Carl Hauptmann
Nächte
Carl Hauptmann

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Sechstes Kapitel

In der Nacht, in der Erschöpfung des Blutes, waren Franz allerlei helle Menschengesichter wie gegen den Himmel auffahrend erschienen. Nicht Traumverzerrungen. Klare, stille, feierliche Gesichter, die aufdampfend wie in Nebelkleidern nach finsteren Gewittern, in irgend eine Lichtsphäre sich zerlösten.

Franz Popjel hatte lange in bleierner Gebundenheit gelegen, nichts ahnend, als nur diese seltsam aufdampfende Morgenstille. Bis er erkannte, daß alle diese Gesichter seiner Mutter Sorgenantlitz trugen.

Da war er mit einem harten Schlage nüchtern gemacht, aus dem Bette gesprungen, und ohne ein Wort stumm und bleich in die Kleider gefahren.

Es war noch eine dunkle Frühstunde, als die zähneklappernde Julie. die hagere, halbnackte Gestalt hastig in ein großes Umschlagetuch gewickelt, in schlürfenden Pantoffeln, den Schein eines offenen Ollämpchens vor sich tragend, aus dem Schatten des Hausflurs vergeblich versuchte, Franz einen Gruß nachzuwinken.

An dem Morgen war daheim keine Unruhe.

Eduard Popjel und die kleine, zernagte Sorgenfrau schliefen noch.

Der Abend des Ruhmes, den Eduard mit der Mutter im Kreise liebender, schmeichelnder Anbeter verbracht, hatte eine tiefe Entspannung verursacht.

Außerdem hatte Franz nie gemocht, wie er sich ausdrückte, seine Hochgefühle in parfümierten Salons langsam verpuffen zu lassen. Das wußten Mutter und Bruder. Und weil sie nach dem Konzert noch seine seltsamen Augen gesehen, die von den Tönen in fiebernder Glut leuchteten, hatten sie an nichts Böses gedacht, hatten sie nur stillschweigend angenommen, daß er in einem einsamen Nachtspaziergang seine Erregung langsam stille machen, und dann kommen würde.

Und Franz war gekommen.

Als Frau Popjel am Morgen spät aufwachte und noch in Nachtjacke und Häubchen die Semmeltasche von der Klinke der Korridortür herein nahm, sah sie Franzens Gehrock am Pfosten hängen und seine Lackstiefeln aus dem Dunkel glänzen.

So ging sie wieder ruhig ihren Morgengeschäften nach, hieß das Mädchen den Frühstückstisch bereiten, horchte an der Tür von Franz und dann an der von Eduard.

Sie wäre am liebsten gleich zu einem jeden mit pfiffig lächelndem Gesicht zum Morgengruße eingetreten. Unterließ es trotzdem. Nur in sich hinein lachend, als sie in der Enge des Korridors noch wieder einige Geigengänge des Konzertes leibhaftig wie flatternde Fahnenfetzen vor sich aufsteigen und verhallen hörte.

Frau Popjel hatte dann noch eine ganze halbe Stunde behaglich bei ihrer Toilette zugebracht, aber, ehe ihre Toilette beendigt war, war doch neu Unruhe gekommen. Es drängte sie, den Eindruck des Abends vor allem mit Franz zu besprechen. Sie wollte sich mit Franz an alles Einzelne erinnern. So daß sie ihre Nachtjacke noch einmal umnahm und leise zu ihm in das dämmrige Zimmer eintrat.

Wie die zarte, runzelige Sorgenfrau in Nachtjacke und Häubchen leise an Franzens Bette trat, lag da ein bleiches, im Schlafe tief eingezehrtes, junges, erhabenes Gesicht. Die große, vorgebaute Stirn schien in ihrer Bleiche noch mächtiger. Der verschlossene Mund war noch mehr wie sonst fein zusammen genommen. Die Lippen schienen so schmal wie nie im Leben. Die Wangenhaut war zart und blutleer. Die dunklen Glanzhaare umhingen geordnet die blassen, hohlen Schläfen.

Die kleine, alte Dame in der Nachtjacke sah den Tiefschlafenden mit inbrünstiger Liebe. Sie huschte eine Fliege, die sich auf die fleischige, merkwürdige Nase setzen wollte.

Aber die kräftige Nase hatte schon unwillig zu zucken begonnen. Die Augensterne hatten sich schon lächelnd aufgetan. Ein liebendes Kind war Franz erwacht.

