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Erstes Kapitel

Paris füllte sich mit polnischen Flüchtlingen. Seit die Russen Warschau erobert hatten, hörte man auf den Boulevards immer häufiger diese besonders weiche slawische Sprache, die das Ohr aus all ihren Schwester-Sprachen sofort herauserkennt. In den Salons tauchten polnische Aristokraten auf, man mußte sich neue, schwer auszusprechende Namen einprägen. Auf den Straßen humpelten polnische Invaliden umher. Ihr Schmerz über das verlorene Vaterland ging in der Gleichgültigkeit der Masse unter.

Auch Franzis Teilnahme vermochten sie nicht zu erwecken. Es gab tausend andere Dinge, die ihn interessierten; vor allem aber zwei: der Glaube und das Klavier. Gräfin Adele war abgereist, sie mußte zu ihrem alten Mann in ihr Schloß in den Alpen zurück. Am Tage vor ihrer Abreise fuhren sie noch nach Grenelle, weit über die Häuser der Vorstädte hinaus, und versteckten sich in einem kleinen Gasthaus am Ufer der Seine, um voneinander Abschied zu nehmen.

»Ich kann jetzt für lange Zeit nicht nach Paris kommen. Eine andere Frau würde dich jetzt schwören lassen, daß du sie nicht betrügen würdest. Ich lasse dich nicht schwören, denn du wirst mich sowieso betrügen. Du bist viel zu schön und viel zu berühmt dazu, als daß dir die Frauen Ruhe lassen sollten. Es ist bester, ich finde mich von vornherein damit ab, dann tut es nicht so weh. Wenn ich wieder nach Paris komme, werde ich nicht danach fragen, was du getrieben hast, und du erzählst mir auch nichts davon. Ist es so richtig? Gut. Jetzt küsse mich.«

Es war ein sehr schwerer Abschied, sie waren unersättlich in ihren Umarmungen. Am anderen Tage reiste die Gräfin ab, und er suchte beim Klavier und bei den Saint-Simonisten Zuflucht vor seiner Einsamkeit und Sehnsucht.

Das Klavier gab seine Geheimnisse viel schwerer preis als die Frau. Aber jetzt war schon er der Herr und Gebieter. Und wenn er auch zum zweiten Male in seinem Leben hatte Klavierspielen lernen müssen, noch dazu auf einem bisher unbekannten Instrument, so wußte er nun auch, daß er auch zum zweiten Male seine Aufgabe gemeistert hatte und daß er nicht nur das Klavier, sondern auch den darin wohnenden geheimnisvollen Dämon bezwungen hatte. Kein einziger Tag der endlos langen Übungsstunden verging ohne eine neue Entdeckung und einen neuen Sieg. Wenn er auf die Wegkreuzung zurückblickte, an der das teuflische Können Paganinis ihn auf einen neuen Pfad gewiesen, konnte er kaum noch etwas sehen. Einst hatte er Paganini erreichen wollen, heute beseelte ihn dieser Wetteifer nicht mehr, sondern einzig und allein die unbeschreibliche Erregung und Genugtuung, daß er am Klavier in eine Welt von Ausdrucksmöglichkeiten eingedrungen war, wo außer ihm noch niemand gewesen war. Einst hatte jene Clochette-Phantasie, die er von dem Teufelsgeiger gehört hatte, sein ganzes Innere aufgewühlt, heute schrieb er dasselbe einzigartige Glockenspiel in seiner eigenen neuen musikalischen Sprache für Klavier um. Er war sogar schon darüber hinaus, er verachtete es fast. Er wollte viel, viel mehr. Die Zeit hatte seinen Eindruck von dem unglaublichen Geiger geklärt und jetzt sah er ganz deutlich, daß in diesem Feuergeist der Gaukler mit dem Genie stritt. Und er wollte das unverfälschte, reine Genie in sich suchen, die Unendlichkeit, die Ewigkeit, das Göttliche.

Eine Zeit lang setzte er seine Hoffnungen auf die unschuldigen, frommen, sonderbaren Zusammenkünfte der Saint-Simonisten. Vielleicht würden die Saint-Simonisten, die in ihren Weltverbesserungsträumen die Kunst dem Göttlichen gleichstellten, ihn seinem Ziele näher bringen. Vielleicht würde er auf diesem Wege die so sehnsüchtig gesuchte Harmonie finden.

