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Zweites Kapitel

Schon am folgenden Tage kamen sie zusammen. Und von da ab verging kein Tag, an dem sie sich nicht sahen. Der neue Freund war genau so, wie er sich das erste Mal am Klavier gezeigt hatte. Alles Rohe, Laute, Aufdringliche war ihm zuwider. Er brachte es nicht übers Herz, Shakespeare zu lesen, und sogar bei Mozart, den er anbetete, fand er Einzelheiten, über die er am liebsten hinweggesehen hätte. In Streitigkeiten ließ er sich nicht ein. Bei den heftigen Wortgefechten zwischen Franzi und Hiller verharrte er in hartnäckigem Schweigen. Bei solchen Gelegenheiten war seine Meinung nicht zu erforschen. Er war ein sonderbares, anziehendes Gemisch männlicher und fraulicher Züge. Vor dem Rauchen hegte er einen unüberwindlichen Abscheu gleich den feinen Damen in ihren moschusduftenden Boudoirs. Auf jedem Tisch, auf jedem Sims in seiner Wohnung standen frische Blumen. Seine Sparsamkeit grenzte manchmal an die Pfennigfuchserei einer kleinbürgerlichen Hausfrau; man konnte ihn sogar geizig nennen. Sein Stolz aber und seine Aufrichtigkeit waren ebenso männlich wie seine entschlossene Willenskraft. Sehr bald traten an ihm auch die Eigenschaften zutage, die sich in seiner Musik nicht offenbarten. Die Musik ließ auf einen wehmütigen, träumerischen, leicht zu Tränen gerührten Mann schließen, er aber war immer fröhlich, immer gleichmäßig in seinem Benehmen und oft überraschend geistvoll in seinen Äußerungen. Auch über eine beachtliche schauspielerische Begabung verfügte er: er konnte die Menschen in ihrer Stimme, ihrer Haltung und in ihrem Benehmen prächtig nachahmen, insbesondere seine Künstlerfreunde am Klavier, die er damit zu unwiderstehlichem Lachen hinriß.

Franzi gegenüber war er am mitteilsamsten. Stundenlang waren die beiden neuen Freunde täglich beisammen und trennten sich jedesmal mit der Versicherung, daß sie noch eine ganze Menge miteinander zu besprechen hätten. Chopin erzählte gerne von seiner Kindheit. Mit zärtlicher Liebe sprach er von seinen Eltern, seiner edlen Mutter und seinem als Franzosen geborenen Vater, der einst Maria Leszczynska, der Geliebten Napoleons, Klavierunterricht erteilt hatte. Von seiner daheim gebliebenen Schwester Luise redete er wie ein Verliebter. Er beschrieb seinem Freund das kleine polnische Dorf Zelazowa Vola, erzählte von seinen Erlebnissen als Wunderkind, erinnerte sich mit kindlicher Freude des Spitzenkragens, den er bei seinem ersten Konzert umlegen durfte, pries die Güte des Fürsten Radziwill, streifte bescheiden seine ersten großen Erfolge, schwärmte von dem vergötterten Warschau und schilderte verzweifelt den fürchterlichen Einzug der Russen. Auch Franzi gab seine Erinnerungen zum besten. Und wenn sie in ihrem Lebenslauf ähnliche Ereignisse und Verhältnisse entdeckten, dann suchte jeder sich selbst im Spiegel der Erinnerungen des anderen. Wenn Franzi von der Komtesse Saint-Cricq sprach, erzählte ihm Chopin von der Fürstin Radziwill, die so früh gestorben war. Auch er hatte bei Czerny Klavier gespielt, auch ihn hatte Paganini in seinen Bann gezogen, auch er hatte in Wien Konzerte gegeben und unauslöschliche Eindrücke von der Musik der tanzenden Bauern in seiner Heimat gewonnen.

Sie träumten beide von ihrer Kindheit. Der eine, dessen Vater als Franzose geboren war, gedachte mit brennendem Schmerz der polnischen Erde; der andere, der nicht ungarisch sprechen konnte, wurde nicht satt, die unvergeßlichen Erinnerungen an die Donau und die Pester Zigeunermusik immer und immer wieder wachzurufen.

In der Vertrautheit ihrer Gefühle fanden sie sich immer mehr, aber am Klavier kam ihnen die Verschiedenheit ihrer Veranlagung und Auffassung klar zum Bewußtsein. Den zarten Chopin erschreckte das leidenschaftliche Fortissimo Franz Liszts, sein ruheloses Forschen in den Geheimnissen des Klavieres berührte ihn fremd. Er sehnte sich nach den lichten, blauen Sphären, immer höher und höher hinauf. Franzi dagegen war in sich gekehrt, mit sehnsüchtiger Zähigkeit strebte er immer tiefer und tiefer der unter dem Boden des Lebens brodelnden Lava zu. Wenn sie am Klavier ratschlagten und diskutierten, kam immer wieder die wilde, verwegene Musik des fern in Italien weilenden Berlioz zwischen ihnen zur Sprache. Chopin ließ das ungestüme Spiel Franzis über sich ergehen und sagte dann:

