Jaroslav Hasek
Von Scheidungen und anderen tröstlichen Dingen
Jaroslav Hasek

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Mein Marathonlauf.

Als ich mich vor dem Kriege in Ungarn herumtrieb, gelangte ich nach Groß-Kanisza, wo es ein Bräuhaus mit einem tschechischen Bräuer gibt, 120 Meter alte Stadtmauern und das Grab irgendeines türkischen Veziers aus der Zeit, da Groß-Kanisza der Sitz türkischer Paschas und von einem Meer ungläubiger Söldner des Prinzen Eugen von Savoy zerniert war. Der kleine Abbé, wie man diesen Metzger nannte, bombardierte die Stadt so wacker aus den Mörsern, daß eine Kugel einem Vezier auf dem Marktplaz den 164 Kopf abriß. Der Turban dieses Kopfes befindet sich im Museum von Groß-Kanisza, allein er scheint mir sehr verdächtig. Ich befürchte, daß es sich bei diesem Turban um einen ähnlichen Schwindel handelt, wie bei der Zunge Johann von Nepomuks bei uns. Er sieht überaus frisch aus. Im städtischen Museum befinden sich auch Knochen eines Kamels, auf dem der Vezier, dem jenes Mißgeschick widerfahren ist, saß. Hier tritt der Betrug bereits klar zu Tage. Nur ein verkümmertes Schaf kann solch dünne und kleine Knochen haben.

Sonst gibt es dort keine Denkwürdigkeiten. Die Straßen sind voller Staub, an der Peripherie der Stadt, wo sich Gärten befinden, stechen ganze Mückenschwärme. Eine Woche bevor ich in Groß-Kanisza anlangte, war man auf dem Gemeindeamt und im Rathaus etwa zehn Defraudationen auf die Spur gekommen und die Geschworenenperiode war mit dem Ausweis von 8 Raubmorden lokalen Charakters und 32 großen Betrügereien abgeschlossen worden. Man sieht, daß die Welle der Kultur bis hieher gedrungen war.

Im Stadtpark stachen ebenfalls die Mücken und die Honvedoffiziere in der Gartenrestauration ließen sich von den Zigeunern bis ins Unendliche ins »Ohr spielen«: Uram, uram, biro, uram – – – (Herr, Herr, Herr Richter.) Ein dummes und widerwärtiges Lied. 165

In so einer Stadt verweilt man nicht lange.

Es gelang mir ein Hotel zu finden, wo die Wanzen aus Groß-Kanisza und Umgebung einen Kongreß abhielten. Das Zimmer, das ich erhielt, zeichnete sich durch keinerlei Eleganz aus. Es befand sich darin sogar ein Waschtrog, eine Kiste auf Abfälle und eine Kanne statt eines Waschtisches.

Das ärgerte mich so, daß ich am folgenden Tag abermals in den Stadtpark ging, wo ich die Bekanntschaft eines Fräuleins aus einer achtbaren Beamtenfamilie machte. Ich stellte mich ihr als Millionär vor, der Europa aus Langweile zu Fuß bereiste. Meinen Namen habe sie sicherlich schon irgendwo gehört: »Gordon Benett.«

Sie war sehr erfreut, weil ich ein wenig magyarisch sprach. Ich ließ mich von ihr zum Abendessen einladen und mir von irgendeiner Frau aus ihrem Hause meinen Rucksack mit der schmutzigen Wäsche aus dem Hotel holen.

Der Vater des Fräuleins war ein gutmütiger, aufrichtiger Herr, die Mutter ein vertrauensseliges Geschöpf. Ein Onkel von ihnen besaß in V . . . ., wo es Weinberge gibt, Weinkellereien und deshalb hatten sie guten Wein im Hause.

Bevor ich mich betrank, versprach ich ihnen, Etelka bestimmt zu meiner Frau zu machen, nur wollte ich noch vorher zu Fuß um die Erdkugel herumgehen.

Dann, als ich mir bereits Mut angetrunken hatte, 166 schwur ich unter den Photographien ihres Großvaters und ihrer Großmutter, die im Speisezimmer hingen, daß keiner von den ungarischen Königen eine so herrliche Villa besessen habe, wie ich sie für meine Etelka am Plattensee erbauen wollte.

Noch später mußte mir ihr Vater versprechen, daß er am folgenden Tag im Amt Urlaub nehmen und mit mir zu Fuß durch Ungarn in die Türkei gehen werde, damit ich nicht am Ende in Verlust gerate.

Sie bewirteten mich außerordentlich gut und trugen mich ins Bett.