Eines Tages aber, als Vater Enfantin erklärte, daß auf der Welt erst dann wieder Ordnung herrschen würde, wenn man ihn mit der Regierungsbildung beauftrage, verließ der Klavierkünstler in aller Stille die Zusammenkunft. Bald las man dann auch in der Zeitung, daß sich die Polizei für die neue Sekte interessiere. Und als die Saint-Simonisten ein neues Versammlungslokal, den Taitbout-Saal, mieteten, überraschte sie die Polizei und verhaftete alle ihre Führer, Barrault an der Spitze, der gerade eine Predigt hielt. Es wurde ein amtliches Verfahren gegen sie eröffnet wegen Aufforderung zum Klassenkampf und Verbreitung kommunistischer Lehren.

»Jesus Maria!« Mutter Liszt schlug die Hände über dem Kopf zusammen, »wenn man dich nun mit verhaftet hätte! Ich habe dir immer gesagt, geh' nicht unter diese Halbnarren. Aber du hörst ja nie auf mich.«

Das sagte sie aber nur so hin, um überhaupt etwas zu diesem Vorfall zu sagen. Eigentlich war sie in dieser Zeit recht vergnügt und zufrieden. Obwohl sie nicht darüber sprachen, merkte die Mutter doch, daß mit ihrem Sohne eine große Veränderung vorgegangen war. Das nahm sie erleichtert und glücklich zur Kenntnis, und ohne jede Familienszene fand sie sich auch damit ab, daß ihr Franzi eines Tages erklärte, er habe sich die Angelegenheit gründlich überlegt und werde die kleine Delarue unter keinen Umständen heiraten.

Noch einmal machte er sich auf den Weg zu den Saint-Simonisten. Diesmal aber nur aus Neugier. Er fand sie in einem Gartenhause der Rue Ménilmontaut. Hierher war Vater Enfantin mit vierzig seiner Getreuen geflüchtet, unter denen sich jetzt auch schon Frauen befanden. Alle wohnten zusammen in diesem Hause. Dienstboten waren abgeschafft. Das Fußbodenschrubben, Bedienen, Kleiderreinigen, – alles teilten sie untereinander auf. Alle trugen einheitliche blaue Gewänder, nur Vater Enfantin hatte seine besondere, sinnige Aufmachung: er glänzte in einer weißen Hose, einer roten Weste und einer blauvioletten, tunikaartigen Jacke. Dazu erklärte er salbungsvoll, daß die weiße Farbe die Liebe, die rote die Arbeit und die blaue den Glauben versinnbildliche. Die rote Weste war hinten zu knöpfen, damit er sie nicht allein anziehen könne und so eine vorbildliche Brüderlichkeit schon beim Ankleiden durch gegenseitiges Helfen zum Ausdruck komme. Tausende von Neugierigen pilgerten Mittwochs und Sonnabends zu den Saint-Simonisten, um ihrem gemeinsamen Mahl beizuwohnen, zu dem man auch Zuschauer zuließ. Aus einer weltumstürzlerischen Schwärmerei wurde eine Zirkuskomödie.

Alles das ließ Franzi vollkommen gleichgültig. Seine Sehnsucht nach Gott und Weltanschauung fand eine neue Quelle: er machte die Bekanntschaft des Pater Lamennais.

Die Person des berühmten Pfarrers war in Paris schon seit langer Zeit heftig umstritten. Besonders seit der Juli-Revolution hatte es im Faubourg Saint-Germain viel Staub aufgewirbelt, daß Pater Lamennais sich mit einer Denkschrift an den Papst gewendet hatte. Er und noch einige vornehme Geistliche wollten die päpstliche Hierarchie und die uneingeschränkte Macht des Katholizismus in der ganzen Welt wieder herstellen. Sie gründeten auch eine Zeitung, die den Namen »Avenir« trug. Diese Zeitung kam schnell in Mode, und im ganzen Lande bildeten sich überall Vereine zur Förderung der Lamennaisschen Ideale.

Seine Schriftsteller-Freunde nahmen Franzi in die Redaktion des »Avenir« mit, da er sie auf alle Fälle sehen wollte. Er kam in ein kleines, enges Zimmerchen. Vor unordentlichen Papierhaufen saß an einem tintenbefleckten Schreibtisch der Schrecken der Regierung, der das Land aufwühlende Abbé. Er mochte ungefähr sechzig Jahre alt sein und machte auf dem ersten Blick den Eindruck eines seine Ziele heftig verfolgenden Menschen.

»Ich bin gekommen, Pater, um Ihre Auffassung von der Kunst kennenzulernen.«

Der Abbé sah ihn forschend und mit durchdringenden Augen an

»Sind Sie ein guter Katholik, mein Sohn?«

»Ich befürchte«, entgegnete traurig lächelnd der junge Mann, »niemand hat das Recht, sich als einen guten Katholiken zu bezeichnen. Ich möchte es allerdings sein. Aber ich bin Künstler. Wie soll ich die zwei miteinander verbinden? Das sollen Sie mich lehren, Pater.«

»Was haben Sie bis jetzt von mir gelesen?«

»Die ›Worte des Gläubigen‹. Davon bin ich hingerissen. Die Notwendigkeit des Glaubens ist eine Forderung, die meine Seele selber stellt. Aber die Kunst ist das … das …«

Der Abbé fiel ihm ins Wort. Sein scharfer Verstand hatte sich die Antwort offenbar schon zurecht gelegt.

