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Elftes Kapitel

Nun waren sie schon wochenlang in Paris, denn alle ihre Pläne waren durchkreuzt worden. Marie hatte sich mit George Sand so sehr angefreundet, daß sie ihre Einladung, nach Nohant in ihr Landhaus zu kommen, nicht abschlagen konnte. So beschlossen Franzi und Marie, erst noch George zu besuchen und von Nohant aus gleich nach Italien zu reisen. Doch George drängte vergeblich zur Abreise; Franzi wollte sich aus Paris nicht wegrühren. Hinter jedem seiner Worte und all seinem Tun lauerte Thalbergs Schatten.

Thalberg beunruhigte ihn mehr denn je. Als er beim Berlioz-Konzert auf das Podium trat, wurde er nicht einmal mit Applaus begrüßt. Das widerfuhr ihm zum ersten Male in seinem Leben. Dasselbe Publikum, das ihn zehn Jahre lang verwöhnt und vergöttert hatte, saß heute mit frostiger, fast feindseliger Erwartung dort unten und rührte keine Hand zum Willkomm. Zwar eroberte er sich die Zuhörer durch sein Spiel von neuem, nach den einzelnen Vorträgen brachen sie in den gewohnten dröhnenden Beifall aus, aber Paris gehörte ihm doch nicht mehr. Paris gehörte Thalberg. Jedes kleine Mädchen spielte Kompositionen von Thalberg, jede Musikzeitung berichtete laufend über Thalberg, zahlreiche Kritiker hielten ihm Thalberg vor, und wenn man auch die Vortragskunst der beiden nicht miteinander vergleichen konnte – denn Thalberg war ja nicht anwesend –, so spielte man den Nebenbuhler wenigstens als Tondichter gegen ihn aus. Auf Schritt und Tritt hörte er, daß er schon der Vergangenheit angehöre; als Vortragender wie als Komponist sei Thalberg der Mann der Zukunft.

Franzi war außer sich vor Aufregung und schlief keine Nacht. In seinen Zimmern im »Hotel de France« lief er stundenlang ruhelos auf und ab. Die Ruhe, die ihm im Sommer Chopins Urteil gegeben hatte, ging ihm angesichts der sich überall breitmachenden Thalberg-Begeisterung wieder verloren. Auf Franzis Klavier lag ein ganzer Stoß Thalbergscher Kompositionen, die er in einem fort studierte. Er verstand das Ganze nicht. War er verrückt oder die ganze Welt? Dieser süßliche, gefällige musikalische Sirup sollte die neue Musik sein? Nicht die wilde, kühne Kraft Berlioz' mit ihren Streifzügen in die Geheimnisse bisher unerforschter Instrumentationskunst?

Franzi konnte es einfach nicht länger aushalten; er setzte sich hin und schrieb einen Aufsatz. Es schien ihm, als müsse er die ganze Welt festhalten, wie man ein durchgehendes Wagenpferd mit einem einzigen Zügelruck vom Abgrunde zurückreißt. Er übte scharfe Kritik an den Werken Thalbergs, nannte sie mittelmäßig, naiv und nichtssagend. »Beim besten Willen sind wir nicht imstande, in den vierundzwanzig Seiten dieser Phantasie etwas von dem zu entdecken, was man in der Kunst mit ›Einfall, Farbe, Persönlichkeit, Schwung und Inspiration‹ zu bezeichnen pflegt. Hilflosigkeit und Eintönigkeit, – das ist alles, was wir bei gründlicher Untersuchung als Kennzeichen dieser Werke festzustellen vermögen.« Er war zu sehr gekränkt. Seine persönliche Empfindlichkeit ging mit ihm durch. Auch als er etwas Anerkennendes über Thalberg sagen wollte, glitt seine Feder aus: »Seine beiden anderen Werke, die seine besten Schöpfungen sein mögen, lassen eine unleugbare Meisterschaft des Vortrags ahnen; ja, mehr noch: sie zeigen, daß der Komponist über Gebühr in den Werken von Hummel, Moscheles, Kalkbrenner, Herz und Chopin bewandert ist.«

