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Neunzehntes Kapitel

Der elegante Zeremonienmeister des Madrider Hofmarschallamtes erklärte ihm schon seit zwanzig Minuten die bei einem Hofkonzert zu befolgenden sehr strengen Regeln der Etikette und machte den berühmten Künstler mehrfach darauf aufmerksam, daß die Anstandsregeln des spanischen Hofes sich wesentlich von denen des Wiener Hofes unterschieden, da die angeblich spanische Etikette des Wiener Hofes in vielen Einzelheiten bedauerlicherweise von der ursprünglichen Überlieferung abweiche. Franzi benutzte eine längere Atempause des Höflings und richtete eine Frage an ihn:

»Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, wann werde ich Ihrer Majestät, der Königin, vorgestellt?«

Der Höfling fuhr zusammen.

»Vorstellen? Pardon! Wie stellt sich das der Meister vor? Ihrer Majestät können nur hoffähig gewordene Personen vorgestellt werden. Die Vorstellung von Künstlern kennt die spanische Etikette nicht.«

»So. Und wie stellen Sie sich das vor, Señor, daß ich in einem Hause Klavier spielen soll, wo ich nicht einmal die Gastgeber kenne? Das wäre meinerseits die größte Unverfrorenheit. Das kann sich vielleicht eine Zigeunerkapelle erlauben, ich nicht

»Aber bitte, geruhen Sie doch zu verstehen, es ist etikettswidrig. Der Etikette hat sich auch die Königin zu fügen. Selbst wenn sie Sie vorstellen lassen möchte, dürfte sie es nicht.«

»Sehr schade. Und ich hätte wirklich sehr gerne vor Ihrer Majestät gespielt. So muß leider das Konzert unterbleiben.«

Der Höfling sah Franzi verwundert an, als ob er einen Geisteskranken vor sich hätte. Er fand es unglaublich, daß jemand nicht begreifen sollte, was die spanische Etikette bedeutete. Aus der Türe sah er nochmals auf diesen langhaarigen Sonderling zurück, als er sich nach Erledigung seiner Angelegenheit entfernte. Franzi erhielt noch am selben Tage eine Einladung von der Gräfin Montijo, der ersten Hofdame der Königin Isabella. Die Gräfin empfing ihn außerordentlich liebenswürdig und sprach ihn englisch an, weil sie aus Schottland gebürtig war. Sie wollte mit ihm die Angelegenheit des Hofkonzertes regeln. Während der Unterhaltung kam auch die achtzehnjährige Tochter der Hausfrau zum Tee, Eugenia Montijo. Die Komtesse war so schön, daß Franzi die Sprache verlor. Aber nur für einen Augenblick. Dann verteidigte er störrisch seinen Standpunkt weiter. Er konnte die Worte sehr geschickt setzen und war um gefällige Ausdrucksformen nicht verlegen.

»Ich kann es einfach nicht tun, denn nach meiner Auffassung wäre das für Ihre Majestät eine große Beleidigung. Das könnte ja scheinen, als ob ich Ihrer Majestät, der Königin, zutrauen würde, daß sie zwischen einem Schwertschlucker und einem Klavierkünstler keinen Unterschied zu machen wüßte.«

»Selbstverständlich kann sie einen Unterschied machen. Aber die Etikette ist nun einmal so streng.«