»Diese Musik ist reizvoll und begabt, aber wie ein Sturm: ungezügelt und wirr.«

Als Fétis, der belgische Musikgelehrte, eine Vortragsreihe anzeigte, gingen sie beide hin. Mendelssohn war damals schon nach Hause gereist, aber Hiller und Osborn kamen mit. Fétis, der in der musikalischen Welt als unruhiger, rebellierender und streitsüchtiger Musikkritiker verschrien war, prägte ein neues musikalisches Kennwort: Omnitonie. In weitschweifigen Sätzen erörterte er etwas zunächst noch Unausgegorenes und Düsteres. Lang und breit sezierte er den Begriff des Tones und der Harmonie und kam dann zu der Feststellung, daß in der Musik der Zukunft sich bisher noch unbekannte Verbindungen von Tönen und Harmonien Geltung verschaffen würden und daß in der Harmonielehre auch solche Zusammenklänge, die bis jetzt noch niemand anzuwenden wagte, Bürgerrechte erlangen würden. Als sie von einem solchen Vortrag kamen, schüttelte Chopin den Kopf:

»Unklar. Ich weiß nicht, was er sagen will.«

»Das ist unklar?« rief Franzi. »In mir ist das klar wie die Sonne. Hören Sie mal, was ich von Pater Lamennais gelernt habe. Sie sind doch auch ein guter Katholik, Friedrich, wie ich. Dann müssen Sie es verstehen.«

Und er setzte ihm mit glühender Begeisterung die Lehren Lamennais' von der Kunst und von der Schönheit auseinander. Dann fuhr er fort:

»Sehen Sie, ich habe in mir das große, heilige Problem schon gelöst. Passen Sie auf. Wenn ein Gefühl sich innerhalb der Grenze des Schönen und Erhabenen bewegt, dann ist die wahrheitsgetreue Wiedergabe dieses Gefühles in der Kunst berechtigt, mag die Ausdrucksform sein wie sie will. Stimmt das? Oder stimmt das nicht?«

»Das mag schon stimmen. Aber als Ihr Berlioz diesen Hexentanz in sich erlebte, bewegte sich da sein Gefühl noch innerhalb der Grenze des Schönen und Erhabenen? Nein, lieber Franzi, das kann weder schön noch erhaben gewesen sein. Und deshalb hat auch dieses Gefühl eine so rohe und wilde Ausdrucksform bekommen, die ich ablehnen muß.«

Franzi dachte angestrengt nach. Er setzte dreimal an, um etwas zu erwidern, dann gab er es hoffnungslos auf.

»Das ist fürchterlich! Ich fühle, daß ich recht habe und kann es nicht in Worte fassen. Es geht mir damit so wie mit einem Vers von Victor Hugo, den ich für Orchester komponieren will. Ich fühle ganz deutlich, was ich sagen will, das Ganze schwebt fertig vor mir, und ich bin trotzdem nicht imstande, es beim Schopfe zu fassen.«

Chopin schwieg. Sie stritten nicht länger. Darin konnten sie einander nicht verstehen. Das berührte aber ihre Freundschaft nicht im geringsten. Sie hatten sich sehr gerne. Chopin liebte das Feuer, den Schwung und die Leidenschaftlichkeit seines Freundes, und Liszt liebte das angeborene Herrentum des Polen, die Feinheit seines Empfindens, seine liebenswürdige Boshaftigkeit und seine slawische Glaubenskraft. Mit der beschwingten, farbenprächtigen Welt seiner Mazurken stand es in seltsamem Einklang, daß er seine Briefe, die er nach Hause schrieb, mit Frederyk Szopen unterzeichnete. Ein Buch, das bei ihm herumlag, trug den Titel: » Grammatika niemiecka.« Daraus versuchte er deutsch zu lernen. Einer seiner polnischen Bekannten schrieb seinen Namen »Szulc«, man mußte ihn aber »Schulz« aussprechen. Überhaupt trafen sich viele Polen in der Wohnung Friedrichs, und ihre weiche, melodische Sprache gefiel Franzis anspruchsvollen Ohren ausnehmend gut. Er bat sie ab und zu, ihm polnische Gedichte vorzutragen, und stolz deklamierten sie Gedichte ihres großen Dichters Mickiewicz. Diese Gedichte hörte er wegen ihres melodischen Klanges zu gerne, wenn er sie auch nicht verstand. Als ihn aber die anderen baten, er möge einige Gedichte aus seiner Heimat vortragen, erklärte er bedauernd, daß er nicht ungarisch könne.