»Der größte Künstler ist Gott selbst. Haben Sie Plato gelesen? Den müssen Sie lesen. Der war ein großer Dichter und meines Erachtens auch ein Christ, ohne daß er es gewußt hat. Plato nennt Gott den ewigen Geometriker, den großen Künstler, besten Kunstwerk die Welt ist. Gott gibt sich selbst in der Welt, wie jeder wahre Künstler sich in seinen Schöpfungen gibt. Die unendlichen Schönheiten dieser Kunstschöpfung könnte aber nur der wirklich begreifen, der fähig wäre, alle Erscheinungen dieser Welt mit allen ihren inneren Zusammenhängen zu übersehen. Dessen ist der irdische Künstler selbstverständlich nicht fähig. Er kann nur immer einen Bruchteil dieser Unendlichkeit und dieser Herrlichkeit sehen, aber auch dieser Bruchteil ist ein Teil Gottes. Verstehen Sie das bis jetzt, mein Sohn?«

»Ich verstehe es, und es ist wunderbar.«

»Aus alledem ergibt sich also, daß die Gesetze der Kunst den Gesetzen der Schöpfung gleichen. Die ganze Welt als Schöpfung Gottes zu erforschen und zu erkennen: das ist die Wissenschaft. Die ganze Welt in ihren Einzelheiten als die Schöpfung Gottes wiederzugeben: das ist die Kunst.«

»Ich verstehe. Wir müssen die Kunst also um ihrer selbst willen pflegen, weil sie göttlich ist. Das Ziel der Kunst ist die Kunst.«

»Nicht im geringsten, mein junger Freund. Hier sind Sie in einem großen Irrtum befangen. Glauben Sie denn, daß das Ziel der Baukunst die Baukunst ist? Nein. Wohl will sich der Mensch eine Wohnung, eine Unterkunft schaffen, aber sie soll gleichzeitig schön sein: das ist die Baukunst. Die Harmonie des Schönen mit dem Nützlichen ist schon ein Aufblitzen der millionenfachen Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen der Welt. Wenn das Ziel der Kunst die Kunst selbst wäre, so würde das bedeuten, daß wir unter der Kunst etwas Endgültiges und Abgeschlossenes zu verstehen haben, etwas, das sich selbst nur erreichen will, sich aber nie mehr übertreffen kann. Das ist Unsinn. Die Welt vervollkommnet sich mit jedem Tage, sie nähert sich immer mehr der Unendlichkeit, kann sie aber nie erreichen. Ebenso auch ihr göttliches Spiegelbild, die Kunst. Sie wird zwar immer schöner, immer vollkommener, um Gott immer ähnlicher zu werden, zu ›Gott‹ kann sie aber nie werden. Haben Sie verstanden, was ich sagen will?«

»Durchaus. Das erregt mich derartig, daß wir noch viel eingehender darüber reden müssen.«

»Sehr gerne. Fragen Sie!«

»Was ist schön?«

Der Abbé lächelte:

»Sie stellen mir als erstes gleich eine sehr, sehr schwere Frage. Das hat noch niemand beantworten können.«

»Ich kann es aber, und zwar auf Grund dessen, was Sie vorhin so glänzend und schlüssig erklärt haben, Pater. Schön ist das, was die zwischen den Welterscheinungen bestehenden göttlichen Zusammenhänge am vollkommensten ausdrückt. Mit anderen Worten: je mehr ein Kunstwerk von der Unendlichkeit der Welt Gottes zeigt, um so schöner ist es.«

Abbé Lamennais hob überrascht den Kopf und sah den jungen Klavierkünstler an:

»Sie sind kein alltäglicher Mensch, mein Sohn. Wir wollen Ihre Feststellung noch einmal …«

In diesem Augenblick klopfte ein junger Geistlicher an:

»Graf Montalembert wartete …«

Der Abbé erhob sich sofort und reichte dem Künstler die Hand.

»Entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch eine sehr wichtige Unterredung. Ich möchte aber unsere Unterhaltung gern weiterführen, und zwar schon morgen. Haben Sie Zeit, morgen zur selben Stunde wiederzukommen? Ich habe meine Arbeit hier dann beendet und wir gehen irgendwohin spazieren? Wollen Sie?«

Sie verabredeten sich und nahmen Abschied. Franzi musterte mit neugierigem Blick den Mann, dem er seinen Platz überlasten mußte. Mit Verwunderung stellte er fest, daß der im ganzen Lande berühmte Graf Montalembert, der hervorragende Führer des kämpfenden Katholizismus, ebenfalls ein Zwanzigjähriger war wie er.