Der schlaue Verleger der » Gazette Musicale« veröffentlichte diesen Aufsatz ohne weiteres. Er fügte bloß eine Fußnote hinzu: »Die Meinung der Schriftleitung deckt sich nicht mit der in nachfolgendem Artikel gebotenen Beurteilung.« In der gesamten musikalischen Welt entbrannte ein fürchterlicher Aufruhr. Sogar Franzis beste Freunde konnten diesen groben Angriff nicht gutheißen. Und seine Feinde verkündeten jetzt erst recht frohlockend: »Aha, der große Mann hat Angst! In seinem ohnmächtigen Zorn beschimpft er den siegreichen Nebenbuhler.«

Franzi befand sich in einer unbeschreiblichen Erregung; er verteidigte sein Unrecht aufs heftigste, wurde heiser von den vielen Debatten und über alle Maßen nervös durch die schlaflos verbrachten Nächte. Er war nicht zu bewegen, aus Paris abzureisen. Marie aber hielt die Aufregung nicht mehr aus, und George war nicht geneigt, noch länger zu warten. Ende Januar eröffneten ihm die beiden Frauen, daß sie nach Nohant vorausführen und Franzi nachkommen solle, sobald es ihm möglich wäre. Er zögerte. Es bangte ihm davor, allein in Paris zurückzubleiben, weil er seine Schwäche den Frauen gegenüber kannte und doch die ehrlichsten Absichten hatte, Marie nicht zu betrügen. Die beiden Frauen fragten ihn aber gar nicht mehr nach seiner Meinung, sie reisten einfach ab. Zu gleicher Zeit erhielt er die Nachricht, daß Thalberg nach Paris komme.

Er atmete erleichtert auf wie ein Löwe, der endlich den bisher verborgen gewesenen Jäger erspäht. Sein Kalender war voll von Konzertvormerkungen. Er veranstaltete vier Trio-Abende: in Erwartung des großen Ereignisses wollte er sich dem Publikum soviel als möglich zeigen. Sein Klavierkonzert war auf einen Donnerstagvormittag festgesetzt. Thalberg bestimmte sofort sein Konzert für den Abend desselben Tages. Darauf verschob Franzi das seine um eine Woche.

Endlich sah und hörte er den Gegner. Er mochte wohl im gleichen Alter mit ihm sein und war von typisch wienerischem Äußeren. Er trat mit leisen, zögernden Schritten auf das Podium und setzte sich sofort ans Klavier. Stürmischer Beifall empfing ihn. Er dankte mit einem bescheidenen Neigen des Kopfes, wobei keine Miene in seinem Gesicht sich änderte. Dann spielte er. Franzi ließ ihn nicht aus den Augen. Sehr schnell war er sich darüber im klaren, worin der eigene Stil des berühmten Gegners bestand: Thalberg arbeitete mit beiden Daumen, die die Melodie bei der Auflösung der Passagen abwechselnd übergreifend weitergaben. Durch die höhere Fallkraft des Daumens verliehen sie der Melodie ein singendes Gepräge, als ob sie von einem Orchester begleitet würde. Das war unbestritten eine außerordentlich wirkungsvolle Spielweise. Franzi selbst hätte sie auch anwenden können, wenn ihm unter seinen hundertfachen technischen Einfällen auch dieser gekommen wäre. Trotzdem konnte Thalberg in der Tat ganz ausgezeichnet Klavier spielen, das vermochte selbst er nicht zu leugnen. Nach Beendigung des Vortrages brach das Publikum in einen fast hysterischen Beifall aus. Thalberg blieb sitzen. Auf seinem Gesicht bewegte sich nicht ein einziger Muskel. Er neigte nur kurz den ein wenig zur Seite gedrehten Kopf. Nur die Ohren, der Nacken und die Stirn, die mohnblumenrot glühten, gaben Zeugnis von der großen inneren Erregung und Anstrengung.