»Dann muß eben diese Etikette geändert werden.«

Die Gräfin Montijo lachte herzlich über diesen Scherz. Der Meister aber lachte nicht mit. Offensichtlich glaubte er ernsthaft daran, daß man seinetwegen die spanische Etikette ändern müsse. Die Hofdame begann deshalb zunächst von etwas anderem zu sprechen. Die Welterfahrenheit des Gastes, sein jedem Höfling überlegenes weltmännisches Benehmen und sein lebendiger Geist rissen sie vollständig mit. Dann kam sie wiederum auf die heikle Frage des Empfanges zurück. Umsonst. Der hartnäckige Künstler blieb dabei, daß er in einem Hause, wo er nicht vorgestellt sei, nicht spielen könne. Die Gräfin Montijo konnte ihrem Auftrage, ihn umzustimmen, nicht genügen. Und der stolze Klavierkünstler trug den Sieg davon. Das Unglaubliche und Unvorstellbare geschah: ein Musiker besiegte die spanische Etikette. Im Hofmarschallamt waren drei Männer bemüht, in nächtlicher Arbeit in den Annalen der vergangenen Jahrhunderte ein Musterbeispiel zu finden. Sie fanden aber keins. Die Träger der spanischen Krone hatten sich bis jetzt noch nicht erdreistet, einen Künstler hoffähig zu machen. Und nun geschah es: das Hofmarschallamt Ihrer Katholischen Majestät, der Königin Isabella, ließ zähneknirschend aber höflich Dr. Francisco Liszt wissen, daß Ihre Majestät ihn dann und dann in diesem und diesem Saal des »Palacio Real« empfangen würde. Der Dr. Francisco Liszt ging auch hin und führte gewandt die vorgeschriebene höfische Ehrfurchtserweisung vor der Königin aus. Als er sich aufrichtete, stand er einem vierzehnjährigen Mädchen gegenüber. Gegen diesen Backfisch hatten also Fürst Lichnowsky und Graf Teleki an der Seite des Don Carlos gekämpft! … Aber auch die Mutter Ihrer Katholischen Majestät, die Regentin Maria Christina, war anwesend, ferner die Gräfin Montijo, ein General mit düsterer Miene, der Beichtvater des Hofes und noch viele andere. Der Besuch währte vier Minuten, aber er hatte stattgefunden. Die vierzehnjährige Herrscherin setzte sich sogar so weit über die Etikette ihres Hofes hinweg, daß sie dem Künstler beim Abschied die Hand zum Kusse reichte. Man hörte förmlich, wie das Gebäude des »Palacio Real« in allen seinen Fugen erzitterte, als die Hand des Berufsmusikers die spanische Bourbonenhand berührte. Nunmehr stand dem Konzert am Hofe kein Hindernis mehr im Wege. Der Hof war von dem bewunderungswürdigen Spiel des Künstlers so bezaubert, daß ihn die Königin Isabella mit dem Ritterorden Karls III. auszeichnete und ihm außerdem noch eine Brillantnadel zum Geschenk machte. Die Erfolge der öffentlichen Konzerte standen dem Hofkonzert in nichts nach. Leidenschaftlich und begeistert pries Madrid das Klavierwunder. In einem der vielen an ihn gerichteten Gedichte las er:

» El genio non ha patria, é d'ogni suolo,
In Spania il gran Liszt é un Spagnuolo.
«

Das heißt: Das Genie hat kein Vaterland, ihm gehört die ganze Welt. In Spanien ist der große Liszt ein Spanier. Er freute sich dieser höflichen Geste. Er fand überhaupt, daß die spanische Nation in vielem der ungarischen ähnlich war. Ritterlichkeit, Stolz, Herrentum, Gastfreundschaft, ja sogar die stark gewürzte Küche fand er hier wie dort. An Madrid reihten sich die anderen Städte: Cordova mit dem Wunder des schwarz-weißen Säulenhaines und den maurischen Minaretts, Sevilla mit der Farbenpracht der glänzenden Trachten und den interessanten Zigeunern, Valencia mit den unübersehbaren Orangenwäldern, Cadiz mit den von Byron gepriesenen auffallend schönen Frauen, Gibraltar mit seinem herrlichen Hafen … Hier bestieg er ein Schiff und erlebte einen fürchterlichen Sturm bis Lissabon.

Der portugiesische Hof zeichnete ihn ebenfalls auf jede nur erdenkliche Art und Weise aus. Auch hier saß eine Frau auf dem Thron, die den schönen Namen »Maria II. da Gloria« trug. Der Künstler verließ Lissabon als Ritter des Christus-Ordens, in seiner Tasche eine von Diamanten funkelnde goldene Tabaksdose, mit der ihn die Königin beschenkt hatte.

Aber weiter, nur immer weiter. Märchenhafte Palmenhaine am Meeresstrand, großer Erfolg: Alicante. Viele Kirchen, ungewöhnlich lebhafter Verkehr auf den Straßen, großer Erfolg: Malaga. Großstädtische Matrosenspelunken, großer Erfolg: Barcelona. Spanische Paßrevision, Marseille, Lyon und eine ganze Reihe französischer Städte.