Tags darauf suchte er den Abbé Lamennais abermals auf. Sie blieben ganze drei Stunden zusammen. Von diesem Tage an verband sie eine innige Freundschaft, den sechzigjährigen Geistlichen und den zwanzigjährigen Musiker. An den Saint-Simonismus dachte er mit keinem Atemzug mehr zurück. Er fühlte sich mit Leib und Seele als Gläubiger des »Avenir«. Wie er es schon mit anderen Dingen gemacht hatte, stürzte er sich jetzt kopfüber in die Lamennais-Schwärmerei. Und als er Geheimnisse entdeckte, wie, daß die Töne eine Seele haben, daß zwei Töne gleichzeitig angeschlagen eine Freundschaft, mit einem anderen Anschlag aber Liebe darstellen können, daß eine Oktave die Vereinigung zweier gleichgesinnter Seelen, eine Terz der Bund zweier verschiedener und doch in Liebe geeinter Seelen ist, daß das B-moll dem Kopfneigen eines trauernden Menschen gleicht, daß der verkürzte Septimakkord eine Frage ist, auf die es nur eine einzige Antwort gibt wie auf die Frage des Gläubigen nach der bestehenden Weltordnung, – da war er grenzenlos glücklich über diese neue katholische Ästhetik, in deren Schönheit er, der ewig nach Vollkommenheit suchende Künstler, lebte.

Eines Tages besuchte er Victor Hugo, den er in der Gesellschaft Sainte-Beuves antraf. Sie waren in einen Streit über Verse versunken. In einem anderen Zimmer schrie das kleine Kind und man vernahm die mütterlich zärtlichen und beruhigenden Worte der schönen Frau Hugo. Sainte-Beuves Gesicht spiegelte die Martern der unglücklichen Liebe wider, auf Hugos Antlitz machte sich die geruhsame Sattheit des jungen Ehegatten und glücklichen Familienvaters breit. Auf dem Tisch lagen in einer Schale einige Feigen, das einzige, womit die sparsame Familie ihre Gäste bewirtete, aber die rührte niemand an.

»Was wird alles in Ihrem neuen Werk enthalten sein, Victor?« fragte der neu angekommene Gast.

»Ich habe ihm den Titel ›Herbstblätter‹ gegeben. Vierzig Gedichte sind darin enthalten.«

»Würden Sie mir nicht eins davon vorlesen?«

»Gerne. Warten Sie mal, welches soll ich Ihnen nun gleich vorlesen?«

Der Dichter trat zu seinem Schreibtisch und blätterte in seinem Manuskript:

»Das ist das richtige. Sie sind ein Musiker. Dieses Gedicht wird Sie interessieren. Es heißt ›Was man auf den Bergen hört‹. Motto: › O altitudo‹.«

Er las es vor, leicht durch die Nase sprechend, feierlich skandierend, die einzelnen Vokale melodisch dehnend, in die Schönheit seiner eigenen Schöpfung versunken:

»Zuerst verworr'ner, unermess'ner Lärm,
Undeutlich wie der Wind in dichten Bäumen,
Voll klarer Töne, süßen Lispelns, sanft
Wie Abendlied, und stark wie Waffenklirren,
Wenn dumpf das Treffen die Schwadronen mischt
Und wütend stößt in der Trompete Mündung.«

Sainte-Beuve lauschte hinüber in das andere Zimmer, um die Stimme der Frau zu erhaschen. Sein Gesicht zuckte vor verhaltener Qual. Franzi hörte sich das Gedicht ruhig an. Vorläufig interessierte es ihn nicht sonderlich, er fand es nur schön. Er wartete auf die Antwort, was mau auf den Bergen hören könne. Nach acht Zeilen horchte er auf:

»Es war ein Tönen, tief und unaussprechlich,
Das, flutend, Kreise zog rings um die Welt
Und durch die Himmel, welche seine Wogen
Verjüngten, rollend sein unendlich Wort
Verbreitet, bis wo es in den Schatten
Mit Zeit, Raum, Zahl, Gestaltung überging!«

Das reizte ihn schon mehr. Nach vorne geneigt, hörte er diesen Versen zu, die ihm wie die Beschreibung einer Symphonie vorkamen. Das Gedicht beschrieb mit schmetterndem Rhythmus die Brandung an den Felsklippen und erzählte von zwei klaren, reinen Stimmen, die sich nach und nach aus diesem Chaos lösten. Die eine Stimme war sieghaft und selig und kam vom Meer her, die andere war traurig und dumpf, die schluchzende Stimme von Millionen unglücklicher Menschen.

