als wenn die Töne und Harmonien wie Sklaven mit Ketten belastet einherschritten – und nicht aufwärts könnten – aufwärts, nur immer gebunden blieben im erdenen Bereiche; Dämonen und Riesen zwar, gewaltig und erschütterlich, aber nichts von Glauben und Traum, nichts von jenem Wundergejubel und Gejauchze in gewaltiger Harmonie, worin der ganze Menschheitslärm sich in Reinheit und hinreißender Freude aufgelöst. Wie ein Altar aus gewaltigen Tonmassen aufgetürmt und hingeschrieben in die Lüfte, auf dem es millionenzüngig lodert und wogt – diese nie ersterbende, letzte Menschheitsverheißung: »Seid umschlungen Millionen« – – – und: »Brüder, unterm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen« – – – und: »Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.« –

In Hamlet von Robertson begriff ich's von neuem. Als die Schauspieler vor dem König spielen, und der Mörder dem Schlafenden Gift ins Ohr träufelt, da war das Bild und Ereignis auf der Bühne wie ein mächtiger Gewittersturm, der heran- und ganz greifbar nahe vorüberbraust, aller Schrei, alles Erschrecken, aller Lärm war gebändigt zu einer elementaren Harmonie; die Macht der Wahrheit und des Gewissens fegte mit eisernen Ruten den gleißenden Schein auseinander, der wie Blätter im Winde in einer Staubsäule verwehte – und Hamlet und Horatio blickten in klarer Luft dem verstummenden Wirbel nach. Eine mir unvergeßliche harmonische Gewalt. – Und so auch der Schluß. Mord und Tod sind die Töne, aus denen die Schlußakkorde gewoben. Und doch, welche erhabenen Harmonien ergreifen die Seele! Mord und Tod liegt rings auf der Bühne verstreut, wie auf unsrer weiten Erde – und doch, wie ein Frühling, der seinen Thron besteigt, so ist es, als Hamlet, zu Tode wund vom Leben, auf seiner Väter Throne sitzend, noch einmal seine Arme herrschend breitet und dann seinen letzten Atemzug getan, der wahre König, den immer wieder die Welt totgehetzt, endlich mit der Krone in seinen Händen. O, wie ich da wieder begriff, was Kunst ist, die ins Lichte will, was Harmonie immer und allezeit bedeutete. Aber wer hört das Unausgekostete und Unerhörte – allezeit?!

Dazu gesellte sich noch ein malerischer Eindruck: Segantinis »Trübe Stunde«. Ein unsäglich einfaches Gemälde. Eine einsame Berghalde, steinigt. Die Sonne ist gesunken. Blaß goldene Scheine mit kaum spürbaren Rubintönen leuchten noch am Himmel und in der Schattenluft. Die Welt liegt im Schatten. Auf der sonnverlassenen Halde sitzt vor einem Heidefeuer in stilles Brüten versunken ein Mädchen auf einem Steinblock – vor ihr in mächtiger Silhouette, wie fragend und staunend und mit ihr sich nach der Sonne härmend, eine brüllende Kuh. Weiß Gott – es ist die ganze Welt – und ihr ganzer Schmerz und ihre ganze Sehnsucht – und ihre Armut – und ihr ganzer Liebesreichtum – das da in Mensch und Vieh und in den letzten Sonnenschimmern und in der schattenkühlen, sonnverlassenen Erde und in dem armen Heidefeuer zu uns vernehmlich redet. Nicht im glänzenden Außenwerk, im offenbarten innersten Geheimnis liegt die Kraft, die zu Menschenseelen eine unerhörte Sprache spricht, ob es gleich noch dieselben Worte sind und die schlichteste Welt. – Wie ich ein zweites Mal von dem Segantinischen Bilde Abschied nahm, wie von einem guten Freunde, klang's mir innen: In alle Kunst muß etwas von dem Morgenschein der Seele. –

Mir kam auch dabei in den Sinn, warum jede Kunst ihre Zeit am gewaltigsten ergriff. Ich dachte: wie können die Zukünftigen wissen, wie sehnsüchtig unsere Seele war? Wie gerade unsere Seelen nach Bergluft und Einsamkeit und Kraft und Sonne und all dem Hingegebensein an die menschenlosen, sprachlosen Wunder von Strom und Stein – und Baum und Fisch und Vogel sich mit nie gekannter Macht, wie Verbannte in ihre Heimat sich sehnten. Nur für uns gaben die Meisterwerke unserer Zeit die feinst gestimmte Antwort. Nur in diese Seelen konnten sie so ganz wie eine Harmonie in tausendfältiges wirres Durcheinanderklingen sich senken. Früher und später wird das Leben andere Seelen finden – und die Schaffenden werden für sie und aus ihnen eine andere Sprache reden – mit ähnlichen Mitteln, aber das Unausgesprochene darin muß ein anderes sein. – Oder ist doch ein Dauerndes, das immer darin klingt, und nur Mittel und Werkzeug, was sich ändert? – Und was sich geben will immer das Eine? – Beides. Beides nicht. – Es gibt nichts Bleibendes. Es gibt keine bleibende Stätte.

Zürich

Konzert von Petschnikoff. Wie schlicht und scheu er dasteht, wenn er mechanisch die Stimmung belauschend in das zu schaffende Tonbild innerlich sich verliert, unterdessen das Orchester mit seinen instrumentalen Gewalten heranbraust. Und wie es über ihn kommt! Wie selbstvergessen preßt er seine Geige wie in seine Seele hinein. Und dann ist er und seine Geige nur noch ein einziges, mächtiges Erzittern und Zucken und Beben unter den wunderbarsten, blühendsten Harmonien, die durch unsere Stunde ziehen. Wie einer, der mit dem Unsichtbaren ringt um die große Schönheit, die vielleicht gerade in diesem Augenblicke sich am wunderbarsten gebiert. Ich dachte an die »Fertigen«, die nur wissen und wollen, was sie können, und nichts weiter. Denn nie hab ich so die innerste Inbrunst des Schaffens und Zeugens, wie bei Petschnikoff, verspürt. Auch die Darstellung jedes Kunstwerkes hat ihre höchste Stunde, die aus Fleisch und Bein auflebt, und die flüchtig wie Glück und Jugend ist.

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Gestern im Kammermusikabend Beethovens A-moll-Quartett, op. 132, ein Werk seiner letzten Lebenszeiten, düster, bunt, herb, springend, ein unversöhnliches Ringen voll seltsamer, herausfordernder Motive und Harmonien. Es ist eine beinah allzu bittere Anklage und dazu ein eisernes Wollen zur Gerechtigkeit und Wahrheit und zu Gott durchzudringen, ein unerhörter Schmerz, der um Erlösung ringt, und schließlich auf dem Grunde erhabener Tempel- und Gottesklänge Tanz und Jubel findet. Aber kann man auch im Adagio vergessen, daß die verdüstertste Prophetenseele tanzt und jubelt – trotz alledem und alledem! – daß sie jubelt und doch den Felsen des erschütterndsten Schicksals, wie ihr Piedestal, unter ihren Füßen hat? – daß sie hindurchbrechen mußte zur Versöhnung und Überwindung aus dem Unversöhnlichen und Unüberwindbaren? – Der vierte Satz hat tatsächlich etwas Gesundes. Aber es ist nicht mehr das willenlos aufblühende Gesunde, das kühne Glaubensstarke, es hat alle zarteren Freuden ausgestoßen und schreitet nun hart und willensmächtig einher, es will nichts mehr wissen von Glühen und Blühen, es will trotzen wie ein todesmutiger Held. Das scheint der Sinn. –

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