Aber auf all diesen Reisen, im Wirrwarr der Musik und des Beifalls, klangen ihm immer wieder Lilines Worte in den Ohren: »Suchen Sie sich eine würdige Lebensgefährtin, gründen Sie sich ein Heim und arbeiten Sie.« Diese Worte hatten Widerhall in seinem Herzen gefunden und faßten in ihm immer tiefer und tiefer Wurzel. Er fing an, darüber nachzudenken, daß es gar kein so schlechter Gedanke wäre, sich zu verheiraten. Man müßte nur die Lebensgefährtin gescheit auswählen, durch das ehrliche Verlangen nach Frieden und Arbeit den für das ganze Leben geltenden Bund befestigen und nach katholischer Auffassung die Heiligkeit der Ehe wahren. Aber gab es denn so ein Frau? Sicherlich. Es gab genug vornehme, schöne, gescheite und gute Frauen auf der ganzen Welt, es galt nur unter ihnen die richtige zu finden. Eine große Liebe war dazu gar nicht notwendig, die große Liebe verbrennt einem nur den Mund. Ganz abgesehen davon, daß er einer großen Liebe auch nicht mehr fähig war. Alles, was rein, ideal und erhaben in der Liebe war, hatte er für ewig Liline geschenkt. Und was das Leben daraus machte, alle damit verbundene Trübsal und Not, das spürte er heute noch in sich, – seit der Trennung von Marie.

Da fiel ihm Valentine, die Nichte Lamartines, mit ihrem vollen Namen Komtesse Valentine Cessiat, ein. Er kannte sie schon lange, wenn auch nur oberflächlich. Das schöne, ernste, stille Mädchen hatte auf ihn stets einen sehr sympathischen Eindruck gemacht. Er stellte sich ihre hohe Gestalt vor, ihre ein wenig harten, aber gleichmäßigen Züge, ihr tadelloses Klavierspiel und die unauffällige und trotzdem allumfassende Besorgnis, mit der die Nichte das alltägliche Leben des berühmten Dichters erwärmte. Das wäre sicher keine schlechte Lebensgefährtin. Einige zwischen zwei Konzertreisen fallende freie Tage benutzend, reiste er nach Monceau, wo Lamartine ein schönes Schloß bewohnte.

Der alternde Dichter empfing den Gast aufs freundschaftlichste. Der große, breitschultrige Dichter mit dem ausdrucksvollen Kopf und den weißen Schläfen saß auch heute noch, wie er es gewohnt war, in seinem großen Wohnzimmer im Erdgeschoß, umgeben von seinen Hunden. Soviel Möbelstücke und Teppiche, – soviele Hunde, der Gast fand kaum eine Sitzgelegenheit für sich. Die schweigsame, ergraute Gattin des Dichters hielt sich den ganzen Tag in ihrem Zimmer auf, hier war Valentine um den Dichter schweigsam besorgt. Der Dichter kam bald auf das sie beide am meisten interessierende Thema zu sprechen: auf die Gegensätze zwischen der Kirche und dem von ihm selbst aufgebauten Katholizismus. Seit seiner ersten religiösen Schrift hatte es Lamartine auch weit gebracht. Die Kirche setzte ihn auf den Index. Die dem Klerus nahestehende Partei verbreitete Flugblätter mit heftigen Protesten gegen ihn, sie stöberten die alten Geschichten von der Spielleidenschaft seiner Jugend auf, sie warfen ihm vor, das bekannte Liebesverhältnis seiner Jugendjahre wäre durch materielle Interessen bedingt gewesen. Er aber verkündete unentwegt seinen eigenen Katholizismus weiter, griff das Cölibat au und verherrlichte die strengste Familienmoral, die die wertvollste Grundlage der menschlichen Gemeinschaft bilde.

Genau das hätte der Gast für sein Leben gern verwirklicht, diese strenge Familienmoral. Je länger er Valentine ansah, um so mehr gefiel sie ihm. Sprechen konnte er kaum mit ihr, denn Lamartine nahm entweder ihn oder das Mädchen in Anspruch. An der Tafel im Speisesaal konnten sie sich nur zu viert unterhalten, besser gesagt, nur zu dritt, denn Frau Lamartine saß mit starrem Gesicht wortlos unter ihnen, als ob sie das Gelübde ewigen Schweigens abgelegt hätte, und verzog sich sofort nach dem Essen gleich einem ein dunkles Geheimnis verbergenden Schatten. Während der Tischgespräche zeigte sich die Komtesse als geistig sehr hochstehendes, literarisch interessiertes und musikalisch gebildetes Mädchen. Jede Minute des Zusammenseins mit ihr bestärkte ihn in der Überzeugung, daß das die Frau sei, die er suche. Sie zu heiraten wäre eine ebenso vernünftige wie nützliche Sache gewesen. Er hatte mit der Komtesse noch nicht ein einziges Mal vertraulich sprechen können, da überlegte er sich schon, wo er für die Monate, in denen er nicht an Weimar gebunden war, sein ständiges Heim begründen könnte. Und wenn er es auch nicht durch Worte sagen konnte, so bemühten sich doch seine Augen, Valentine seine Neigung zu verraten. Das junge Mädchen errötete tief unter dem sengenden Blick seiner blauen Augen.