Ein andrer Luftkreis, weit und fessellos,
Umgab die Erde ganz, ein ew'ger Hymnus.
Die Welt, gehüllt in diese Symphonie,
Schwamm, wie die Luft, so in der Harmonie.«

Den jungen Musiker überlief ein leichter Schauer. Mit einem Male blitzten alle die Gedanken durch seinen Kopf, die er mit Lamennais schon in so vielen und tiefgründigen Debatten erörtert hatte.

»Doch unter diese hehren Stimmen schrillte
Die andre Stimme, wie ein ängstlich Roß,
Wie einer Höllenpforte rost'ge Angel,
Wie ehrner Bogen auf der Eisenlaute.
Und Schreien, Weinen, Schmähen und Verfluchen,
Der Taufe Weig'rung und des letzten Mahles,
Und Fluch und Lästerung und wild' Geschrei
Taucht aus des Menschenlärmes Wirbelwogen,
Wie man des Abends in den Tälern schwarze
Nachtvögel steht, die scharenweise ziehen.
Was war dies Rauschen, endlos widerhallend?
Der Mensch, ach, und die Erde, welche weinten!«

Der Dichter ließ das Manuskript sinken und sah vor sich nieder, weil es sein Stolz nicht zuließ, die Zuhörer nach ihrer Meinung zu fragen, und sei es auch nur durch einen Augenaufschlag. Sainte-Beuve nickte nur, er kannte das Gedicht schon. Franzi aber bat aufgeregt:

»Geben Sie es mir, Victor! Ich mache eine Symphonie daraus.«

»Gerne. Bitte, hier ist es. Ich habe noch eine Abschrift davon. Sie können dies gleich mitnehmen.«

»Das wird großartig. Ich höre das Ganze schon. Jetzt müssen Sie mich aber entschuldigen, ich möchte nun allein sein. Auf Wiedersehen.«

Mit wichtiger Miene eilte er hinaus. Der tiefe Empfindungsgehalt des Gedichtes riß ihn zu einer gewissen theatralischen Pose hin, wie das Schöne und Wahre den Künstler in ihm stets zu übermäßiger Begeisterung entflammte. Das Wehklagen der Menschheit und die ewige Harmonie der unsterblichen Natur, das war schon eine fertige Musik. Und schließen sollte die Symphonie mit der verzweifelten, wehmütigen Frage: warum wird die Seele des Menschen dann immerfort so von Schmerzen gequält, wenn die Welt doch so schön ist? Schon begann er nach einem geordneten Tonbild für die in seinem Herzen singenden und klingenden Eindrücke zu suchen. Er summte vor sich hin, brach ab, schüttelte den Kopf. Summte von neuem, hörte wieder auf, fühlte aber schon, daß es gelingen würde.

Das Gedicht hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er wurde nicht müde, es dem Abbé Lamennais immer wieder zu erklären und auch dem Klavierkünstler Hiller, dem er zwar schon früher mehrmals begegnet war, dem er aber jetzt näher stand. Hiller stammte aus einem wohlhabenden Frankfurter Hause, und nachdem sie entdeckt hatten, daß sie genau gleichaltrig waren, nur zwei Tage auseinander, nannte Franzi den anderen Spaßes halber »Onkel Hiller«. Er war im großen und ganzen kein hervorragender Klavierspieler, aber ein vorzüglicher Musiker, ein gescheiter, gebildeter und lustiger junger Mann. Sie befreundeten sich immer inniger. Manchmal schloß sich ihnen auch Osborn an, der wortkarge, ständig Pfeife rauchende Musiker aus Irland, und der zu dieser Zeit in Paris auftauchende Berliner Bankierssohn Mendelssohn, der Enkel des Philosophen Mendelssohn.

Die vier jungen Klavierkünstler trafen sich entweder bei einer Orchesterprobe im Konservatorium, in der Italienischen Oper oder bei einem Konzert. Sie besprachen die wichtigsten Ereignisse der musikalischen Welt und deren kleine Skandalgeschichten. Sie begeisterten sich an den zauberhaften Nocturnes von Field und schimpften über die Großspurigkeit und unsinnige Eitelkeit des in Paris seßhaft gewordenen Kalkbrenner. Ab und zu setzten sie sich in irgendein Kaffeehaus, das an ihrem Wege lag, und lachten in der ungezügelten Freude ihrer zwanzig Jahre laut und herzlich über allerlei mögliche und unmögliche Dinge.

Bei solch einer Gelegenheit brachte Hiller die Nachricht mit, daß ein sehr interessanter Pole nach Paris gekommen sei.