»Wissen Sie«, fragte man ihn, »daß einer unserer Könige ein Ungar war?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte er verwundert. »Wer?«

»Stefan Bathory. Wir dagegen haben dem ungarischen Throne die Jagellonen gegeben. Wissen Sie das nicht?«

»Ich habe es nicht gelesen. Aber ich kenne etwas anderes.«

Er setzte sich ans Klavier und spielte ihnen die immer noch aus seiner Kindheit in seinem Herzen unverändert summenden Zigeunerweisen vor. Dann löste ihn Chopin ab und spielte Mazurken. Franzi lernte den Ausspruch: » Wegier, polak twoj bratanek.«

Wie die beiden Freunde in ihrer musikalischen Auffassung getrennte Wege gingen, so waren sie auch in religiösen Dingen verschiedener Meinung. Franzi hätte seinen Freund gern dem Pater Lamennais zugeführt, Chopin zögerte aber. Sein Katholizismus war ein ganz anderer. Er bewahrte sich seinen aus der Kindheit mitgebrachten starken Glauben und fühlte sich darin wohl, ohne ihn mit sinnender Klügelei anzutasten, wie er ja auch über die Luft nicht nachdachte, die er einatmete. Franzi aber erforschte, lernte und prüfte seinen Glauben ebenso wie das Klavier. Zur Zeit stimmte er ohne Einschränkung allem bei, was er von Pater Lamennais während der laugen, gemeinsamen Spaziergänge gehört hatte. Als der »Avenir«, das Blatt des Abbé, einen Aufruf erließ, die Kirche möge zur idealen Armut des Evangeliums zurückkehren, und die steinreichen hohen Würdenträger der Kirche als Erwiderung darauf eine in scharfem Tone verfaßte Deklaration veröffentlichten, sagte Chopin:

»Sehen Sie, Franzi, warum soll ich mich durch Ihren Abbé stören lassen? Als erster hat zum Beispiel der Bischof von Toulouse diese Deklaration unterzeichnet. Mir ist das maßgebend, was ein Bischof sagt. Dieser Lamennais soll mir meinen geliebten Glauben lassen und nicht darin herumstöbern.«

Franzi aber lief aufgeregt in die Redaktion des »Avenir«:

»Man wird Ihnen doch nichts in den Weg legen, Pater?«

»Ganz im Gegenteil. Ich beginne erst jetzt zu siegen. Diese unersättlichen Pfaffensäcke verhelfen mir dazu, daß Seine Heiligkeit der Papst von meinen Lehren Kenntnis erhält. Ich will selbst zum Papst Gregor gehen, denn daß ich den Heiligen Vater, der gut und edel ist, überzeugen werde, bezweifle ich nicht. Freuen Sie sich mit mir, mein lieber Sohn, diese Welt, in der Sie musizieren, wird eine schönere und bessere sein.«

Und eines Tages begab sich der Abbé mit seinen beiden engsten Mitarbeitern tatsächlich nach Rom. Vom päpstlichen Hofe hatte er die Mitteilung erhalten, daß der Heilige Vater sie empfangen werde. Franzi gab ihm das Geleit bis an die Postkutsche. Er umarmte den Abbé und küßte ihm die Hand. Jetzt war nicht nur der lang entbehrte Berlioz in Italien, sondern auch noch Pater Lamennais.

Er spürte aber ihre Abwesenheit kaum, weil seine Zeit ganz ausgefüllt war. Hatten die vornehmen Häuser der Aristokratie ihn schon früher gern gesehen, so kam er jetzt, mit Chopin zusammen, erst recht in Mode. Überall lud man sie gemeinsam ein wie die Dioskuren. Sie saßen nebeneinander. Im silbersternigen Salon der Herzogin Belgiojoso und zwischen den Gobelins der Herzogin Durras. Sehr oft waren sie Gäste des Grafen Apponyi in der österreichischen Botschaft, des polnischen Grafen Plater, im Schloß De la Grange und im Schloß De Bourdonnaye. Auch Hiller wurde als ihr Freund gemeinsam mit ihnen eingeladen. Sie saßen abwechselnd am Klavier, und allen wurde gleich starker Beifall gespendet. Um sie herum flutete heitere Geselligkeit. Die Romantiker besprachen den literarischen Klatsch, die steifen alten Herren prahlten von ihren Schlachten, Anekdoten über Liebesaffären in der Gesellschaft wurden herumgereicht, und überall wurde heftig politisiert. In den Vororten erhob die Cholera das Haupt, die Republikaner schienen das blutige Spiel der Barrikadenkämpfe wieder aufnehmen zu wollen, in der Gesellschaft gingen vertrauliche Nachrichten von Mund zu Mund, daß die Herzogin von Berry wieder in Frankreich sei, daß die Legitimisten sich heftig rührten und der Sohn der Herzogin, der Graf Chambord, Ludwig Philipp von Orleans vom Throne der Bourbonen bald wieder herabstoßen werde. Die beiden Künstler, die der Strom des musikalischen Lebens an die Ufer der Seine getrieben hatte, bewegten sich unbekümmert in dieser von herzoglichen und gräflichen Kronen glänzenden und von prächtigen Kandelabern erleuchteten Welt. Sie kannten alle verwandtschaftlichen und erotischen Beziehungen zwischen den Herrschaften, sie nahmen an allen kleinen und großen Zerwürfnissen, Skandalen und dem Entstehen neuer Freundschaften teil. Mit halbem Ohr fingen sie Staatsgeheimnisse auf und schwammen auf der Oberfläche der vornehmsten Gesellschaft Frankreichs wie zwei Wasserrosen auf dem Teich eines gräflichen Parkes bei einem Mondscheinfest.