Endlich, am Vormittag des dritten Tages, konnte er mit Valentine eine Aussprache unter vier Augen herbeiführen. Der Dichter war auf seinem morgendlichen Ausritt mit seiner Hundemeute unterwegs, und sie beide trafen sich im Garten. Es war Ende Mai, die Sonne schien golden, die Blumen blühten.

»Was meinen Sie, Komtesse«, fragte er nach einigen nichtssagenden Sätzen, »bin ich Ihnen ebenso angenehm wie Sie mir?«

Valentine errötete. Ihre Hand, die gerade nach den Blättern eines Rosenstrauches griff, zitterte.

»Woher soll ich das wissen?«

»Es wäre nämlich sehr wichtig zu wissen, ob Sie mich leiden mögen oder nicht, weil ich Sie heiraten möchte.«

Das Mädchen war eher erschrocken als alles andere. Sie war zu bedauern in ihrer grenzenlosen Verlegenheit. Franzi bemühte sich, sie durch den leichten Ton seiner Worte zu beruhigen. Er erzählte, wie sehr er unter den Beschwerden der Virtuosenlaufbahn leide, wie sehr er sich nach einem Heim sehne, nach seiner lieben und vertrauten Arbeit. Wenn er so mit ansehe, wie ordentlich Valentine mit Feder und Tinte des Dichters umginge, wie sie, unausgesprochenen Wünschen des Dichters gehorchend, die Fenster öffne und wieder schließe, was für ein würdiger Gefährte sie dem schaffenden Künstler sei, dann könne er sich des Gefühles nicht erwehren, daß der liebe Gott sie füreinander geschaffen habe. Von materiellen Dingen brauche man nicht zu sprechen, er könne seiner Frau ein überreiches, bequemes Leben sichern.

»Ich habe nur einen einzigen Fehler«, ergänzte er endlich, »ich liebe den Kognak. Sie werden mir das aber schon abgewöhnen. Jetzt aber sagen Sie schnell ja, denn ich möchte mich so schnell wie möglich trauen lassen.«

»Ich kann jetzt nicht antworten«, erwiderte die Komtesse ruhig mit gesenktem Blick, »denn hier ist nicht nur von uns beiden die Rede.«

»Sondern von wem noch?«

»Von ihm. Von meinem Onkel Alfons. Er betrachtet mich als seine Tochter. Er behauptet, daß ich den zwei Frauen sehr ähnlich sähe, die er in seinem Leben am meisten geliebt habe: seiner Mutter und seiner verstorbenen Tochter. Er pflegt auch zu sagen, daß ich zur selben Zeit geboren sei, wie seine Lieblingsarbeit, die ›Meditations‹. Wenn ich ihn verließe, würde ich ihn schwer erschüttern. Er kann mich bei seiner Arbeit nicht mehr entbehren. Es ist nicht so leicht, dieses Ja zu sagen. Ich muß nachdenken.«

»Gut. Überlegen Sie es sich den ganzen Tag. Morgen früh treffen wir uns genau hier wieder.«

Valentine nickte ernst und eilte weg. Franzi schaute der schlanken Gestalt nach. Zu gleicher Zeit erblickte er das Gesicht Lamartines, der sie vom Fenster aus beobachtet hatte. Das Gesicht verschwand sofort wieder, aber der Ausdruck dieses Gesichtes blieb deutlich vor seinen Augen. Eine heimliche, verschmitzte Siegesfreude stand auf diesem Gesicht geschrieben. Innerhalb einer Sekunde erkannte Franzi das Drama dieser Familie: Lamartine, der fast Sechzigjährige, hatte sich in seine zwanzigjährige Nichte verliebt. Er selbst wußte es vielleicht gar nicht und verherrlichte möglicherweise gerade deswegen aus der spontanen Regung seines Gewissens heraus die strengste Familienmoral. Seine unter den Qualen des Alters leidende stille Frau aber wußte es. Und jetzt tauchte er auf, der Fremde, der dieses Mädchen vielleicht von hier fortnehmen würde, damit die Frau ihren Platz an der Seite ihres Mannes zurückerhalte, von dem sie verstoßen war …