Eine Woche später hörte Thalberg ihn spielen. In diesem Konzert nahm er seine ganze Kraft zusammen, um so zu spielen wie noch nie. Persönlich kannten sie sich immer noch nicht. Um sie herum aber summte und brummte ganz Paris wie ein Bienenstock. Das große Ereignis der Weltstadt war das Duell der beiden Klavierkünstler. Währenddessen erholte sich Marie in idyllischer Einsamkeit bei George Sand.

Wenn sie aber gewußt hätte, daß Franzi nicht nur mit Thalberg beschäftigt war, wäre sie nicht so ruhig gewesen. Franzi war in Gefahr. Die einstige Braut Berlioz', die ihren Bräutigam im Stich gelassen und den Klavierfabrikanten Pleyel geheiratet hatte, war bei jedem Konzert Thalbergs anwesend, – genau wie Franzi. Und als er sich einmal zehn Minuten lang mit der schönen Camilla allein unterhalten hatte, wußte er, daß die Versuchung wieder stärker sein würde als alle seine guten Vorsätze.

Und so geschah es auch. Camilla klagte ihm, daß sie sich mit ihrem Manne nicht vertrage. Er wäre viel zu sehr Geschäftsmann, viel zu materiell, sie aber lebe in den höheren Sphären der Musik. Selbstverständlich kam zwischen ihnen auch das Problem Thalberg zur Sprache. Und die wunderbare Frau, eine der zehn schönsten Frauen von Paris, bekannte sich vorbehaltlos zu Franzi. Das wirkte zuerst wie ein besänftigender Balsam auf sein brennendes Herz. Dann empfand er Camilla gegenüber eine leidenschaftliche Dankbarkeit. In dieser Dankbarkeit gesellte sich die Begeisterung über Camillas Schönheit und sein ihm angeborener Trieb, der es ihm unmöglich machte, gleichgültig zu bleiben, wenn er mit einem weiblichen Wesen auch nur einige Worte wechselte. Aus vertrauten Gesprächen wurden gemeinsame, lange Spaziergänge, bei denen bald heimliche Küsse getauscht wurden, und eines Tages taumelte Camilla Pleyel, die unverstandene, von dem Ruhm einer großen Pianistin träumende Frau, trunken mit geschlossenen Augen in Franzis Arme. Unter dem Vorwande, daß sie Unterricht bei ihm nehme, konnten sie leicht und oft zusammenkommen. Das fiel nicht auf, denn Franzi hatte in der zweiten Pariser Zeit mehrere Schüler und Schülerinnen, darunter die Schwester Mussets, die jugendliche Tochter des unlängst verstorbenen, hervorragenden Gesangsmeisters Garcia und andere. Die schüchterne, wie ein Reh scheue, schwärmerische Camilla sah zu ihm auf wie zu einem Halbgott. Er aber, der gejagte und angegriffene Halbgott nahm die herrliche Frau mit trotziger Genugtuung in seinen Besitz. Das Gewissen mahnte ihn nicht mehr so laut wie bei der Herzogin Belgiojoso. Er erkannte mit einer gewissen Enttäuschung, daß sich auch das Gewissen abnützen konnte, und damit nützte sich auch sein Gefühl für Marie, das doch für das ganze Leben gelten sollte, ab.

Die Herzogin Belgiojoso griff mit der ihr eigenen gesellschaftlichen Geschicklichkeit die Sensation, das Duell Thalberg-Liszt, auf. Mit Franzi kam sie auch jetzt noch häufig zusammen. Bei einer solchen Begegnung sagte sie zu ihm:

»Ich habe eine große Bitte an Sie, Franzi. Meine Armen brauchen sehr viel Geld. Ich will ein Wohltätigkeitskonzert veranstalten. Beteiligen Sie sich daran mir zuliebe.«

»Das konnten Sie doch als selbstverständlich voraussetzen«, erwiderte er und fügte dann bitter hinzu: »Warum wenden Sie sich nicht lieber an Thalberg?«