»Das werden ja immer mehr Polen«, meinte Franzi.

»Ja, aber das ist kein Niemand, das ist ein Klavierkünstler. Der junge Pleyel hat schon einen Vertrag mit ihm geschlossen, daß er nur auf Pleyelschen Instrumenten spielen darf. Das geht gegen uns und gegen das Erard-Klavier, Pleyel sagt, dieser Pole werde uns alle vier in seine Tasche stecken, wenn er erst auftrete.«

» Vidi iam alias ventos«, warf Mendelssohn hin, der sich in seltenen lateinischen und griechischen Sprüchen gefiel. »Im übrigen weiß ich auch schon mehr über diesen Polen. Er hat in Warschau bei Elsner gelernt …«

Franzi fiel ihm ins Wort:

»Ist das nicht dieser Chopin oder wie er heißt, der unlängst in München und Stuttgart Konzerte gegeben hat? Ich habe von ihm gelesen.«

»Ja, der ist es. Stellt euch vor, als er ankam, machte er Kalkbrenner einen Besuch. Dieser alte Wichtigtuer hat ihn angehört und ihm dann versichert, daß nur dann etwas aus ihm würde, wenn er drei Jahre lang bei ihm lerne. Darauf sagte der Pole, daß er nicht die Absicht habe, ein Abklatsch von Kalkbrenner zu werden, sondern er selbst zu bleiben wünsche.«

»Bravo!« rief Osborn, der lediglich mit dieser Meinungsäußerung an der Unterhaltung teilnahm.

»Mit einem Wort, gehen wir alle zu seinem Konzert und verhelfen ihm zu einem großen Erfolg, damit Kalkbrenner der Schlag rührt. Habt ihr im übrigen schon gehört, was man über Kalkbrenner gesagt hat?«

Alle waren gespannt auf die Neuigkeit.

»Also man hat gesagt: dieser Kalkbrenner ist wie ein in den Dreck gefallenes Bonbon. Es schmeckt gut, aber keiner will es mehr haben.«

Die vier Klavierkünstler lachten aus vollem Halse auf Kalkbrenners Kosten. Dann beschlossen sie, alle zum Konzert des Polen zu gehen, um heftig zu applaudieren.

Und sie gingen auch hin. Am 26. Februar fand das Konzert statt. Im Pleyel-Saal kam eine kaum für den halben Saal ausreichende Zuhörerschaft zusammen, und auch die bestand zum größten Teil noch aus polnischen Flüchtlingen. Da war zunächst Graf Plater und seine Frau, die in der vornehmen Gesellschaft von Paris schon sehr beliebt geworden war. Sie hatte sogar schon einen Kosenamen im Faubourg, man nannte sie » pani Kasztelanowa«, was »die Frau des Kastellans« bedeutete. Auch die in Paris bereits bekannten Mitglieder der Familie Potocki und Czartoryski waren anwesend, an deren einfachen, abgetragenen Kleidern man sah, daß sie außer ihrer nationalen Trauer nichts hatten von Hause mitbringen können. Alles sprach polnisch, man hörte kaum ein französisches Wort. Der junge Pleyel lief aufgeregt hin und her, gab Anweisungen und küßte hin und wieder seiner jungen Frau mit der Zärtlichkeit eines Jungvermählten die Hand. Franzi mußte an den in der Ferne weilenden Berlioz denken, denn die junge Frau Pleyel war niemand anderes als Camilla Mock, die Klavierlehrerin und einstige Braut von Berlioz. Kaum hatte der verliebte Berlioz den ersten Schritt aus Paris getan, um mit seinem Stipendium nach Italien zu reisen, da erhörte die schöne Camilla den Klavierfabrikanten, und schon nach ein paar Wochen schrieb sie ihren Abschiedsbrief. Franzi betrachtete die Frau, die in der ersten Reihe saß, mit den begehrlichen Augen des jungen Mannes. Sie hatte einen feinen, lieblichen Kopf. Ihr in der Mitte gescheiteltes Haar war fest geflochten und auf ihrem weißen Nacken warf ein feiner Flaum feinen zarten Schatten. Besonders ihre Schultern waren sehr schön, schmal und trotzdem voll, und das blendende Weiß ihrer Haut lockte, es in sehnsüchtigem Verlangen weit über den tiefen Rückenausschnitt hinunter zu verfolgen, auch dorthin, wo das Auge nicht mehr folgen darf. ›Armer Hector!‹ dachte Franzi, dann musterte er die anderen Frauen. Er schloß die Augen und dachte an die Umarmungen der Gräfin Adele und an alle die schnellen und leichten Siege, die er seit dieser Zeit bei anderen Frauen erfochten hatte. Aber wie immer, dämpfte auch jetzt das feine Lächeln des gütigen alten Grafen Laprunarède seinen Stolz. Dieses Lächeln war noch heute ein Vorwurf für ihn und erfüllte ihn mit bitterem Schamgefühl.