Den ganzen Tag beobachtete er die kleine Familie und sann über sie nach. Unzählige Kleinigkeiten bestätigten seine Ahnung. Frau Lamartine kam ihm mit auffallender Liebenswürdigkeit entgegen, aus ihren Augen sprühte förmlich die erregte Erwartung. Auch die zärtlichen Blicke des Dichters entgingen ihm nicht; sie verrieten den leidenschaftlich verliebten Mann. Franzi empfand mit einem Male ein tiefes Mitleid mit ihm. Was sollte aus diesem empfindsamen, leicht verbitterten Mann werden, wenn er ihm den Abendstern, den letzten Glanz seines Lebens, raubte? Aber auch der männliche Wetteifer erwachte in ihm, das Faustrecht des Starken. Nicht ihn zu wählen, wenn er an dem Wettbewerb teilnahm? Unmöglich!

Aber es war nicht unmöglich. Am anderen Tage trafen sie sich, wie verabredet, am Rosenstrauch.

»Haben Sie sich entschlossen?« fragte Franzi.

»Ich habe mich entschlossen. Seien Sie mir nicht böse und vergessen Sie mich.«

»Wie? Sie wollen nicht meine Frau werden?«

»Ich kann es nicht. Wenn ich es wagte, würde das den Tod dieses gütigen, lieben, feinen Menschen bedeuten. Das ist mein voller Ernst. Er würde zugrunde gehen. Er ist so gut zu mir, ich kann ihn nicht töten. Ich bin mir vollkommen darüber im klaren, was ich in diesem Augenblick aus meinem Leben mache. Dieser Grundbesitz, auf dem wir leben, geht langsam aber sicher dem Ruin entgegen. Wir werden zugrunde gehen. Und ich wähle trotzdem nicht Sie, sondern das Altjungferntum und die Armut. Versuchen Sie mich zu verstehen und vergessen Sie mich.«

»Ich habe Sie verstanden, Komtesse, und werde Sie nicht vergessen.«

Noch an diesem Tage fuhr er ab. Lamartine und seine Nichte verabschiedeten ihn liebevoll, Frau Lamartine dagegen mit in schweigsamer Starre verborgenem Haß. Und sie blieben zurück, um das dreifache Kreuz ihres vergifteten Lebens weiter zu tragen. Er aber fuhr weiter auf der Landstraße der großen Welt. In den ersten Tagen quälte ihn noch das Gefühl der verletzten Eitelkeit. Ihm, Franz Liszt, hatte eine mittellose Komtesse um eines alten Mannes willen einen Korb gegeben. Aber dann, als ihm die verliebten Blicke der Frauen im Konzertsaal wieder entgegenstrahlten, empfand er wieder die alte männliche Genugtuung, er lächelte. Und alsbald kam die Zeit, wo er erschrocken daran dachte, was geschehen wäre, wenn Valentine ja gesagt hätte. Dann hätte er sie heiraten müssen, – ohne Liebe. Er atmete erleichtert auf und bezeichnete diese Heiratsabsicht als sinnlose Laune. In dem Trubel der Konzerte und Reisen vergaß er endlich die ganze Geschichte.

Er vergaß aber nur diese eine Frau; die Sehnsucht, nicht mehr allein zu sein und sich seßhaft zu machen, blieb …

In Bonn wurde das Beethovendenkmal enthüllt, bei dessen Errichtung seine Stiftung ausschlaggebend gewesen war. Ein Fünftel der Sammlung hatte er der Erinnerung des großen Mannes gewidmet, dessen Weihekuß damals auf dem Konzertpodium in Wien er nie vergessen konnte.

Ernst Hähnel aus Dresden schuf dieses Denkmal, dessen Enthüllung ein Ereignis für ganz Europa war. Jedes Land entsandte die größten Männer seiner Musikwelt. Spontini, Auber, Halévy, Thomas, Mendelssohn, Schumann, Glinka, Nicolai gingen auf den Straßen der kleinen Stadt am Rheinufer auf und ab, und außer ihnen hundert und aberhundert andere Musiker. Auch Richard Wagner war da, der sich über das Wiedersehen mit Franzi außerordentlich freute. An den Feierlichkeiten nahmen auch das preußische Königspaar, die Königin Viktoria von England mit dem Prinzgemahl, das preußische Kronprinzenpaar und noch eine ganze Reihe im Purpur geborener hoher Persönlichkeiten teil.