»Den habe ich auch ersucht«, entgegnete die Herzogin mit listigem Blick, die Wirkung dieser Mitteilung erforschend, »er hat schon zugesagt. Ich hoffe, es wird Sie nicht stören. Er freute sich sehr, als er hörte, daß ich auch Sie bitten wolle.«

Endlich! Franzi richtete sich unwillkürlich auf und streckte die Glieder. Endlich sollte er mit dem Gegner zusammenkommen, in demselben Saal, sollte sich mit ihm messen und den Zuhörern die Möglichkeit geben, sie an Ort und Stelle miteinander zu vergleichen. Auge in Auge sollten sie sich gegenübertreten.

Die Herzogin gab das Konzert bekannt. Sie verlangte vierzig Franken Eintrittsgeld von jedem ihrer geladenen Gäste. Die Sensation war so groß, daß sie ruhig noch mehr hätte verlangen können. Bei dem spannendsten Ereignis war sie jedoch der einzige Augenzeuge: in einem Nebenzimmer machte sie die beiden Künstler miteinander bekannt, während sich draußen die ankommenden Gäste bereits drängten.

Thalberg neigte den Kopf und reichte Franzi mit untadeliger Höflichkeit die Hand. Die am besten auf der ganzen Welt klavierspielenden Hände lagen ineinander. Dann blickten sich die beiden Gegner an. Jeder wartete zuvorkommend, daß der andere zuerst sprechen solle. Und wie es bei solchen Gelegenheiten stets zu geschehen pflegt, fingen beide zugleich zu sprechen an, verstummten sofort wieder und warteten abermals aufeinander. So wechselten sie schließlich nur ein paar nichtssagende Sätze. Zwischen ihnen stand Franzis öffentlicher Angriff, der jedoch mit keinem Wort erwähnt wurde. Zwei gut erzogene Männer unterhielten sich. An der Tür wollte einer dem anderen höflich den Vortritt in den Saal lassen, wo jeder den anderen hinzurichten gedachte.

Für die Zuhörer war dieses Konzert keine gewöhnliche musikalische Unterhaltung, sondern ein mit Waffen ausgetragenes Gottesurteil. Die beiden Künstler spielten abwechselnd. Als sie das Konzert beendet hatten, blieb das Duell unentschieden. Keinem wurde wesentlich mehr Beifall auf Kosten des anderen zuteil. Wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, den Beifall ganz genau gegeneinander abzuwägen, so hätte es scheinen können, als wäre der Beifall für Franzi um ein geringes stärker gewesen. Die schöne Camilla war fast krank vor Aufregung. Nach Schluß des Konzertes ging sie auf die Hausfrau zu und stellte ihr kurzerhand die Frage:

»Was ist Ihre Meinung über das Endergebnis dieses Kampfes, Herzogin?«

»Thalberg ist der erste Klavierspieler der Welt«, entgegnete die Herzogin sofort.

»Und Liszt?« fragte Camilla bestürzt.

Die Herzogin lächelte, ihr Gesicht verklärte sich, sie warf schwärmerisch den Kopf in den Nacken und legte die Hand aufs Herz.

»Liszt ist der Einzige auf der Welt!«

Es waren aber keineswegs alle so begeistert von dem Einzigen. In der » Gazette Musicale« erschien eine Antwort auf den gegen Thalberg gerichteten Angriff. Ihr Verfasser war Fétis, derselbe Fétis, der einst so hinreißende Vorträge über die neuen Harmonien gehalten und den Sieg der »neuen Welt« verkündet hatte. Jetzt tadelte er den Meister streng dafür, daß er der Feind des anderen geworden sei, statt nur sein Gegner zu bleiben. Der lange Aufsatz schloß mit der Behauptung:

»Sie sind der Abkömmling einer Schule, welche endet und nichts mehr zu tun hat, aber Sie sind nicht der Mann einer neuen Schule. Thalberg ist dieser Mann! Das ist der ganze Unterschied zwischen Ihnen beiden.«