Jeden Schritt Franzis begleitete das Lächeln einer Frau. Das vergangene Jahr hatte ihn zu einem so schönen jungen Manne gereift, daß der Ruf seiner prächtigen Erscheinung mit seinem musikalischen Ruhm wetteiferte. Die Zeitungen schrieben von ihm als »der gepriesenen Mannesschönheit von Paris«. »Das berühmte Elfenbeinprofil Litz'« war die Bezeichnung, der sie sich gewöhnlich bedienten. Der beliebte Zeichner Dévéria, der durch Victor Hugo sein guter Freund geworden war, schuf ein byronhaft schönes Bild von ihm. Er konnte sich selbst nicht satt daran sehen.

»Sehen Sie mal an, liebe Mutter«, zeigte er zu Hause das Bild, »wie schön ich bin!«

Froh und begeistert rief er das aus, als ob er die Schönheit eines fremden Mannes bewunderte. Diese Schönheit hatte seine geheimsten Gedanken immer schon beschäftigt. Jetzt aber wurde er auf Schritt und Tritt durch allerlei Bemerkungen, Schmeicheleien und Anspielungen daran erinnert. Er verglich sich mit andern Männern und stellte mit dem Frohlocken eines Kindes fest, daß er keinen schöneren Mann als sich kenne.

Ary Scheffer, der berühmte Maler, bat ihn, ihm Modell zu sitzen. Er sagte zu, wie ein König einem Fremden die Erlaubnis erteilen würde, sein Reich besichtigen zu dürfen. Im Atelier des Malers nahm er auf dem Podium Platz, als ob das ganze Atelier von Konzertbesuchern überfüllt wäre.

»Schneiden Sie kein so arrogantes Bühnengesicht«, ermahnte ihn mit gerunzelter Stirn der Maler, »ich kann so nicht arbeiten.«

»Sie haben recht«, Franzi zuckte lächelnd zusammen, »aber man ist nicht ungestraft zehn Jahre lang ein Wunderkind.«

Foyatier, der Bildhauer, schuf gerade eine Spartakusstatue für die Tuilerien. Er besuchte Franzi und bat ihn, zu gestatten, seinen Kopf zu modellieren. Und das » profile d'ivoir« fand Aufnahme unter den Schätzen der Tuilerien. Der Besitzer dieses Profiles war eine der bekanntesten Gestalten von Paris geworden. Wenn er zu Fuß auf der Straße ging, flüsterte man halblaut seinen Namen, wenn er in einen Laden trat, um etwas zu kaufen, sprach man ihn zuvorkommend mit seinem Namen an, und das Lächeln des Erkennens, das nur berühmten Leuten begegnet, wurde ihm immer selbstverständlicher und gleichgültiger. Er war lediglich verwundert, wenn man ihn einmal nicht erkannte.

Abenteuer hatte er mehr, als ihm lieb waren. In seiner Wohnung gaben sich die Lakaien, die ihm Briefe brachten, oft die Klinke in die Hand. Der Eitelkeit seiner Mutter schmeichelte das zwar sehr, aber sie versäumte deswegen doch nicht, ihn liebevoll zu ermahnen:

»Wenn du heute nachmittag wieder ausgehst, wirst du wieder nicht üben können, mein Sohn. Ich sage dir das nur, weil du selbst mich gebeten hast, dich hin und wieder zu mahnen.«

»Ich weiß, ich weiß, aber was soll ich machen? Ich werde mit den Leuten nicht fertig. Ich kann wirklich nichts dafür.«

Er sprach die Unwahrheit. In keiner Frau sah er etwas anderes als nur das Weib. Er selbst konnte nicht begreifen, welcher Dämon ihn dazu trieb, ohne sein Wissen und Wollen alles Weibliche anzufallen. Nicht er sah den Frauen tief in die Augen, sondern der Dämon in ihm. Seine Augen strahlten eine kleine achtjährige Bettlerin, der er Geld schenkte, mit demselben Feuer an wie eine achtzigjährige Herzogin, die »den Litz« hinreißend fand. Er senkte seinen heißen und funkelnden Blick gleichzeitig in die Augenpaare von fünf Frauen. Warum tat er das nur? fragte er sich selbst. Kleine Schauspielerinnen, Bürgersfrauen, berühmte Damen der Halbwelt überhäuften ihn gleichermaßen mit ihrer Gunst, so daß er vor neuen Eroberungen eher hätte flüchten müssen. Und auf seine an sich selbst gerichtete Frage wußte er keine andere Antwort, als daß er es nicht in irgendeiner Absicht, sondern aus seinem innersten Wesen heraus tat. Er hatte eben für die Frauen keinen anderen Blick. Auch ein Vogel kann nichts anderes als zwitschern. Der Herrgott hatte ihn nun einmal so geschaffen. Gibt es denn eine Katze, der eine Maus gleichgültig ist, und wenn sie noch so satt wäre? Der Einundzwanzigjährige lebte nur mit den Augen, mit seinen tiefblauen, manchmal ins Grüne schillernden Augen. Er war im Spiel der Augen ein ebenso großer, unumstrittener Meister wie am Klavier. Er fühlte sofort, wenn man ihn ansah, und sein suchender Blick traf mit tödlicher Sicherheit den auf ihn gerichteten Blick. Scheuem Widerstand, erschrockener Zurückhaltung, errötendem Zorn des Ertapptseins war er dabei schon oft begegnet, nie aber stieß er auf Gleichgültigkeit.

