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Achtes Kapitel

Empört über die herrschende Kirche kehrte er nach Paris zurück. Die langen, auf ausgedehnten Spaziergängen oder nach dem Abendessen mit dem Abbé verbrachten Stunden hatten seine religiösen Anschauungen gereift. Er hielt sich für sehr katholisch, katholischer sogar als die Kirche selbst. Überrascht stellte er manchmal fest, daß seine Gesinnung vielfach mit den Lehren Luthers und Calvins übereinstimmte, die er doch, solange er zurückdenken konnte, stets als etwas Fremdes empfunden hatte. Vor allem aber war er jetzt ganz erfüllt von den Anschauungen Lamennais. Er konnte kaum erwarten, seine Geliebte wiederzusehen, um sich mit ihr über all diese Dinge auszusprechen.

Diese Freude wurde ihm dann auch reichlich zuteil. Kaum hatten sie die ersten zügellosen Küsse des Wiedersehens getauscht, so fing auch schon der Wortstreit an. Franzi erklärte zuerst, daß er republikanisch gesinnt sei. Dann stellte er fest, daß die verantwortliche Führung der Kirche zur Zeit nicht in den rechten Händen sei. Dann schmähte er die Vorurteile der Gesellschaft, das Kastenwesen und die Abgeschlossenheit der Stände gegeneinander. Die Gräfin widersprach leidenschaftlich. Und mit ihr zu streiten war nicht ganz leicht, denn sie fand schlagende Erwiderungen, oft blitzschnelle, geistreich wie sie war. Einmal entgegnete sie ihm:

»Du bist ein neuer Coriolan. Du bekämpfst deine eigene Welt, weil du dich von ihr ausgeschlossen fühlst.«

»Meine Welt?«

»Natürlich. Du hast doch selbst erzählt, daß du nach den Überlieferungen eurer Familie aus einem alten Adelsgeschlecht stammst. Aber wenn du es auch nicht gesagt hättest, man braucht dich ja nur anzusehen … die Vornehmheit steht dir auf dem Gesicht geschrieben. Du bist eben ein Coriolan, der Krieg führt, weil er sich einbildet, herausgefordert zu sein.«

Franzi mußte plötzlich an das Gesicht des Grafen Saint-Cricq denken. Aber er sagte nichts davon. Er stritt angriffslustig weiter, bis eines Tages ein trauriges Ereignis den Auseinandersetzungen ein jähes Ende bereitete: eine der kleinen Töchter der Gräfin wurde krank. Anfangs glaubte man, es handle sich nur um eine schnell vorübergehenden Kinderkrankheit. Leider erwies sich jedoch bald, daß der Zustand des Kindes sehr ernst war. Marie konnte Franzi weder empfangen, noch ihm schreiben. Die Ärzte stellten eine Gehirnhautentzündung fest. Franzi erkundigte sich jeden Tag mindestens zweimal persönlich im Palais D'Agoult. Die Antwort war immer die gleiche: der Zustand des Kindes sei unverändert ernst. Und eines Morgens empfing ihn die Schreckensbotschaft, daß das kleine Mädchen gestorben sei.

Er schrieb einen offiziellen Beileidsbrief, denn in der Sprache ihrer Liebe glaubte er der tief erschütterten Mutter nicht schreiben zu dürfen. Er ging auch zum Begräbnis hin und konnte der in tiefe Trauer gekleideten Frau nur stumm die Hand drücken; die schwarz behandschuhte Hand erwiderte den Druck nicht. Er blieb zu Hause und wartete. Und noch am gleichen Tage erhielt er einen Brief:

»In diesem furchtbaren Schmerz« – schrieb die Frau – »suche ich eine Hand. Das ist Ihre Hand. Ich bitte dieses Kind, das jetzt schon bei Gott weilt, es möge für mich um Verzeihung für die Sünde flehen, daß ich Sie aus ganzer Seele liebe. Bitte denken Sie an mich und leiden Sie mit mir.«

Die eingeweihte Zofe wartete die Antwort ab.

»Der Friede und der Segen Gottes sei mit Ihnen. Gestern rief ich die lebenspendende Kraft an, die plötzlich aus den Tiefen meines Seins emporschoß. Heute erinnere ich mich nicht mehr an mich. Ich lebe und verharre ganz und gar in Ihnen, in Ihnen aufgehend, und fast Gott geworden durch Sie. Dank, Sie waren, Sie sind edel und groß und göttlich. Danke! Marie, ich reiche Ihnen die Hand … Die Kälte hat mich den ganzen Tag nicht verlassen; alle Augenblicke füllen sich meine Augen mit Tränen; ich wünschte, Sie könnten diese Nacht gut ausruhen – tun Sie es um meinetwillen – ich beschwöre Sie. Versuchen Sie, diese arme Maschine ein bißchen ins Gleichgewicht zu bringen (es ist das erste Mal, daß ich so zu Ihnen spreche!). Oh! Sie machen mich so stolz, so hochmütig … aber genug der Worte … horchen Sie, wie die Seele Ihrer Tochter Sie von ihrem himmlischen Aufenthalt aus segnet und tröstet!!!«