Ich erwachte erst gegen Mittag und vernahm neben mir im Zimmer einen ungewöhnlichen Lärm. Etwas wurde dort hin und her geräumt, man hörte das Öffnen und Schließen von Fächern.

Ich räkelte mich noch im Bett, als sich ein Pochen an die Türe vernehmen ließ und der Vater Fräulein Etelkas eintrat.

»Herr Gordon Benett,« sagte er mir, »alles ist schon vorbereitet, fertig und in Ordnung. Der Krankenkassenarzt hat mich lange untersucht, aber zum Schluß hat er mir doch einen zweimonatlichen Urlaub für eine Reise in den Süden verordnet. Die Papiere habe ich bereits. Die Weiber haben mir Wäsche und eine Touristenausrüstung vorbereitet, braten uns Hühner auf den Weg und morgen früh brechen wir über Ungarn nach der Türkei auf. Wohin glauben Sie, sollen wir uns von der Türkei aus wenden?« 167

Nach einer Weile kam ich zur Besinnung.

»Wir lassen uns über den Bosporus nach Kleinasien fahren,« antwortete ich, »durchwandern es ganz und gehen über Mesopotamien nach Persien. Dann klettern wir über den Himalaja und sind in Indien. Und dann über China, Korea, Kamtschatka, die Beringsbucht nach Nordamerika, von dort nach Südamerika und Patagonien. Von Patagonien lassen wir uns nach Australien übersetzen. Das durchqueren wir und lassen uns nach Südamerika übersetzen. Am Kap der Guten Hoffnung steigen wir aus und gehen nach Norden, fortwährend nach Norden, quer durch ganz Afrika nach Marokko. Von Marokko lassen wir uns nach Gibraltar übersetzen und dann geht's fortwährend nördlich über Spanien nach Frankreich. Dann wenden wir uns nach Westen über Frankreich nach der Schweiz, Tirol, Steiermark und sind wieder in Groß-Kanisza. Und wenn es Ihnen paßt, können wir uns zwei, drei Tage ausruhen und dann nach Island, Grönland, an den Nordpol und über Sibirien nach Haus gehen. Möchten Sie gern Madagaskar sehen?«

Er kratzte sich hinterm Ohr und sagte mit unsicherer Stimme: »Ist das wirklich der größte See in Australien?«

Ich nickte mit dem Kopf: »Der größte und tiefste, aber er trocknet regelmäßig alle fünftausend Jahre aus.« 168

Mit Etelka verlebte ich an jenem Tage im Garten einige glückliche Stunden. Zwischen Küssen dachte ich nach, auf welche Weise ich von hier verduften sollte. Schlimmsten Falls werde ich Herrn Czendes, bis wir morgen früh aufbrechen, hinter der Stadt weglaufen. Ich werfe den Rucksack weg und in einem kräftigen Spurt geht's über die Strasse nach Balaton.

Etelka hatte vollkommen verworrene geographische Begriffe. Was Herrn Czendes betrifft, bin ich überzeugt, daß er weiß, was Afrika ist. Ist es ihm vielleicht aus dem Gedächtnis geschwunden, daß dies ein Weltteil ist, so hält er Afrika wenigstens für ein Staatengebilde.

Als ich jedoch vor dem sanften Kinde meinen Reiseplan entwickelte, überzeugte ich mich, daß Australien, Indien, Korea und Kamtschatka den Blütenstaub ihrer vollkommenen Unschuld nicht befleckt hatten. Sie wußte wirklich nichts von der Welt und blieb selbst hinter dem alten Herodot zurück, der wenigstens geahnt hatte, daß es außer Griechenland noch andere Länder gibt.

Die Zeit zwischen Mittagmahl und Abendessen verstrich schnell unter lauter Versprechungen. Ich versprach ihr den präparierten Elefantenrüssel eines indischen Elefanten, das Fell sämtlicher Raubtiere, Andrées geographischen Atlas, die Schädel der Einwohner Polynesiens, Indianerskalps, Diamanten aus 169 Kapland und Rubine vom Kilimandscharo, goldene Ketten aus Peru und Chile, das Dach des Palastes des Dalajlama in Tibet, das gläserne Auge eines japanischen Mikados, ein Paar lebendiger Chinesen und Eskymos, eine ganze Negerfamilie aus Zambesi u. s. w.