Die musikalische Heerschau der Bonner Zeitungen ließ ganz deutlich erkennen, wer der Weltbeherrscher der Musik war. Die Alleinherrschaft des berühmten Pianisten konnte niemand in Abrede stellen. Das letzte Wort bei den Veranstaltungen sprach er, das Hauptinteresse des Publikums galt ihm, auf der Straße riefen ihm die sich zu Gruppen zusammenballenden Menschen Hochrufe zu. Bei dem großen Festkonzert dirigierte er die c-moll-Symphonie und die »Leonore«-Ouvertüre, er spielte Klavier, ihm jubelte man zu, zwischen den Großen war er der Größte, sein Ruhm kam gleich nach dem des großen Toten.

Das große Ereignis für ihn war die Aufführung seiner Festkantate, die er für die Feier in Bonn komponiert hatte. Es war eine großzügige, kühne Arbeit, sehr schwer vorzutragen und so eigenartig, daß ihr Erfolg zu bezweifeln war. Von Stadt zu Stadt reisend, hatte er daran gearbeitet, einen Teil schrieb er in Lyon, einen anderen Teil in Avignon, manches war in Kolmar und anderes in Mülhausen entstanden. Er hatte seine ganze Liebe zu Beethoven in dieses Werk hineingelegt. Es war ein leuchtender Beweis für seine heilige Überzeugung, daß ein wirklicher Künstler nur das sagen dürfe, was kein anderer vor ihm jemals gesagt habe.

Es wurden ihm nur wenig Proben zugestanden, die Musiker und Sänger übten dieses sonderbare Werk, das sie nicht verstanden und an das sie nicht glaubten, ohne jede Begeisterung ein. Sie mußten irgendwie gegen den Komponisten aufgewiegelt worden sein. Dazu kam noch, daß Franzi seine Proben auf eine sehr eigentümliche Art abhielt. Seine Anordnungen wurden einfach als Marotte betrachtet. Er klopfte das Ganze zum Beispiel ab und rief den Bläsern zu:

»Legen Sie mehr Blau hinein, meine Herren! So ist es viel zu rot!«

Die Bläser schielten sich verstohlen an. Die Blicke bedeuteten: dieser Mensch ist verrückt. Dann spielten sie weiter, wie sie wollten. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß die Komposition infolge der unzulänglichen Vortragsweise durchfallen werde. Auf der Hauptprobe war jedermann davon überzeugt, und man prophezeite es nicht mehr flüsternd, sondern verkündete es rücksichtslos mit lauter Stimme. Abends fand ein großes Festbankett im Restaurant »Stern« statt. Eine Ansprache jagte die andere. Vor ihm stand die Kognakflasche. Er konnte sich nicht beherrschen und trank viel. Seine durch die tückische Probe erregten Nerven verlangten nach der Entspannung des Rausches. Er fühlte, wie die verschleiernde Kraft des Alkohols seinen Kopf umnebelte, er verbrannte sich die Finger an seiner Zigarre und gab seinen Nachbarn merkwürdige Antworten. Da riefen mehrere: »Liszt soll sprechen!« Er erhob sich. Als er sich besann, daß es leichtsinnig war, so berauscht reden zu wollen, war es schon zu spät und er konnte sich nicht wieder setzen. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, um seinen verwirrten Gedanken und seiner schwergewordenen Zunge befehlen zu können. Er redete hastig und verwickelte sich sogar dreimal in seinen überstürzten Sätzen. Endlich konnte er die Rede beenden, die statt eines Leitgedankens nur Phrasen enthielt.

»Ich hebe mein Glas zu Ehren der Nationen, die hierher gepilgert sind, zu Ehren der Engländer, Holländer, Spanier, Russen, Italiener, Wiener, – aller!«

Ein schwacher Beifall folgte der wirren Rede. Da sprang Chelard, der in Weimar angestellte französische Kapellmeister auf, derselbe, dem er bei den Weimarer Vereinbarungen die Unantastbarkeit seines Arbeitfeldes von sich aus zugesichert hatte. Sprang auf und rief französisch:

»Sie vergessen die Franzosen, mein Herr!«

Ein unheimliches Durcheinander. Die Anwesenden fingen alle auf einmal an zu schreien.