Im Hause der Gräfin Plater waren die drei Klavierkünstler am häufigsten zu Gaste. Auch der liebenswürdige Hiller fühlte sich am wohlsten in diesem Hause, wo es am wenigsten steif zuging und die Herzenswärme am deutlichsten zu spüren war. Chopin ging hier ein und aus wie zu Hause: der Graf und seine Gattin, eine geborene Komtesse Brzostowska, waren beide reinblütige Polen. Intimere Beziehungen zu einzelnen in diesem Hause verkehrenden Personen hatte keiner von den Freunden. Hiller machte sich nichts aus den Frauen, sie langweilten ihn nur, und Chopin verband mit der Adoptivtochter des buckligen Musikprofessor Pixis eine melancholische, fast ätherische, jedenfalls nicht ernst zu nehmende Schwärmerei. Die schöne, kleine Francilla wurde immer bis über die Ohren rot, wenn sie Chopin sah und Pixis, der unsterblich in seine Pflegetochter verliebt war, behandelte den Polen mit dem ganzen unbeherrschten, blinden Haß eines sich durch sein Gebrechen als ausgestoßen Fühlenden. Chopin und Liszt weihten die Gräfin Plater in alle ihre Herzensgeheimnisse ein und Hiller erging sich ihr gegenüber in Klagen sowohl über seine unpünktliche Wäscherin als über seine ewigen Kopfschmerzen. Die Gräfin war eine liebe, gütige, kluge Frau, die die berühmten Künstler nicht aus Großtuerei zu sich lud, sondern aus wirklicher Zuneigung.

»Was sagen Sie zu meinen Freunden?« fragte Franzi die Gräfin, als er in einer Ecke des Salons neben ihr saß und die anderen beiden am Klavier nach Noten suchten.

»Zwei ganz verschiedene Menschen. Wenn ich frei wäre, würde ich Chopin zu meinem Manne wählen, und Hiller zum vertrauten, zuverlässigen Freund meines Hauses.«

»Und mich?«

Ihre Blicke senkten sich ineinander, wie wenn ein Tropfen Wasser auf glühendes Eisen aufzischt.

»Sie zu meinem Geliebten.«

Sofort erhob sie sich aber und ging auf das Klavier zu. Auf halbem Wege sah sie sich nochmals um und sagte mit sprühendem Lächeln über die Schulter:

»Selbstverständlich nur, wenn ich frei wäre.«

Eine Woche darauf küßten sie sich. Und als Franzi berauscht von seinem neuen Siege in der Nacht nicht einschlafen konnte, sagte er mit eitlem Selbstgefallen vor sich hin: Gräfin Laprunarède geborene Komtesse Chelard, Gräfin Plater geborene Komtesse Brzostowska. Sofort schalt er sich aber wegen dieses Snobismus, den er einst bei seinem Vater so sehr verachtet hatte. Und zugleich tauchte als eine helle Vision im dichten Walde seiner Erinnerungen das immer noch herzergreifende, unvergeßliche Bild der Komtesse Liline auf. Wehmütig erkannte er, daß alle die Jahre umsonst vergangen waren, daß er dieses zarte Engelsgesicht sein ganzes Leben lang lieben werde. Und mit Bitterkeit mußte er feststellen, daß die brennende Wunde der ihm damals zuteil gewordenen Demütigung noch immer nicht zugeheilt war. Er erinnerte sich noch deutlich an den hochmütigen Gesichtsausdruck des Grafen Saint Cricq und preßte im Dunkel der Nacht seine Zähne zusammen. In solchen Augenblicken vermochte er auch mit trotzigem Achselzucken die durch den lieben, alten Grafen Laprunarède hervorgerufenen Gewissensbisse von sich abzuschütteln.

Gräfin Adèle, mit der er während der langen Trennungszeit dauernd in Briefwechsel stand, teilte ihm in einem überschwenglichen Briefe mit, daß sie mit ihrem Manne nach Paris käme. Und so häuften sich drei Ereignisse in Franzis Leben: die Gräfin Laprunarède kehrte aus den Alpen zurück, Lamennais aus Rom und Berlioz aus Italien. Und alle drei verursachten heftige Störungen in seinen Gefühlen, seinem Glauben und seinem Denken.

Vor allem befand er sich jetzt in der peinlichen Lage, gleichzeitig zwei Frauen anzugehören, die sich in denselben Gesellschaftskreisen bewegten. Keiner von beiden wollte er wehtun. Und wie ein Geizhals wollte er keins seiner Goldstücke weggeben. So begann für ihn ein mühseliges, quälendes, aufreibendes Spiel von Lügen, Erklärungen und Ausreden.

Lamennais war nicht nur unverrichteter Dinge heimgekehrt, er hatte sich auch noch eine Verurteilung wegen Pressevergehens zugezogen, die das Ende des »Avenir« bedeutete. Als Franzi den Abbé zum erstenmal wiedersah, erschrak er, wie gealtert und angegriffen der Pater aussah.