»Mutter . . . Du bist es? . . . ist es schon spät? . . . kommst Du mich wecken?« sagte er zärtlich, und sah unschuldig und gütig aus. Sein Lächeln war mit dem Erstaunen des Erwachenden gemischt und glänzte voll Vergessen in der Mutter fröhliche Augen hinein.

Da saß die Liebe auf dem Bettrand, im Flüsterton plaudernd, leise zärtlich lachend und sein bleiches Gesicht und seine dunklen Haare mit ihren kleinen, gebrechlichen, sanften Händen wieder und wieder streichelnd.

Wie Franz dann an den hellbesonnten Frühstückstisch trat, wo Eduard schon eine Morgenzeitung eifrig studierte, kam er lachend, und die Brüder umarmten sich.

Lobens und Rühmens machte Franz gar nicht. »Damit zahlen die, die keinen Enthusiasmus des Blutes kennen. Die machen Worte.« Er umarmte Eduard neu und küßte sich mit dem Bruder.

Und Eduard nahm die Zeitung wieder auf und reichte sie Franz, indem sein junges, braunes, jetzt noch offeneres Gesicht einen koketten Charme annahm, und trotzdem aus dem heiteren Fürsichsein nicht heraus kam.

Auch das erlesene Mittagsmahl, das Eduard beim Traiteur bestellt hatte, um wie er scherzend sagte, seinen Berater und Helfer Franz einmal wirklich feiern zu können . . . womit er auf Franzens Abwesenheit vom Hoteltisch nur leise anspielte . . . erwartete Franz wie ein richtiger Schwelger. Er machte drollige Bemerkungen, als Fräulein Hellen Raddas, feierlich zum Diner angetan, in der kleinen Wohnung erschien.

Dann war die erlesenste Tafelrunde.

Eduard noch schlanker im Smoking und ein wenig linkisch die rauschende Hellen mit ihren eisigen, fröhlichen Augen und schimmernden, vollen Schultern, und ebenso schlank, aber fast neckisch, der jüngere Franz die zarte, kleine Frau Popjel zu ihrem Platze vor die duftenden Blumen führend.

Die Damen griffen die Blumen in ihre Hände. Man aß. Man sah sich in die Augen, dahinter nichts wie Zutrauen verborgen schien. Man machte Glossen über Künstler und Kunstfreunde.

»Ein bissel klatschen gehört nun einmal zum seinen Essen,« neckte Eduard.

Man lachte darüber.

Hellen erinnerte sich spitzig, daß gestern Nacht wieder der Konzertagent sie, doch die erste Dame des Abends, breitspurig zur Tafel geführt, und derart sich selber den ersten Platz angemaßt hätte.

Man sah ohne Arg ins perlende Sektglas hinein, um die unzähligen Perlen zu zählen, die aus dem eisklaren Grunde sich ewig gebaren.

Man liebte sich an dem Tage.

Franz war gerötet und wie ein fröhliches Kind auch zu Hellen.

Sie begannen ihre Fingerkräfte gegen einander zu erproben, um nur immer wieder Spaße zu treiben.

Er glättete dann ihre schöne, lange, schlanke Hand und hätte sich beinahe vergessen, einen Kuß auf die rosigen Fingernägel zu drücken wie ein Liebhaber.

Aber Eduard war launig dazwischen gefahren und hatte die Hand und den Arm, nach dem er seinerseits zärtlich darauf gestaunt hatte, schließlich scheu und verlegen werdend, doch wirklich geküßt.

Auch das machte Franz nur lachen.

Die kleine, huzelige Sorgendame, die heute nicht weniger vornehm und geistig aussah, auch jetzt gerötete Bäckchen hatte. konnte einen Augenblick ihre leise Verlegenheit nicht verbergen.

So war diese sehr flüchtige und doch sehr innige Ovation für Hellen fast zu einer Feierlichkeit geworden.

Franz machte noch immer ein großes, heiteres, gutes Kindergesicht dazu. Er saß über Stuhllehne und Tisch die Arme gelehnt und gespreizt wie auch Eduard.

Wer so die Brüder Popjel mit einander sah wie gute Jungen die Zeit vertändeln, sich mit der drollig schmollenden, gebrechlichen Mutter neckend, von dem gläsernen Lachen Hellens lustig beschienen, der wußte von keiner Nacht unter Zöllnern und Sündern, auch nichts von Diebsherbergen und Mörderhöhlen.

So fiel von Eduards Triumphe ein freundliches Licht in die Zukunft, sodaß Wochen und Monate ohne Störung unter den Popjels hin gingen.


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