»So ist es! Sie haben recht!«

»Setzen Sie sich! Hoch Liszt!«

Ein anderer Franzose schnellte puterrot empor und kreischte zornig auf französisch:

»Die Königin Viktoria ist hier begrüßt worden, den König von Frankreich hat man aber nicht begrüßt!«

»Aber bitte,« erhob sich jetzt ein Engländer und sagte englisch: »Warum reklamieren Sie nicht auch noch den Kaiser von China und den Tatarenkhan? Die waren auch nicht da. Die haben aber ebensoviel Anspruch auf eine Huldigung, wie Ihr König mit dem Regenschirm!«

Das war das Signal zum allgemeinen Aufruhr. Die Musiker Europas brachen in tobenden Lärm aus, daß der geschmückte Saal erdröhnte. Franzi erhob sich. Er fühlte, daß er blaß war. Er wollte sprechen, um alles richtigzustellen. Er setzte an, um zu erklären, daß man ihm keine Franzosenfeindlichkeit unterstellen könne. Aber seine Worte gingen in dem Tumult unter. Da begann er auch zu schreien:

»Ungarn habe ich ja auch nicht erwähnt, obwohl ich dort geboren bin!«

Aber man schrie ihn einfach nieder. Er lallte noch ein paar Worte mit alkoholschwerer Zunge, dann fiel er vernichtet in seinen Sessel zurück. Das Festbankett löste sich auf, viele erhoben sich ostentativ und verließen den Saal. Er stierte schweigend in das brodelnde Gedränge, er wußte nicht mehr genau, was mit ihm geschah. Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter, ein anderer faßte ihn am Arm, sie geleiteten ihn nach Hause.

Mit dumpfem Kopf und pochenden Schläfen erwachte er am anderen Morgen. Er konnte seine Gedanken nur langsam sammeln. Als er sich jedoch zusammengereimt hatte, was gestern geschehen war, schämte er sich fürchterlich. Am liebsten hätte er sich selbst eine Ohrfeige gegeben. Wie konnte er bloß so tief sinken, er, der Berühmte, der Stolze? Er sann über eine schwere Buße nach, sich selbst damit zu strafen. Dann überlegte er, daß das Ganze so nicht weitergehen könne. Er mußte in seinem Leben Ordnung schaffen. Er mußte heiraten und ein anständiges, ruhiges und arbeitsames Leben führen. Schon seit sechs oder sieben Jahren beschäftigte ihn der Gedanke der großen Symphonien, und noch hatte er nicht eine einzige geschaffen.

Über seine Schande konnte er jedoch nicht lange nachdenken, er mußte sich beeilen, denn das Schlußkonzert war auf neun Uhr festgesetzt. Die Fest-Kantate dirigierte er selbst. Mit schmerzendem Kopf, ergrimmt über sich selbst, ging er dem sicheren Durchfall seiner Komposition entgegen. Da der König und sein Gefolge noch nicht erschienen war, wartete er noch mit dem Anfang. Nach stundenlangem Warten begann er endlich, ohne daß der König eingetroffen wäre. Er bemerkte sofort, daß die Musiker und Choristen gegen ihn arbeiteten. Die Einsätze waren nachlässig, das ganze Orchester trottete schleppend hinter ihm her wie ein störrischer Esel, den man an einem Strick vorwärts zu zerren versucht. Er dirigierte mit Todesverachtung. In seinem Rücken fühlte er die eisige Langweile der Zuhörer. Unter großen Qualen erreichten sie endlich den Schluß. Es war furchtbar. Dünner Beifall, schlimmer als wenn Todesstille geherrscht hätte.

Da ging Bewegung durch die Reihen, das königliche Paar erschien mit seiner Begleitung. Die Majestäten nahmen ihre Plätze ein. Da faßte er einen kühnen Gedanken. Er klopfte mit seinem Dirigentenstab auf das Notenpult und sagte zum Orchester: » Da capo!« Zögernd blätterten die Musiker ihre Noten zurück, wagten aber nicht, sich zu widersetzen. Die Zuhörer reckten die Hälse. Was sollte das? Die ganze lange Komposition wollte er wiederholen lassen? Aber in dieses Aufmucken sauste der Dirigentenstab herab. Der Chor erklang.