»Was ist geschehen?« fragte er ernst und sorgenvoll.

»Das ist geschehen, mein lieber Sohn, daß ich hübsch folgsam mein Haupt beugen muß. Seine Heiligkeit hat uns zwar empfangen, vor der Audienz hat man uns aber streng eingeprägt, daß wir die Angelegenheit des »Avenir« mit keiner Silbe erwähnen dürfen. Wir haben es dann auch nicht getan.«

»Wovon haben Sie denn gesprochen?«

Der Abbé antwortete bitter und mit der Achsel zuckend:

»Vom Wetter. Wir sind schließlich abgereist, ohne irgendeine Entscheidung mitnehmen zu dürfen. Wir ahnten aber, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Wir nahmen unseren Heimweg über München, wo man uns zu Ehren ein großes Bankett veranstaltete. Während des Banketts rief man mich aus dem Saal und teilte mir mit, daß die Enzyklika Seiner Heiligkeit soeben angekommen sei, die unmittelbar nach unserer Abreise erlassen worden wäre. Ich bekam auch den Text zu lesen. Der Heilige Vater ermahnte uns streng, unsere Nasen nicht in Angelegenheiten zu stecken, die Sache der Hohen Geistlichkeit seien. Sie können sich vorstellen, in welcher seelischen Verfassung ich mich wieder an die Tafel setzte und in welcher Stimmung wir dann nach Hause reisten. Hier erwartete mich neben der Enzyklika schon das Begleitschreiben des Bischofs Pacca: Seine Heiligkeit sei nicht nur überrascht, sondern unendlich erbittert darüber, daß wir für Religions- und Pressefreiheit einträten, denn das stehe in schroffstem Widerspruch zu den Grundsätzen der Kirche. Sowohl die Pressefreiheit als auch die Religionsfreiheit sei nach Meinung des Heiligen Vaters ein reiner Irrsinn und könne keine katholische Idee sein.«

Der Abbé schwieg und starrte düster und verkrampft vor sich hin. Franzi wagte kaum, etwas zu sagen.

»Und was wird jetzt werden?«

»Ja, mein lieber Sohn, jetzt werde ich Sie lange nicht mehr sehen. Ich ziehe aufs Land. Zuvor werde ich aber noch Seiner Heiligkeit die untertänigste Huldigungsadresse des ›Avenir‹ überreichen lassen. Ich habe mich ja selbst am meisten für das Ansehen des Papstes eingesetzt … Und nun hat der ›Avenir‹ sein Ende gefunden. Ich muß alles bisher Aufgebaute wieder zerstören … Nein, nein, sagen Sie nichts, mein lieber Sohn, werden Sie nicht heftig. Was der Papst sagt, ist heilig. Sie sind doch auch ein guter Katholik. Und wenn Sie sich bis jetzt als mein Schüler gefühlt haben, so geben Sie sich mit allem zufrieden. Jetzt gehen Sie. Ich schreibe Ihnen vielleicht noch.«

Franzi verließ den Abbé aufgewühlt und wie vor den Kopf geschlagen. Der Schlag war furchtbar, er traf auch seine an Anbetung grenzende kindliche Schwärmerei, die er für den irdischen Statthalter Christi in sich trug, seit er lebte. Der Papst sagte, der Gedanke der Pressefreiheit sei ein Wahnsinn und keine katholische Auffassung? Wo sollte er nun die Begeisterung hernehmen, mit der er bis jetzt den Kampf Victor Hugos und seiner Anhänger gegen die Zensur begleitet hatte? Was sollte nun in ihm zusammenstürzen? Alles das, was er von der neuen Literatur, von der Kunst und von der vollkommenen Schönheit nach so vielem Grübeln in sich aufgebaut hatte? Oder war er kein guter Katholik? Sollte auch diese Gewißheit ihm geraubt werden?

Berlioz gab ihm sofort nach seiner Ankunft Nachricht. Er mietete sich eine ärmliche, kleine Wohnung in einem Eckhause der Rue Neuve-Saint-Marc. Hier suchte ihn Franzi auf und traf ihn Zwiebeln bratend an. Die Worte strömten nur so aus Berlioz' Munde. Er war mit Mendelssohn in Rom zusammengetroffen und hatte sich mit einem eigenartigen russischen Musiker, namens Glinka, angefreundet. Er hatte viel gelitten und sich entsetzlich geplagt.