Endlich betrat der angeblich so prächtig spielende Pole, dessen Name nach dem Programme Friedrich Chopin lautete, den Saal. Die Polen begrüßten ihn mit heftigem Beifall. Sei applaudierten zunächst wohl weniger dem Künstler, als dem, der mit ihnen die Verbannung teilte.

Der polnische Klavierkünstler war ein blonder junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren. Sein dichtes Haar trug er an der Seite gescheitelt. Die Bewegungen seiner schlanken, mittelgroßen Gestalt wirkten sehr vornehm. Auf den ersten Blick sah man ihm die gute Kinderstube an. In seiner Art, wie er zum Klavier trat, lag weder theatralische Eitelkeit, noch übertriebene Bescheidenheit. Daß ihn ein heftiges Lampenfieber quälte, verrieten nur einige nervöse Zuckungen in seinem Gesicht und sein stoßweißes Atmen.

Er holte tief Atem und begann zu spielen. Die vier Freunde hörten neugierig zu. Nach drei Takten sahen sie sich an. Ihr Kopfnicken bedeutete, daß dieser Chopin recht hatte, wenn er sich selbst treu bleiben wollte. Dieser runde, ausgefeilte, individuelle Anschlag gehörte ihm und keinem anderen. Für den Sachverständigen genügen zu einem solchen Urteil drei Takte.

Aber diesen drei Takten folgten noch hundert andere. Franzi hörte dem Künstler gebannt zu. Schon in den ersten fünf Minuten war er sich darüber im klaren, daß er einer außergewöhnlichen großen Begabung lauschte. Über die Vollkommenheit der Fingerarbeit war kein Wort zu verlieren. An der Ausgeglichenheit des Vortrages erkannte man die bewährte Cramersche Methode. Was aber noch viel, viel mehr war: aus dem jungen Polen strahlte eine ganz eigenartige Persönlichkeit, die einen Platz unter den ersten Klavierspielern der ganzen Welt beanspruchen durfte. Nur die innere Reinheit einer langsamen, unbeirrbaren, gefühlsbetonten Entwicklung konnte eine so klare seelische Form erzeugen. Hier tobte sich keine überschäumende Kraft am Klavier aus, sondern eine zu Zärtlichkeit neigende, an Gefühlen überreiche, mimosenhaft empfindliche, nachdenkliche, ernste Natur enthüllte ihr in edlem Kummer und erhabener Trauer verwurzeltes Wesen.

Franzi bemerkte mit einem Male, daß ihn ein aufrührerisches Herzklopfen übermannte. Im ersten Augenblick schreckte er davor zurück, in sein Herz zu sehen, denn er war nicht sicher, ob er sich dessen, was er auf seines Herzens Grunde finden würde, freuen könnte. Dann betrachtete er sich aber scharf mit dem Mut eines Menschen, der seiner Überzeugung bis ans Lebensende treu bleibt. Während der blonde Pole so hinreißend Klavier spielte, hielt er mit sich selbst eine kurze, aber heftige Zwiesprache.

›Spielt er besser Klavier als ich?‹

›Nein. In manchem erreicht er mich, aber ich kann doch noch mehr. Das ist der ausschlaggebende Unterschied: er läßt das Klavier sprechen, ich habe das Klavier bezwungen, ich spreche selbst, wenn ich Klavier spiele.‹

›Könnte er meinen Ruhm in den Schatten stellen?‹

›Kann sein. Es ist das ja zum Teil auch Modesache. Aber mich endgültig aus dem Felde zu schlagen dürfte ihm kaum gelingen. Immerhin – ein gefährlicher Gegenspieler.‹

›Und jetzt muß ich ehrlich bekennen: wünsche ich seinen Sturz? Ärgert es mich, daß er aufgetaucht ist?‹

›Nein! Nein! Nein! Ich fühle, daß ich ihn gern habe! Ich weiß, daß meine Seele die eines Mannes ist und daß ich vornehm denke. Oh, ich bin so froh …‹

