Carl Hauptmann
Nächte
Carl Hauptmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Vater und Mutter sind ein schwacher Halt in diesem Leben. Vater und Mutter sind uns im innersten Ursprung geheimnisvoll verbunden, nur ein wenig näher wie alle Dinge der Welt. So nahe wie Zweige dem Aste, aus dem sie ins Licht drängen. Oder so fern auch wie die Blüte der Wurzel.

Wen die Dinge rings, die alle Lebensquellen sind, nicht halten und tragen, die großen Mütter auch von Vater und Mutter, dem werden auch Mutter und Vater weder Stärke noch Stolz ins Blut bringen können. Und er wird nicht wie eine Flamme sein, die dem Winde zum Trotz aufrecht brennt. Oder nicht der junge Blütenzweig, der sich dem Frühlingslichte sehnsüchtig entgegenstreckt. Krumm und verdorben werden seine Gänge einherkriechen.

Aber Vater und Mutter sind doch Mächte aus der Tiefe der Zeit.

Einmal, daß die einzelne, kleine Menschenseele wie ein fernes schütterndes Dröhnen heimlich den ehernen Klang vernimmt, was für tragende Gewalten Vater und Mutter ihrer Dürftigkeit und Armut seit dem ersten Lebensschreie bedeuteten.

Einmal, daß es ganz öde und trostlos um die vereinzelte Seele hallt, wie wenn die Stützen ihres sicheren Fahrzeuges plötzlich im Nachtsturm brechen, und die Welt unversehens eine große Wasserwüste scheint, nur durchfegter Raum ohne Gnade, nur springende, wälzende Wogenungetüme, die uns wie wildes Getier anspringen. Die uns nicht schonen werden, wenn wir nicht unsere letzten einsamen Kräfte im Kampfe auf Tod und Leben vergeuden.

Vater und Mutter sind mehr wie nur zärtliche Namen.

Vater und Mutter sind wie Sonne und Sterne.

Vater und Mutter. das wird nicht aufhören wie eine Sphärenmusik im Blute zu klingen.

Und wenn diese Sonne einmal untergegangen. wenn die Sterne erloschen sind, werden wir unsere Seele verdunkelt fühlen, unser Gemüt vereinsamt. Unsere Bestimmungen in der irdischen Welt hart auf uns selber gestellt. Werden wir uns aufgerufen fühlen wie Kriegsleute auf Todesposten und von einem höchsten Glücke entblößt und verarmt.

Franz war zwei Tage nicht groß aus seiner Bodenstube heraus gekommen. Er hatte in diesen Tagen wunderlicherweise in einer philosophischen Vorlesung Zuflucht gesucht. Sonst hatte er in einer sonderbaren Erstarrung, gleichsam in einer Art heimlicher Erwartung vor seinem leeren Arbeitstisch gehockt, als wenn in dieser seltsamen Lage keinerlei Tun recht verlohnte.

Da war endlich am Abend dieses sinnlosen Tages von Eduard ein eiliger Bote zu Franz gekommen.

Wer Eduards Schrift kannte, mußte gleich stutzig werden.

Eduard hatte feste Züge sonst. Garnichts Unruhiges. Auch wenn seine große Hand eilig über das Papier sprang. Seine Schrift war leicht und frei hingeworfen, gleichmäßig groß ohne alle Schnörkel. Kein Zug, als hätte der Schreiber je an Nebendinge gedacht.

Franz erkannte an diesem Abend sofort, daß eine mächtige Unruhe in Eduard der Zeichen kaum Herr geworden.

Man muß sagen, daß Franz dabei einer eigentlichen Besinnung gar nicht mehr bedurfte. Es deuchte ihn in diesem Augenblick, als wenn er Stunde um Stunde hinter verschlossener Tür mit Gesichten im inneren Blick nur auf diese zitternden Zeichen Eduards gelauert hätte.

Franz war nicht Stein. Der Strom Blut in ihm rann hastig und jäh und in Leiden. Aus seinem Blute kroch die ewige Trauer in seine Augen. Die fahle Blässe seiner Gesichtszüge, die eiskalte, bleiche Sorgenstirn erzählten keine Fröhlichkeiten. Sein Lachen hatte längst nur wie aus einem Maskengesicht heraus geklungen.

Und Eduards Brief traf jetzt einen sehr in sich verstrickten, heimlich bedrohten Menschen, der schon lange sich zwischen Bettrand und Schreibtisch mühselig in sich hinein horchend herum gedehnt. Und der gewähnt hatte, auf irgend etwas, auf das Schlimmste gefaßt zu sein.