»Armer Hector!« bedauerte ihn Franzi. »Ich habe viel an Sie gedacht, als ich Pleyels sah.«

»Wen? Ach so. Nein! Camilla interessiert mich nicht mehr. Ich habe sie auch nie geliebt. Ich habe immer nur Harriet geliebt. Aber jetzt habe ich auch Harriet aus meinem Herzen gerissen. Ich habe das auch schon in Musik umgesetzt. Stellen Sie sich vor, ich habe meine ›Phantastische Symphonie‹ völlig umgearbeitet und mit einem neuen Schluß versehen.«

»Sie haben sie umgearbeitet?«

»Sie brauchen nicht zu erschrecken. Von meinen Grundsätzen gehe ich nicht einen Finger breit ab. Ich habe das Werk nur geglättet, wo das erforderlich war. Die Idée fixe, die solchen Eindruck auf Sie machte, habe ich noch etwas nachdrücklicher hervorgehoben. Das Wichtigste ist aber, daß ich zu dem Hexentanz noch einen Schluß komponiert habe, und der heißt: ›Lelio oder die Rückkehr zum Leben‹. Die alte Fassung mußte unbefriedigend wirken, weil man nicht wußte, was nun aus dem Künstler werden solle, nachdem er seine Liebe unter den Hexen erblickt habe. Aber jetzt erfährt man es: er kehrt ins Leben zurück. Die Bestie mag mit ihren Hexen verrecken, der Künstler pfeift auf sie, er ist gesund geworden und fängt das Leben von vorne an. Ist es denn der Mühe wert, wegen so einer Bestie mit sich selbst vollständig zu zerfallen? Ich werde es ihr schon beweisen!«

Berlioz schlug mit der Faust auf den Tisch. Aber dann kam er wieder zu sich und schüttelte sich.

»Doch alles das gehört ja gar nicht hierher. Mit einem Wort, der Künstler kehrt zurück ins Leben, und damit ist es gut.«

»Was bedeutet denn ›Lelio‹?«

»George Sand ist eine gute Freundin von mir und arbeitet gerade an einem Roman, der ›Lelia‹ heißt. Sie schrieb mir darüber. Als Partner zu ihrer Hauptfigur habe ich den Namen ›Lelio‹ gewählt. Kennen Sie George nicht?«

»Wir sind uns noch nicht begegnet.«

»Nun, Sie werden sich schon noch einmal treffen. Schade, daß ich Ihnen die Einzelheiten der Symphonie nicht zeigen kann. Ich habe aber noch kein Klavier hier und das Manuskript habe ich zum Kopieren weggegeben. Ich hoffe, Sie kommen zu meinem Konzert? Gut. Warten Sie mal, woran habe ich denn noch gearbeitet … Aber, es ist ja doch umsonst, ich habe ja noch kein Klavier. Die Hauptsache ist, daß der Künstler ins Leben zurückgekehrt ist. Verstehen Sie das? Der Teufel soll diese Bestie holen! Stimmt das etwa nicht?«

Berlioz sah aus, als ob er nicht ganz normal aus Rom zurückgekehrt wäre. Allem Anschein nach war er in Harriet Smithson, die englische Schauspielerin, verliebter denn je.

Bei der Uraufführung der Symphonie war auch Harriet Smithson anwesend. Berlioz hatte Bocaget, den Schauspieler gebeten, den erklärenden Text zu seiner Symphonie vor dem Konzert zu verlesen. Das war ein sonderbares Schriftstück: unter dem Deckmantel des Kommentars verbarg sich ein einziger, wütender, sinnloser Angriff gegen die Bestie, die den Künstler so aufgewühlt hatte, und gegen einen gewissen Kritiker, der den Künstler irgendwie beleidigt hatte. Harriet Smithson und Fétis verließen blaß das Konzert.

Franzi aber war hingerissen. Die Symphonie packte ihn jetzt noch viel mehr, als vor genau zwei Jahren, wo er sie zum ersten Male gehört hatte. Nicht die Änderungen wirkten so heftig auf ihn, sondern er konnte das ganze Werk jetzt viel besser verstehen. Die letzten beiden am Klavier verbrachten Jahre zäher, unbeirrter Arbeit hatten ihn auf einen Gipfel geführt, von dem aus er schon viel weiter sehen konnte, und die Lehren des Abbé Lamennais und die Vorträge Fétis' hatten ihm auch dort Klarheit verschafft, wo sein Verstand versagte und er mit dem, was er entdeckte und ahnte, nicht fertig werden konnte. Von der Größe Berlioz' war er erschüttert. Noch am selben Abend lieh er sich die Partitur aus.

Zu Hause setzte er sich sofort ans Klavier und spielte. Dann versuchte er, die Sprache des Orchesters durch das Klavier auszudrücken. Das war der erste große Versuch seit jener Zeit, wo er Tage, Wochen und Monate nach seiner Bekanntschaft mit Paganini wie ein vom Wahnsinn Besessener ununterbrochen am Klavier verbracht hatte. Jetzt wäre er vor Freude über den Erfolg am liebsten jeden Augenblick aufgesprungen. Er konnte mit ruhigem Gewissen feststellen, daß er imstande war, das Klavier alles erzählen zu lassen, was er wollte. Er hatte es bezwungen wie keiner auf der ganzen Welt …

Während dieser überwältigenden Arbeit sagte er seine Unterrichtsstunden ab und gönnte sich nur hier und da ein paar Stunden der Erholung mit der Gräfin Plater oder der Gräfin Laprunarède. Als er die Phantasie beendet hatte, schrieb er Berlioz, er möge ihn sofort besuchen. Der kam auch unverzüglich. Er hörte sich die Phantasie von Anfang bis Ende an, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Was sagen Sie zu Fétis?« fragte er endlich.