Das arme Ding war ganz glücklich und stellte mir die romantischesten Fragen. Die sonderbarste war, ob in Neuseeland die städtische Wasserleitung in Ordnung sei. (In Groß-Kanisza hatte es nämlich vor ungefähr einer Woche eine Unannehmlichkeit mit den Röhren gegeben.) Mit kindlichem Liebreiz sagte sie: »Dass ich errate, wohin sich das Kaspische Meer ergießt!« Einzelheiten sind mir bereits aus dem Gedächtnis geschwunden, aber ich kann beschwören, daß sie selbst der kaltblütigste Geographieprofessor an meiner Stelle erwürgt hätte.

Das Abendessen verlief feierlich. Es war das Abschiedsmahl des Herrn Czendes mit seiner Familie. Ich kann Sie versichern, daß ich von meinem Reichtum nicht viel sprach. Ich warf nur hin: »Wenn ich noch hundertmal soviel hätte als ich habe, könnte ich mir nicht das wahre Glück oder um eine Tasse Chokolade mehr kaufen.«

Bewunderung erregten meine zerrissenen Schuhe. »Das Nilpferd,« sagte ich, »aus dessen Leder diese Schuhe verfertigt sind, habe ich am Nil geschossen, und das ist der beste Beweis dafür, daß man auch 170 Nilpferdleder zerreißen kann. Die Behauptungen der Gelehrten bezüglich der Dauerhaftigkeit des Nilpferdleders sind lächerlich.«

»Es ist interessant,« fuhr ich fort, indem ich auf die Flicklappen auf den Ellbogen meines Rockes zeigte, »daß ich in den größten Touristenklubs Englands keine aristokratische Dame gefunden habe, die Röcke flicken kann, obwohl ich zehnmal zu Fuß durch ganz England gegangen bin.«

»Wenn sie mich wenigstens hinauswerfen würden,« dachte ich, während ich ängstlich beobachtete, wie die ganze Familie an meinen Lippen hing und alles glaubte, »oder wenn sie wenigstens die Polizei rufen würden.«

Allein sie fuhren fort die mannigfachsten Fragen an mich zu richten: »Sind Ihre Eltern noch am Leben?«

»Mein Vater,« sagte ich, »hat Vernes Roman: ›Die Reise auf den Mond‹ gelesen und wollte ihn in die Tat umsetzen. Er ließ sich einen Mörser anfertigen und hat sich mittels einer Pulverladung auf den Mond schießen lassen. Seit jener Zeit sind acht Jahre verstrichen und er ist noch nicht zurückgekehrt. Wir haben keine Nachrichten von ihm. Meine Mutter ist auf ihrer Yacht »Torpedo« in die südlichen Meere gefahren, um Nachforschungen nach ihm anzustellen und fährt jetzt auf einer Eisscholle durch den Ozean.«

»Jetzt flieg ich schon sicher heraus,« dachte ich 171 vertrauensvoll, aber statt dessen fragte mich Etelka: »Haben Sie keine Schwester?«

»Meine Schwester hat den amerikanischen Präsidenten geheiratet,« entgegnete ich, »aber sie ist nicht glücklich mit ihm, denn sie hat sich in den berühmten Sänger Caruso verliebt, dem sie auf Sumatra einen Großgrundbesitz und eine Farm zur Zucht von Tigern und Jaguaren gekauft hat.«

»Jetzt,« denke ich, »müssen sie schon um die Polizei schicken.«

»Wir haben jeder unsere Sorgen,« sagte Frau Czendes, indem sie mich mit einem warmen, mütterlichen Blick anschaute, »in jeder Familie gibts Etwas. Haben Sie einen Bruder?«

»Mein Bruder ist ein Sonderling. Er hat sein ganzes ungeheures Vermögen verschenkt und ist Beamter der Bank ›Slawia‹ in Prag.

»Jetzt werfen sie mich heraus,« sagte ich mir vertrauensselig, aber statt dessen ließ sich Herr Czendes vernehmen: »Wohin werden Sie mit Etelka die Hochzeitsreise machen, bis wir zurückkommen?«

»Nach Zanzibar und nach Arabien,« antwortete ich, »in Italien ist es zu heiß. Außerdem sind die Araber ein gastfreundliches Volk.«

Ich trank, daß in der Sahara Wälder emporgewachsen wären, denn ich nahm an, daß es mir gelingen werde, ein delirium tremens zu bekommen, sodaß man mich ins Krankenhaus schaffen werde. Statt 172 dessen schlief ich auf dem Stuhl ein. Man brachte mich behutsam zu Bett.

* * *

Früh am Morgen weckte mich Herr Czendes. Er war bereits fix und fertig und seine Gestalt sah in dem Touristenanzug recht lächerlich aus. Nach dem Frühstück, während dessen Frau Czendes und Fräulein Etelka nicht weinten, sondern brüllten, traten wir aus dem Haus auf die Straße, die nach Balaton führt.