Aber Eduards zitternde Zeichen erschreckten den bleichen Franz doch zuerst bis ins Mark.

Nur machten sie ihn unerhört entschlossen. Als wenn er mehr wüßte, als der Schreiber dieser zerrissenen, schiefen Zeilen, die von der kleinen, gebrechlichen Mutter Popjel sprachen.

Es waren nur wenige Worte. Franz hatte sich die Worte gar nicht weiter richtig angesehen.

Er sah nur gleich wie leibhaftig den braunhaarigen, ratlosen Eduard vor sich, in hoffnungslosem Insichsuchen in der Popjelschen Wohnung hin und hergehen. Manchmal wie ungezogen aufgebracht wider alle Wirrung, die um ihn daheim plötzlich aufgekommen. Und die er nicht stillen konnte, weder mit Worten noch mit Tönen. Weil Töne und Worte plötzlich ganz allen Sinn verloren hatten.

Das alles sah Franz sofort leibhaftig vor sich.

Und er gewann große Ruhe. Er tat sogleich einen Anzug an, der ihn ganz nur zu einem schlichten Studenten und zu dem Franz machte, der Frau Popjels Sohn war.

Um Franz lag gleich eine Atmosphäre, wie wenn er keines Rufes bedurft hätte, wie wenn er das Schicksal längst hätte trappen und rollen hören, mit dumpfen, eiligen Schritten.

Franz lachte. Aber ganz nur entsetzt. Ganz nur, wie ein guter Sohn lacht, den die Schrecken vor dem Tode lachen machen. Seine Augen sprachen es längst, daß Beten und Weinen nun nichts weiter helfen würde.

Er wußte es jetzt, daß er diese ganzen Tage eine feine Witterung gehabt.

Und er war zufrieden. Er hatte sich die ganze Zeit nicht besudelt, seit der Leichenwagen durch die Straßen zog. Schon vorher in der Nacht war es gewesen, daß in ihm etwas wie eine Drohung oder auch wie eine Verheißung aufstieg.

Er hatte ja damals auch vor der Mutter Wohnung gestanden. Er hatte das schlafende Leben der Seinen wie Gewissenshämmer durch die Wände pochen fühlen. Und er hatte gezittert einzutreten.

Wäre er nicht Franz Popjel gewesen, er hätte sich jetzt Vorwürfe gemacht, nicht schon dort dem Rufe seiner Inbrunst gefolgt zu sein.

Franz sah jetzt hart in den Lauf der Dinge.

Er lachte wieder, weil er an Eduard dachte, der in Sorgen des Lebens linkisch und zerfahren war. Der edle, kindlich heitere Musiker, der in der Welt klingender Hirngespinste ein Meister war. Oh! die Schrift verriet ihn jetzt. Eduard hatte in Angst und Bedrohung geschrieben. Mutter Popjel war erkrankt.

Franz fühlte jetzt hart, daß er mehr wußte, als nur diese kindliche Angst und Bedrohung. Franz hatte gleich eine ganz klare Schau, daß sich etwas für Eduard, aber vor allem für ihn selber vollenden müßte.

Ja, nur für ihn.

Eduard hatte der Mysterien nie ausdrücklich bedurft, die von irgendwo aus völligem Dunkel sich auf den Menschen niederlassen.

Eduard hatte zwei große Bündnisse in dieser Welt, die ihm Halt und Kraft gaben. Die Musik. Und Hellen, die demütig Liebende, die wie ein weicher Schatten um ihn ging.

»Nun ist dem geistigen, kindlichen Jungen plötzlich ein tolles Wild in sein Gehege gebrochen,« lachte Franz vor sich hin.

Franz stand vor dem Spiegel. Er legte sein schlichtes, dunkles Haar ganz an die Schläfe. Er richtete sich her wie zu einer Feier. Er sah sich tief ins Auge. Und es deuchte ihm dabei lange, als sähe er in seiner Mutter Auge und auch in seines Bruders Auge tief hinein.

Seine Augen lebten ein ganz sanftes, stilles Leben, sahen entschlossen aus, und lachten einander an, weil plötzlich auf sie Verlaß schien.

Es war nur ein flüchtiges Spiel von einer Minute. Denn jetzt erst suchten Franzens Gedanken in den Schriftzügen Eduards den vollen Sinn dessen, was der Bruder eigentlich mitgeteilt.