Franzi war außer sich vor Empörung, vor verletzter Empfindlichkeit und gekränktem Ehrgeiz. Er verfaßte seinerseits einen langen Aufsatz und griff Fétis selbst an. Der antwortete. Franzi antwortete wieder. Es entbrannte ein heftiger Zeitungskrieg, von dem ganz Paris widerhallte. Gierig suchte er Heilung für seine Wunden: in Camillas Küssen, in der unerschütterlichen Freundschaft von Chopin und Berlioz und in einem besonders erfreulichen Wiedersehen. Während des Musikkrieges kam Czerny nach Paris. Ein klein wenig gealtert, ein wenig dicker geworden, aber launig wie früher und von unwandelbarer Liebe zu seinem weltberühmten Schüler erfüllt. Als kleinen Knaben hatte er ihn einst in Wien entlassen, und als Vater sah er ihn wieder.

Die Herzogin Belgiojoso nutzte die Situation wiederum gründlich aus. Sie veranstaltete ein neues Wohltätigkeitskonzert. In überschwenglichen Worten verkündeten die Zeitungen das spannende Ereignis: »Auf dem Podium werden sechs Klaviere stehen und an den sechs Klavieren: Liszt, Thalberg, Chopin, Pixis, Czerny und Herz. Jeder Künstler wird eine Phantasie über den Puritaner-Marsch von Bellini vortragen.« Der Saal wurde zum Brechen voll. Jetzt siegte Franzi offensichtlich. Die Presse nannte wohl oder übel seinen Namen an erster Stelle, und der Verleger, der die sechs Phantasien unter dem Titel »Hexameron« herausgab, beauftragte ihn, die Ouvertüre und das Finale zu schreiben.

Nun aber war es genug! Wohl war er als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen, aber mit schweren Wunden, wie dieser Sieg sie kaum wert war. Die schmerzlichste Wunde hatte er sich selbst zugefügt. Er begann dumpf zu ahnen, nachdem er den Krieg hinter sich hatte, daß seine an Thalberg geübte Kritik ungerecht war. Vom rein musikalischen Standpunkte aus gesehen, war er allerdings im Recht; die Tondichtungen waren tatsächlich nicht viel wert, sie waren leer, geziert und nichtssagend. Er hätte aber als vornehmer und sich überlegen fühlender Gegner stumm bleiben sollen. Zum ersten Male in seinem Leben mußte er erkennen, daß sein unbeherrschter Ehrgeiz sich erdreistet hatte, die hohen Gesetze der Vornehmheit und des Stolzes zu übertreten, die sein angeborener Instinkt ihm selbst gegeben hatte. Nach fast fünfmonatigen, blutigen Qualen konnte er Paris zwar mit der Genugtuung verlassen, daß er den Gegner besiegt hatte, im Innersten seines Herzens fühlte er sich aber geschlagen: Thalberg war während des ganzen Zweikampfes taktvoll, zurückhaltend und kühl geblieben …

Ruhe, Ruhe! Das war seine einzige Sehnsucht, als er endlich nach Nohant fuhr. Die Aufschläge seines Rockes waren noch feucht von den Abschiedstränen der schwärmerischen Camilla. So schnell aber, wie der Reisewagen Paris hinter sich ließ, vergaß er diese Tränen.