Lange konnten sie sich nicht sehen. Die Sorge um das Kind, die wiederholten Nachtwachen, die ganze Pflege und nicht zuletzt der Todesfall selbst hatten Marie so mitgenommen, daß ihre Ärzte sie nach Croissy bringen ließen. Lange Zeit konnten sie auch keine Briefe wechseln. Auch Weihnachten ging ohne ein gegenseitiges Lebenszeichen vorüber. Wochen waren vergangen, ehe die Gräfin wieder nach Paris zurückkehrte und sie sich allein zwischen vier Wänden wiedersehen durften.

Marie war schöner denn je. Die Trauerkleidung paßte vorzüglich zu ihrem Haar und zu ihrer Gesichtsfarbe. Sie hatte sich auf dem Lande ausgezeichnet erholt; die Schicksalsprüfung hatte keine Spur hinterlassen. Wortlos sanken sie einander in die Arme, keiner fragte etwas, auf der ganzen Welt gab es nichts, als nur ihre hungrige Sehnsucht …

Stockend und fremd begann endlich das Gespräch. Ihre Worte fanden sich schwerer als ihre Küsse. Sie mußten sich erst wieder aneinander gewöhnen. Als sie aber die Befangenheit überwunden hatten, strömten endlose Klagen aus Maries Munde.

»Alles um mich herum ist furchtbar. Mein Heim ist vollständig zerfallen. Mit Claire fing es an. Als ich nach dem Todesfall dieses Kind täglich um mich sah, begann ich es förmlich zu hassen. Als ob dieses kleine, vierjährige Kind irgend etwas dafür gekonnt hätte, daß sein Schwesterchen sterben mußte und es allein zurückgeblieben war. Wenn Claire spielte, hätte ich sie schlagen mögen, wenn sie sich an mich schmiegte, schob ich sie weg. Ich wußte, daß das von mir sehr häßlich war, aber ich hatte meine Nerven nicht in der Gewalt. Ich bekam einen Weinkrampf nach dem anderen. Meine Mutter und mein Mann beschlossen endlich, das Kind in ein Internat zu geben. Die Kleine fühlt sich dort sehr wohl und will gar nichts davon wissen, daß sie wieder nach Hause kommen soll. Das tut mir nun auch wieder weh. Ich bin wirklich unberechenbar. Auch das Verhältnis zu meinem Mann ist ganz unhaltbar geworden. Bis jetzt lebten wir friedlich nebeneinander her, aber jetzt seit Louises Tod bringen wir uns auf eine unerklärliche Weise dauernd gegeneinander auf. Ich kann ihn nicht vertragen, und er kann mich nicht vertragen. Das alles geht über meine Kräfte! Ich möchte aus meiner Haut fahren. Ich werde entweder wahnsinnig oder begehe noch irgendein nicht wieder gutzumachendes Unrecht.«

Franzi seufzte. Er legte seine Hand auf die Hand der Frau.

»Ich müßte Sie jetzt trösten, stärken und zur Geduld ermahnen. Aber ich kann es nicht, denn mir geht es ebenso wie Ihnen. Ich klage ja schon seit Jahren, daß ich meinen Platz in dieser Welt nicht finde. Jetzt fühle ich es aber deutlich, daß ich ersticken muß, wenn ich noch länger in dieser Umgebung bleibe. Meine Freunde können mir nichts Neues mehr sagen. Ich bin ernüchtert von allem, woran ich früher geglaubt habe. Ich bin unfähig zu arbeiten und muß zu Hause die Vorwürfe meiner Mutter wegen ihrer Geldsorgen anhören. Ich möchte ebenso aus meiner Haut fahren wie Sie …«

»Sie? Der Sie frei sind? Oh, wenn ich frei sein könnte … Wieviel habe ich darüber schon gegrübelt … Ich bin nicht verworfen, aber ich habe schon entsetzliche Dinge gedacht, wie zum Beispiel, was werden würde, wenn Gott meinen Mann zu sich riefe. Mir graut vor mir selbst. Zur Buße habe ich eine Woche lang gefastet. Nur mein Beichtvater, de Guéry, vermochte mich zu trösten. Das alles zeigt zur Genüge, in welch seelischer Verfassung ich bin. Was soll ich bloß tun? Soll ich mich scheiden lassen und von der Gesellschaft ausgestoßen werden? Als geschiedene Frau würde ich nicht einmal von Leuten empfangen werden, die jetzt überhaupt nicht wagen, ihren Fuß über meine Schwelle zu setzen. Ich komme mir vor wie im Gefängnis, es ist ein furchtbarer Zustand, ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht …«

»Ich ertrage es auch nicht. Jede Minute, die ich ohne Arbeit verbringe, ist eine Sünde gegen Gott, der mir meine Begabung schenkte.«