»Die geliebte Mutter macht sich in ihren schweren Fieberträumen nur Schmerzen um Dich,« schrieb Eduard. »Komme um alles so rasch Du kannst an ihr Krankenbett!«

Das war alles, was außer der Mitteilung von der schweren Erkrankung in Eduards Briefe geschrieben stand.

»Du wirst dort sein, und ich hier,« redete es aus Franzens Munde Worte, die wie Erwägungen klangen.

»Du wirst zerfließen wie ein guter Sohn in Schmerzen oder wie eine untröstliche Frau,« sagte er vor sich hin. »Auch mir wird es ein Verhängnis werden!« sagte er und verlor sich ins Träumen.

Dann legte er ruhig Feuer in den kleinen Ofen seiner Giebelstube. Und er klappte auch ein Bibelbuch auf, das ihm die kleine Frau Popjel heimlich in seine Stube gelegt, und das er nie bisher angesehen hatte. Er las die ersten besten Zeilen.

»Man wird Weinberge pflanzen zu Samariä. Pflanzen wird man und dazu pfeifen«.

»Nein,« sagte er, »anders wird es klingen wie Spiel und Freude. Aber es wird nicht weniger gut sein!«

Und es war in Franz richtig wie eine Heiterkeit gekommen. Er schien wie ein Delinquent, der zum Tode verurteilt ist. Und der hinter den Greifbarkeiten seiner groben, irdischen Sühne sich die Tore der Seligkeit aufgetan erwartet.

So ging Franz Popjel an der kleinen Frau Popjel Krankenbett.

Und so saß er bald stumm und auf der Mutter schwache, jagende Atemzüge lauschend einsam im Krankenzimmer.

Eduard Popjel war Franz schon im Korridor entgegen gelaufen, die Augen von Tränen gerötet und ganz geduldig, als wenn Franz ein Höherer wäre. Ganz sonderbar gleich in Franzens Banne, weil Franz bleich aber wie unerschütterlich eingetreten.

Auch Hellens Augenglanz verriet Tränen.

Franz erschien beiden, die liebend und zerrissen waren, wie wenn eine Hoffnung und ein Meister der Weisheit ins Haus träte.

Und Franz hatte dann gleich der Mutter zerbrechliche Sorgenhand gehalten, die im Schlafe oder in sonst welcher Gebundenheit zuckte.

Die Augen der kleinen Frau Popjel lagen unter zerrunzelten Augenlidern. Sie vermochte lange die welken Lider nicht zu erheben. Wer weiß, wohin ihre Blicke jetzt schon wanderten?

Aber Franz wußte, daß ihre Sehnsucht noch immer mit heißer Glut ans Leben gebunden war. Der alte, faltige Mund flüsterte Worte, die auch ihm jetzt alles verrieten.

Eduard war mit ans Bett der Mutter getreten. Franzens dunkler Blick streifte ihn wie ein Verwundern. Da war Eduard zu Hellen zurück gegangen und hatte Franz mit der Mutter allein gelassen.

Nun stand Franz stumm am Bette aufrecht und sah einsam auf die feinen, dürren Lippen, die flüstern wollten und doch ohne Ton sich bewegten.

Frau Popjel war seit Tagen erkrankt. Er sah jetzt, daß nicht mehr viel Zeit war. Er fühlte jetzt wie eine unbegreifliche Feier. Vieles hatte sich erst vorher begeben müssen. Nicht eher hatte er dem Rufe seines Schicksals folgen dürfen. Und es tat ihm wohl, daß ihn niemand eher gerufen. Jetzt war er gekommen, wie ihre und seine Seele es heimlich begehrte.

Wer Franz an der kleinen Frau Popjel Bette sitzen sah, sah einen Mann, der sinnlos liebend und ohne alles Begreifen das Opfer ansah, das er gebrauchte. Als wenn der Tod, der jetzt im Raume sein Werk tat, die schwarzen Vorhangsfalten vom Allerheiligsten plötzlich zerriß, daß sein Auge ins Licht sah.

Eduard kam wieder. Er sah, daß die Mutter noch immer in ihrem gebundenen Zustande lag. Und ihre Hand in Franzes beide Hände wie eingekrallt auf den Bettrand sich stützte.