Seine Augen sprühten Funken, seine Nasenflügel bebten. Er dirigierte so, wie ein vollkommener Reiter ein wildes Pferd einreitet. Eine solche Willenskraft und ein solcher mitreißender Schwung strömte aus ihm heraus, daß sich die bisher nachlässigen und ungehorsamen Sänger und Musiker seiner Führung hemmungslos hingaben. Jetzt erklang die Seele in den Instrumenten. Die Einsätze erfolgten haargenau. In diesem Vortrag war Feuer und Flamme, der dirigierende Künstler zitterte von Kopf bis Fuß, und eine große Freude durchflutete ihn. Die Freude des Sieges, der Kraft und der überlegenen Macht. Als er geendet hatte, fiel er vor Erschöpfung fast um. Der dröhnende Beifall aber hielt ihn auf den Beinen. Dasselbe Publikum, das ihn vorhin durchfallen ließ, feierte jetzt dasselbe Stück mit überschwenglicher Begeisterung. Dasselbe Orchester, das vorhin noch gegen ihn gearbeitet hatte, spielte ihm einen Tusch, von der Macht des Genies unterjocht. Es war ein unglaublicher Sieg. Der Sieg eines Königs, der sich ganz allein mit bloßen Händen unter die meuternden Truppen wagt, Befehle erteilt, – und die bewaffnete Menge neigt sich tief vor ihm.

»Das gestrige Unglück ist wieder in Ordnung gebracht«, lachte Berlioz.

Franzi zuckte lächelnd seine Schultern.

»Ich darf eben alles.«

Er war auch auf sich nicht mehr böse, es fiel ihm gar nicht mehr ein, zu heiraten. Aus lauter Übermut trank er an diesem Abend bis zum Morgengrauen Sekt. Dann Konzert am Hofe. Dann Reisen. Abenteuer. Sekt. Er schlief sich nie aus, er kam und ging in der Welt zwischen Musik, Champagner und Küssen wie ein Nachtwandler. Als er in der kleinen Stadt Cleve angelangt war, verspürte er heftige Schmerzen. Unmittelbar unter seinem Brustkorb lag der Herd dieser brennenden, krampfartigen Schmerzen, die er jetzt in seinem Leben zum erstenmal empfand. Er knirschte mit den Zähnen und ballte die Faust so fest zusammen, daß seine Nägel blutige Spuren in der Handfläche hinterließen. Der nach längerem Zögern endlich doch herbeigerufene Arzt stellte Gallenkrämpfe fest, die in dem unregelmäßigen Leben, den in Bonn gehabten Aufregungen, dem Genuß zu stark gewürzter Speisen und zu reichlichen Alkohols ihren Ursprung haben mußten. Er verordnete heiße Umschläge, Ruhe und strenge Diät. Der Kranke wälzte sich hin und her und biß in die Kopfkissen vor Schmerzen. Er verfluchte sein Schicksal, daß er auf dem Gipfel seines Ruhmes in einem armseligen Hotelzimmer wie ein ausgestoßener Hund leiden mußte. Er erkannte endlich, daß auch ihm nicht »alles« erlaubt war und daß er nunmehr unter allen Umständen ein Heim brauchte.

Auf die Nachricht hin, daß er krank sei, kam die schöne Frau Calergis aus Baden-Baden zu ihm, die dort eine Villa besaß und den Sommer stets da verbrachte. Sie pflegte den Kranken, bis er wieder aufstehen konnte, dann nahm sie ihn nach Baden-Baden mit. Dort vergingen seine Gallenschmerzen vollkommen. Seine Gemütsverfassung besserte sich aber nicht. Er fand an nichts mehr Gefallen, starrte vor sich hin und hatte nicht einmal mehr zum Klavierspielen Lust. Die schöne Frau war besorgt und fing an, ihn auszufragen.

»Sie schleppen ein großes Geheimnis mit sich herum, Franzi, beichten Sie es mir doch.«

»Das ist kein Geheimnis, meine Liebe. Ich bin unsagbar müde. Seit acht Jahren bin ich nun ununterbrochen unterwegs und bei jedem Stück, das ich vortrage, mache ich die schwerste seelische Spannung durch. Ich wundere mich, daß ich nicht schon seit langem im Irrenhause bin. Seit acht Jahren … Die bloße Vorstellung ist schon fürchterlich.«

Teilnahmsvoll streichelte Frau Calergis seine Hand. Aber er achtete nicht darauf. Er dachte daran, daß er sich noch zu einer Rundreise durch Ungarn verpflichtet hatte, daß er noch nach Rumänien, nach Österreich, nach der Türkei und nach Rußland fahren mußte … Anderthalb Jahre noch, bis er das hinter sich hatte … Am liebsten hätte er geweint, so leid tat er sich selbst.


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