In Nohant erwartete ihn ein überwältigend schöner Frühling und die gesegnete Arznei der ländlichen Ruhe. Das Haus George Sands war ein sehr nettes, altes Gebäude, dessen Behaglichkeit durch die altertümlichen Möbel, die vielerlei Tiere, die schwelgenden Mahlzeiten erhöht wurde. Marie fühlte sich dort schon ganz heimisch und hatte sich mit den beiden Kindern angefreundet. Die gute Laune Georges und ihr nie ruhender, spöttelnder Geist waren von großem Einfluß auf sie, sie wurde freier und natürlicher und nahm manchmal sogar schon an lustigen Balgereien teil, denen sie bis vor kurzem nur als vornehme Zuschauerin beigewohnt hatte. Eine große Veränderung ihres Wesens verursachte auch der Umstand, daß sie öfter versuchte, sich schriftstellerisch zu betätigen. Franzi hatte sie dazu angeregt. Er meinte, daß jemand, der geistreiche, nette Briefe schreiben könne, auch Begabung zum Schriftsteller haben müsse. Auch George redete ihr zu, und so stürzte sich Marie auf diese neue verlockende Beschäftigung. Und kurz darauf hielt sie sich bereits für eine Schriftstellerin. Zunächst entstanden nur ganz dilettantische Versuche, in deren überhitzten Stimmungsbildern fast mehr Gedankenstriche und Ausrufungszeichen waren, als Worte. Das schadete aber nichts. Wenigstens hatte sie jetzt endlich etwas gefunden, womit sie sich beschäftigen konnte, und brauchte nicht mehr als vorwurfsvolles Gespenst wehleidiger Langeweile umherzulaufen.

Die Lebensgewohnheiten der Gäste richteten sich nach denen der Hausfrau. George Sand zog vor, nachts zu arbeiten. Manchmal schrieb sie bis zum Morgengrauen an einer Roman-Fortsetzung oder au Briefen, ging erst bei Tagesanbruch zu Bett und schlief dann bis spät in den Mittag hinein. Franzi und Marie gewöhnten sich schnell an das lange Aufbleiben. Als es wärmer wurde, saßen sie nach dem Abendessen auf der Parkterrasse, die beiden Frauen machten sich's in Liegestühlen bequem, Franzi spielte drinnen Klavier, und die zauberhaften Töne der Musik strömten durch die offene Tür in die stille, duftende Nacht. Oft hatten sie auch Besuch, Gäste aus Georges Pariser Welt. Einer von ihnen war Bocage, der berühmte Schauspieler, der die Schriftstellerin überreden wollte, ein Drama zu schreiben. George war nicht abgeneigt. Sie versprach, darüber nachzudenken. Nach einigen Tagen erzählte sie Franzi, daß sie bereits ein gutes Thema habe, aber der Name der Heldin fehle ihr noch, der sei jedoch bei allen ihren Arbeiten sehr wichtig, weil solche klangvolle und interessante Namen, wie zum Beispiel Indiana oder Lelia sie während der Gestaltung ihrer Werke inspirierten.

»Ich habe den Namen«, sagte sie dann später, »Cosima!«

»Cosima, Cosima …« wiederholte er, »ein schöner Name. Die weibliche Form zu Cosimo. Ausgezeichnet. Was meinen Sie dazu, Marie, wenn es ein Mädchen wird …?«

Marie nickte und lächelte. Auch sie hatten beide einen neuen Namen nötig. Marie erwartete wiederum ein Kleines, und zwar abermals für Ende Dezember. So ganz ehrlich freute sich keiner von ihnen über den netten Segen, der nur Verzögerung und Unbequemlichkeit für ihr Reiseleben bedeutete. Aber Gott hatte es so bestimmt, und sie waren viel zu religiös, als daß sie sich dagegen aufgelehnt hätten.

Nachdem einige Wochen vergangen waren, fing Marie an, ungeduldig zu werden. Sie sehnte sich nach der italienischen Reise. George aber stellte alles mögliche an, um sie da zu behalten. Auch Franzi legte keine allzu große Eile an den Tag. So war Ende Juni herangekommen, als sie endlich daran dachten, ihre Zelte in Nohant abzubrechen. Marie fuhr jedoch erst nochmals zu ihrer Mutter, die sie lange nicht gesehen hatte, und Franzi blieb allein zurück. Sie verabredeten, sich in Paris wieder zu treffen.