Sie begleiteten uns bis zu den letzten Gärten der Stadt, wobei sie ununterbrochen jammerten und wimmerten.

»Gib auf Herrn Gordon Benett acht,« ermahnte die Frau Herrn Czendes noch zum Abschied und wir waren allein.

Vor uns breitete sich die Landschaft zum Plattensee zu aus, die weiße, staubige Straße zog sich ins Unendliche. Die Maulbeerbäume waren voller Staub, das von der Sonnenglut verbrannte Gras sah traurig aus, und in meiner Seele reifte der Plan zur Flucht.

»Sind Sie ein guter Fußgänger?« fragte ich Herrn Czendes.

»Ein ausgezeichneter, Herr Gordon Benett,« antwortete er; »ich pflegte vor Jahren in Sopron für 173 den dortigen Leichtathletikklub um die Wette zu laufen.«

Ich biß mich in die Lippen. Wir erklommen einen kleinen Hügel, die Straße senkte sich. Ich begann zu laufen.

Herr Czendes rief mir nach: »Ich versteh schon, Herr Gordon Benett. Wer von uns früher in Balaton sein wird. Ein 40 km Lauf!«

Er rannte mir nach. Ich lief zehn Kilometer mit einem Vorsprung von nicht mehr und nicht weniger als zehn Metern. Beim zwölften Kilometer hinter Mezölagem holte er mich ein und lief dicht neben mir. Beim fünfzehnten Kilometer überholte ich ihn um gute fünfzig Meter, eine Entfernung, die sich in Bodafal auf fünf verminderte.

Zweiundzwanzig Kilometer liefen wir wieder nebeneinander, nach dem dreißigsten Kilometer verlor ich ihn aus den Augen. Meine Kräfte waren erschöpft. Ein Weilchen ruhte ich aus, dann lief ich weiter. An der Weilchen ruhte ich aus, dann lief ich weiter. An der Straßenbiegung tauchte Herr Czendes auf und etwa hundert Meter hinter ihm irgendein Mann, der ihn einzuholen suchte. In der Ferne konnte man noch einige Personen laufen sehen. Ich vermochte mir dies nicht zu erklären und es begann mich zu beunruhigen.

Ich stürzte vorwärts. Ein Radfahrer mit einem Fähnchen in der Hand fuhr vorbei und winkte mir freundschaftlich mit der Hand: »Für welche Farben?« 174

Ich antwortete nicht und rannte weiter.

Beim achtunddreißigsten Kilometer sah ich, daß der Herr, der hinter Herrn Czendes gelaufen war, ihn überholt hatte und mir nachsetzte.

Ich spannte die letzten Kräfte an. Keuchend wie eine Lokomotive langte ich zwischen den ersten Häuschen von Balaton an.

Eine große Menschenschar bewillkommte mich bei dem 40. Kilometer mit einem Freudengebrüll. Eine Kapelle spielte den »Rakoczymarsch«.

Ich stolperte über ein über die Straße gespanntes Seil, hatte aber keine Zeit, mir die Nase an der Straße zu zerschlagen. Man fing mich auf, photographierte mich und irgendwelche Enthusiasten hoben mich auf die Schultern und trugen mich ins Hotel.

Ich konnte nicht sprechen. Man zog mich aus und schleppte mich in eine Wanne. Dann brachte man den Mann, der mich beim 38. Kilometer einzuholen versucht hatte. Fünf Minuten später brachte man Herrn Czendes mit herausgestecker Zunge, freundlich lächelnd. Er war der Dritte!

Ein unglückseliger Zufall wollte nämlich, daß der Klub für Leichtathletik in Groß-Kanisza gerade einen Marathonlauf Kanisza-Balaton veranstaltet hatte.

Es klärte sich bald auf. Man wollte uns lynchen und zum Schluss brachten uns Gendarmen auf Befehl des Herrn Stuhlrichters aus der Stadt. 175

*

Herrn Czendes bin ich erst in Albanien losgeworden, wo uns Räuber überfielen. Ich sagte ihnen, daß Herr Czendes ein bekannter Millionär sei und daß sie für ihn ein großes Lösegeld bekommen würden. Sie schleppten ihn also in die Berge und mir nahmen sie aus Dankbarkeit nur den Rucksack mit der schmutzigen Wäsche fort.

Es ist selbstverständlich, dass ich vom Schicksal Herrn Czendes nichts weiß, da mich mein Zartgefühl daran hindert, mit seiner unglücklichen Familie in Groß-Kanisza zu korrespondieren. 176

 


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