»Warum? Was soll ich dazu sagen?«

»Haben Sie keine Zeitungen gelesen? Fétis hat meine Symphonie unglaublich heruntergerissen.«

»Fétis? Das ist ausgeschlossen, Hector. Seine sämtlichen Vorlesungen machten doch immer den Eindruck, als ob er sie geradezu zu Ihrer Verherrlichung hielte.«

»Trotzdem. Hören Sie mal zu, ich habe die Kritik mitgebracht: ›Wer komponieren will, muß ein voll ausgebildeter Musiker sein. Anscheinend hat Monsieur Berlioz sich das nicht überlegt. Er ist auch einer von den Tondichtern, deren Gedanken viel zu früh das Licht der Welt erblicken und nicht erwarten können, bis sie reif sind.‹ Heruntergerissen! Fétis hat mich heruntergerissen.«

»Warten Sie mal. Hatten Sie ihn denn nicht angegriffen in Ihrem Begleittext?«

»Das ist doch gleichgültig. Und dann hatte er ja auch angefangen. Aber wie dem auch sei, er bezweifelt meine schöpferische Begabung. Seit zwei Tagen schlafe ich nicht mehr.«

Franzi tröstete ihn, aber ohne Überzeugung. Und als sie schieden, war Berlioz viel ruhiger als er selbst. Abermals kroch in ihm eine quälende Unrast hoch. Was sollte das wieder? War das nun gute Musik oder nicht? Durfte man etwas Neues sagen, wenn es schön war oder nicht? Über wen sollte er sich nun hinwegsetzen? Über Fétis und seine fabelhaften Erörterungen über die neue Musik, oder über Berlioz und seine herrliche neue Musik?

Alles ging drunter und drüber in ihm. Dazu kam noch, daß ihn das Versteckspielen zwischen den beiden Frauen immer nervöser machte. Da geschah es, daß bei der Herzogin Durras sich der alte Graf Laprunarède mit folgenden Worten an ihn wandte:

»Lieber Litz, die Gräfin hat mich beauftragt, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. Meines Erachtens wiegt meine Bitte weniger als die ihre. Nach ihrer Meinung soll es umgekehrt sein. Also: wir reisen am Montag wieder zurück aufs Land. Kommen Sie mit nach Marlioz und verbringen Sie Weihnachten und Neujahr bei uns. Das ist nicht nur der Wunsch der Gräfin, sondern auch der meine. Tun Sie es also mir zuliebe.«

»Herzlichen Dank!« stotterte Franzi verstört. »Ich werde kommen.«

Die Gräfin Plater verständigte er durch einen Brief, weil er es nicht übers Herz brachte, es ihr persönlich mitzuteilen. Er schrieb mit nachlässiger Selbstverständlichkeit und einer gemachten Natürlichkeit, daß er in seinem jetzigen aufgewühlten Seelenzustand eine Einladung auf das Land mit großem Dank aufgenommen hätte. Die Gräfin Plater erwiderte: »Ich weiß und verstehe alles. Ich trage Ihnen nichts nach. Erholen Sie sich gut und denken Sie zu Silvester an mich.« Die Unterschrift fehlte.

Er ordnete seine Geldangelegenheiten, seine Unterrichtsstunden und was sonst noch zu erledigen war, packte einige Bücher und Notenpapier ein und begab sich am festgesetzten Tag mit dem gräflichen Paare auf die Reise. Nach einer eintönigen Fahrt, eingehüllt in Fußsäcke und Pelze, kamen sie in Haute-Savoie an. Von dort aus brachte sie ein Schlitten in das versteckt in den Bergen liegende Schloß. Eine alte Tante, die ständig bei der gräflichen Familie wohnte, empfing sie. Rings herum Schnee und wohltuende Ruhe. Altertümliche Möbel, Ahnenbilder, ein freundlicher Kamin und ein nagelneues Erard-Klavier, das vor drei Tagen erst angekommen war, – Franzi setzte sich sofort hin und spielte.

»Was ist das?« fragte Adèle.

»Schubert: ›Die Winterreise‹, die Gräfin Apponyi hat mich darauf aufmerksam gemacht.«

Um neun Uhr gingen sie schon zur Ruhe. Franzi las noch über eine Stunde lang. Er wollte ein Werk von Goethe zu Ende lesen. Es war kaum ein Jahr vergangen, daß der große Dichter gestorben war, und man sprach jetzt besonders viel von ihm. Er las den »Faust«, aber er konnte seine Gedanken nicht richtig zusammennehmen. Um zehn Uhr öffnete sich geräuschlos die Tür des Fremdenzimmers. Adèle trat ein. Sie hatte einen Pelz über ihr Nachtgewand geworfen.

»Großer Gott! Was machen Sie?« erschrak Franzi. »Der Graf …«

»Schläft schon längst. Der ist noch nie wieder aufgewacht, sobald er einmal eingeschlafen war. Wie gefällt es dir bei uns? Schön?«

»Herrlich! Diese unendliche Ruhe …«

»Ja, die wird dir gut tun. Denke aber ja nicht, daß ich dich vor Februar wieder weg lasse. Und auch dann nur mit schwerem Herzen. Liebst du mich?«


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