Nun waren sie nur noch zu zweit an diesen duftenden, schwülen Sommerabenden, die Schriftstellerin und der Musiker. Nachts arbeiteten sie in einem Zimmer und rauchten gemeinsam ihre Zigarren. Franzi saß am Klavier oder schrieb an einer Studie über Schumanns Musik, George arbeitete fleißig an ihrem neuen Roman. Die Musik störte sie nicht, sie regte sie sogar bei ihrer Arbeit an. Ab und zu machten sie beide eine Pause und verplauderten eine halbe Stunde. Durch die offene Glastür der Veranda blickte vom Park her das Schweigen und die Einsamkeit der Nacht zu ihnen herein. Sie waren schon sehr vertraute Freunde geworden. George sprach ganz offen von Musset und ihrer Trennung von ihm. Franzi sprach ebenso offen über Marie. Und sie sprachen gemeinsam über die Liebe im allgemeinen. Wenn sie es sich auch nicht eingestanden, fühlten sie doch, daß dieses zusammengesperrte Alleinsein in der Stimmung lauer Sommernächte nicht ganz gefahrlos war. Eines Abends ließ George Champagner bringen. Er bekam beiden vorzüglich, die Unterhaltung wurde angeregt und lustig. Als sie sich wieder an ihre Arbeit setzen wollten, hatte keiner mehr Lust dazu. George ließ noch zwei Flaschen Champagner kommen. Und Franzi wußte, daß hier wieder ein Unheil im Anzuge war. Nicht ein bißchen verliebt war er in diese Frau. Sie gefiel ihm nicht einmal besonders. Aber sie war eine Frau, und vom Parke her glänzte besinnlicher, trauter Mondschein, und sie hatten drinnen die Lampe ausgelöscht, damit es stimmungsvoller sein sollte …

Ehe er die Schultern Georges umfaßte, um sie an sich zu ziehen, zögerte er noch. Es war sicherlich nicht schön, Marie ausgerechnet mit ihrer besten Freundin zu betrügen. Aber was man nicht weiß, macht einen nicht heiß, und Marie würde es nie erfahren. Warum ließ sie ihn auch allein mit dieser Frau hier? Sein Verstand war durch den Champagner nicht unbeträchtlich getrübt, er schob die ganze Verantwortung restlos Marie zu und riß die neben ihm sitzende Frau plötzlich an sich.

»Sind Sie wahnsinnig geworden«, flüsterte George, »was tun Sie?« Ihre Worte sträubten sich, nicht aber ihre Arme.

Als Franzi am anderen Tage spät am Mittag erwachte, erinnerte er sich langsam an die vergangene Nacht. Beim Ankleiden grübelte er lange, mit welchem Gesicht er George entgegentreten und wie er sich überhaupt ihr gegenüber benehmen solle. Die Situation riß aber George an sich. Sie trafen sich am Tisch des Speisezimmers. Das Gesicht der Frau war gelassen und ruhig.

»Was haben wir bloß die Nacht getrieben?« fragte sie nachlässig. »Ich entsinne mich gerade nur noch, daß ich nochmals Sekt ins große Zimmer kommen ließ. Von da ab kann ich mich überhaupt an nichts mehr erinnern, so einen Rausch hatte ich!«

»Mir geht es ebenso«, erwiderte Franzi beruhigt, »ich erinnere mich auch nicht. Offenbar wankten wir in unsere Zimmer und legten uns schlafen.«

Am Abend arbeiteten und rauchten sie wieder gemeinsam im großen Parkzimmer. Gegen Mitternacht erhob sich George, um schwarzen Kaffee zu bereiten. Sie kamen dabei ins Plaudern.

»Die Liebe ist das Geheimnisvollste und Unverständlichste auf der Welt«, sagte Franzi. »Ich bin sonst ein anständiger, zuverlässiger und sittsamer Mann. Ich lüge nie und habe noch niemanden betrogen. In der Liebe aber bin ich ein vollkommener Nihilist.«

»Das paßt genau so gut auf mich«, nickte George.

»Sie haben es aber viel leichter, Sie können hart und grausam sein, ich kann das nicht.«

George Sand zog tief an ihrer Zigarre:

»Das kommt daher, daß ich der Mann bin und Sie die Frau.«


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