Franz hörte Eduard nicht. Er fühlte Blutwelle an Blutwelle. Er brauchte nichts als das stille, heiße Einvernehmen mit der Seele, die hinstarb. Er wußte auch, daß Seele und Gram der Mutter noch zitterte und lebte, und daß ihre Träume noch im geheimen Spiel um ihn gingen.

Eduard war eine Weile leise hin und her gegangen und hatte von neuem das Krankenzimmer verlassen.

Und Franz fühlte, daß aus dem Auge der Mutter, an dem Tore der Ewigkeit aufblickend, eine Kraft emporwuchs, noch von keinem Chemiker ausgespürt, die sein bisheriges Leben greifen, es schütteln, es um und zerwühlen und verwerfen und ihn vernichten würde wie Ozeanstürme und Wogen ein geringes Wrack.

Frau Popjels Augen waren jetzt schon groß aufgetan und sicher auf Franz gerichtet.

Die Mutteraugen sahen ihn lange an.

Es waren noch immer der kleinen Sorgendame sanfte Augen. Nur schien die Güte und Sanftheit darin unermeßlich tief. Und die Frage, die aus diesem weiten Brunnen aufstieg, schien Franz wie eine ewige Frage ohne Ende.

Franz hatte unter der Last dieser Frage seinen dunklen Kopf tief niedergebeugt. Er hatte die schwache, zitternde Hand der Mutter aus seiner Hand entgleiten lassen. Er saß wie ein reuiger Sünder abgewandt auf dem Bettrand unter den sehnsüchtigen Blicken, die sich in dieser Stunde nur noch für ihn weit aufgetan.

Die zitternde Hand der Mutter tastete jetzt nach ihm. Er wagte nicht wieder die Hand zu ergreifen, weil die Blicke der Mutter unbarmherzig unter den Lidern hervorwuchsen. Die Mutteraugen schienen ihn jetzt anzuschreien.

»Du hast Deines Vaters Gedächtnis besudelt. Du frecher Dieb!« schienen sie zu rufen.

»Du hast Deines Bruders Seelenglück hinterrücks angefallen, wie ein Raubtier, Du frecher Räuber! . . .«

Es gellte Franz in den Ohren, daß er die Hände vor das Gesicht nahm und die Augen vollends schloß.

»Du hast die Sonnenstrahlen bespien und Dein schlichtes. menschliches Leben durch stinkende Sümpfe gezogen,« hörte er hohle Anklagen in der Luft.

»Auch Deiner Mutter Gedächtnis wirst Du in alle Ewigkeit hinein beflecken!« schrie es aus den Mutteraugen.

Es war eine reine Gaukelei seines Blutes. In der Stunde der tiefsten Erregung, wie sie jetzt für ihn angebrochen, konnte er nicht mehr innen und außen unterscheiden.

In Wirklichkeit vermochte der trockene Mund der Mutter keine lauten Töne mehr hervor zu bringen. Schwach und saugend ging der letzte Atem aus ihrer röchelnden Brust.

Franz bebte und lauschte.

»Seid Brüder!« klang es zitternd an Franzens Ohr, als wenn er nicht bei sich wäre.

Franz begann die Augen weit aufzutun und der Mutter Anblick und Worte wie ein Verhungerter einzusaugen.

»Seid Brüder! wenn ich jetzt in die Seligkeit eingehe!« sagte sie mit liebender Anstrengung. »Der große, heilige Gott hat uns alle auf die steinige Erde verstoßen,« sagte sie fast mit tonlosem Atem. »Er wird uns auch wieder in seine Himmel nehmen . . . Er wird . . . uns . . . allen . . . vergeben!« mühte sie sich in tiefem Glauben auszuhauchen. Und hatte dabei mit unerwarteter Kraft Franzens Hand an ihr Herz gerissen. Und hüllte so hastig mit den letzten Atemzügen den Mantel der Sehnsucht und Gnade um ihre und seine Blößen.

Aus Franzens Augen waren Tränen gesprungen. Und dann hatte eine Ohnmacht seine Sinne ebenso jäh erlöschen machen, sodaß auch ihm die Welt versank unter der Mutter Sterbeinbrunst.

Der Mutter Herz war dabei ganz still geworden.

*           *
*

Als Eduard ins Krankenzimmer trat, erwachte Franz wie aus einer unbegreiflichen nie enden wollenden Entfremdung.

Dann standen die Brüder noch lange vor der kleinen, sanften Frau Popjel, die im Tode wie ein ruhevoller junger Engel schien.


 << zurück weiter >>