Mit strahlendem, erlöstem Gesicht hörte er dem Spiel weiter zu. Er hatte die große Probe bestanden und brauchte sich nicht vor sich selbst zu schämen. Er empfand eine erhebende Freude und die glückliche Genugtuung der reinen Seele. Seine Dankbarkeit für Chopin, der ihm zu dieser Charakterprobe Gelegenheit geboten, verdoppelte seine Zuneigung zu dem Künstler, unter dessen Händen die Töne wie farbenprächtige Springbrunnen rauschten und sprudelten. Er sehnte sich nach einer innigen Freundschaft mit diesem jungen Menschen. Als das erste Stück zu Ende war, brach dröhnender Beifall aus. Mendelssohns kräftiges Händeklatschen übertönte sogar den begeisterten Applaus der polnischen Patrioten. Er stand auf und applaudierte stehend. Er wollte unter allen Umständen die Aufmerksamkeit Kalkbrenners auf sich lenken, der in der ersten Reihe neben der schönen Frau Pleyel saß, und mit säuerlichem Gesicht, als hätte man ihm einen Zahn gezogen, ein paar Mal in die Hände geklatscht hatte. Er war blaß vor Zorn. Auch Franzi spendete heftig Beifall und beobachtete Kalkbrenner. Welche Qual mußte das sein, so klein und so neidisch zu sein. Diesen Menschen machte jeder Erfolg eines anderen krank. Was war es dagegen für eine stolze Freude, großherzig, gerecht und Herr über seine Gefühle zu sein …

»Köstlich«, sagte Mendelssohn, der immer noch wie ein Wahnsinniger klatschte, zu seinen Freunden. »Kalkbrenner ist stiller Teilhaber der Pleyelschen Fabrik. Der Erfolg Chopins bedeutet für ihn einen ungeheuren pekuniären Gewinn. Jeder weiß doch, wie er das Geld anbetet. Und doch erstickt er fast vor Wut über seinen eigenen geschäftlichen Erfolg …«

Diese letzten Worte übertönten unvorsichtigerweise den schon abflauenden Beifall. Chopin begann von neuem zu spielen. Sein eigenes e-moll-Klavierkonzert. Die Begeisterung danach war noch größer. Um das Programm zu füllen, spielte Kalkbrenner gegen Ende des Konzertes selbst noch einmal; auch ein Violinspieler namens Baillot trat noch auf, aber das große Erlebnis des Abends war der Pole. Er spielte eine ganze Reihe seiner kleineren Kompositionen, die Franzi einfach verblüfften. Er fand den Klavierspieler hervorragend, aber auch den Komponisten unerhört reizvoll. Man konnte ihn mit niemandem vergleichen. Aus dem Zauber der diamantperlenden Sätze leuchtete die reine Seele eines Cherubs hervor, der in süßer Trauer durch seine Tränen lächelte. Es war eine wunderbare Trauer, ein unwiderstehlich bannendes Weh, nicht die Qualen des Leides, nur eine Ahnung. Und alles kleidete der Künstler in die reiche Volkstracht seines Vaterlandes, als ob er die strahlenden Gedanken seiner Schwermut, feenhaften Frauen gleich, zu irgendeinem traumhaften, mondscheinnächtigen Maskenball schickte.

Nach dem Konzert konnten die vier Klavierspieler kaum an Chopin herankommen. Die vornehmen polnischen Damen bildeten einen engen Kreis um ihn, dem sich auch die anderen Polen anschlossen. Pleyel tapste in freudiger Aufregung herum. Der Ruf seiner Klaviere mußte jetzt unzweifelhaft die ganze Welt erfüllen. Die vier Pianisten warteten, eine kleine Gruppe bildend, geduldig, bis sie an die Reihe kamen. Inzwischen trafen sich zufällig die Blicke Franzis und Camilla Pleyels, wie wenn sich im Gedränge zwei fremde Hände zufällig berührt hätten. Sein Blick sagte: ›Ich bin neugierig auf dich!‹, der der Frau: ›Du bist umsonst schön und berühmt, du interessierst mich nicht, ich gehöre einem anderen.‹

Endlich konnten sie sich vorstellen.

»Mendelssohn.«

»Osborn.«

»Hiller.«

»Liszt.«

Chopin, der bei jedem Namen freudig zusammenfuhr, öffnete beim letzten, bei dem Weltberühmten, dem Unbestrittenen, dem jungen Halbgott seines Berufes, seine warmen braunen Augen zu einem so tiefen und innig verbundenen Blick, wie er ihn keinem anderen zugestanden hätte. Chopin und Liszt drückten sich die Hände und keiner ließ die Hand des anderen wieder los. Forschend, um Zuneigung bittend, voll Bewunderung füreinander, sahen sie sich ins Gesicht.

»Wir wollen gute Freunde sein«, sagte Franzi. »Wollen Sie?«

Chopin antwortete mit feinem Lächeln und einem durch den stark slawischen Tonfall besonders liebenswürdig klingenden Französisch:

»Sie sind mir zuvorgekommen, mein lieber Freund, ich wollte Sie eben um dasselbe bitten.«


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