»Ohne Arbeit? Sie arbeiten sich doch zu Tode mit Ihren Stunden.«

Franzi schnellte empor:

»Stundengeben? Ist das denn meine Arbeit?«

»Aber mein lieber Schatz, so habe ich es doch nicht gemeint. Warum können Sie nicht arbeiten?«

»Ich weiß nicht. Die Umgebung, mein ganzes Leben … Ich weiß nur, daß ich von hier fort muß. Aber da ist meine Mutter, da sind meine Unterrichtsstunden, meine verschiedenen Verpflichtungen … ich sage ja, ich ersticke noch …«

Auch ihre nächsten Zusammenkünfte waren von den gleichen Klagen erfüllt. Die Gräfin war noch verzweifelter und verbitterter als er. Durch die Trauer war sie von dem gewohnten Gesellschaftsleben ausgeschlossen. Sie langweilte sich zu Hause, und ihre an Abwechslung gewöhnte Natur empfand die Eintönigkeit des Alltags als Höllenqual. Franzi fand wenigstens einige Beruhigung in seiner Arbeit und im Verkehr mit den Freunden.

So lernte er jetzt die George Sand persönlich kennen, von der er schon soviel gehört hatte. Musset nahm ihn mit zu ihr. Die Schriftstellerin und der Dichter waren nach dem sonnigen Glück einer gemeinsamen Auslandsreise wieder heimgekehrt. Sie hatten ihr Liebesverhältnis gelöst, blieben aber in freundschaftlichem Verkehr miteinander. George Sand hatte dem Verhältnis ein Ende gesetzt, und Musset beklagte sich bitter bei Franzi, wie elendiglich er leide, weil er immer noch der Sklave einer Liebe sei, die die Frau schon satt bekommen habe. Die seltsame, so berühmte Frau wohnte am Quai Malaquais. Die Luft in ihrem mit venezianischen Reiseandenken vollgestopften Arbeitszimmer war fast undurchsichtig von Zigarrenrauch. George Sand rauchte nämlich Zigarren. Sie empfing ihren Gast ungezwungen, mit bohèmehafter Kameradschaftlichkeit. Mit der schmerzlichen Vertrautheit des abgedankten Liebhabers stolperte Musset als überflüssiger Dritter im Zimmer herum. Während der Unterhaltung beobachtete Franzi die eigenartige Hausfrau sehr scharf. Sie trug auch daheim eine Hose aus dickem, schwarzem Stoff und dazu eine Damenbluse. Ihre Gesichtsfarbe war dunkel, die Nase stark und männlich, im ganzen genommen war sie nicht einmal hübsch; gegen ihre Gestalt konnte man aber nichts einwenden. Mit der Überlegenheit ihrer dreißig Jahre stand sie dem dreiundzwanzigjährigen berühmten schönen Manne gegenüber.

»Was suchen Sie denn an mir?«

»Ich versuche festzustellen, Baronin, was für ein Typ Sie sind.«

»Ach«, lachte George Sand, »ich bin ein sonderbares Gemisch. Meine Großmutter war die natürliche Tochter des Marschall Moritz von Sachsen, der ein natürlicher Sohn Augusts des Starken und der Gräfin Aurora von Königsmarck war. Mein Großvater stammte aus einer uralten Familie gallischen Blutes. In meinen Zügen werden Sie sich schwerlich zurechtfinden.«

»Wer kann sich überhaupt in einer Frau auskennen? Darf ich aber etwas fragen? Wie sind Sie zu Ihren Schriftstellernamen gekommen?«

»Das will ich Ihnen gern verraten. Der Name George ist in meinem Heimatdorfe sehr beliebt. Den Namen Sand habe ich aus Jules Sandeau gekürzt, dem Namen eines jungen Schriftstellers, eines Landmannes, der mich in die Literatur eingeführt hat, als ich mich von dem Baron Dudevant scheiden ließ. Jetzt habe ich mich auch in meinem Privatleben schon so daran gewöhnt, daß ich überhaupt nicht mehr aufblicke, wenn man mich ›Aurora‹ nennt. Ich heiße auch für alle meine Freunde George. Nicht ohne Grund habe ich jedoch einen männlichen Namen gewählt. Ich möchte durch meine Schriften erkämpfen, daß in der Gesellschaft die Frau als dem Manne ebenbürtig anerkannt wird. Was ich betreibe, ist ein Freiheitskampf, der Kampf der Sklaven gegen die Unterdrückung, – gegen euch, lieber Litz.«

»Gegen mich brauchen Sie nicht zu kämpfen. Ich bin nicht verheiratet und habe auch nicht die Absicht zu heiraten. Außerdem begann meine Entwicklung bei den Saint-Simonisten und führte von da zu Lamennais.«

»Das weiß ich alles. Alfred hat mir sehr viel von Ihnen erzählt. Mein Gott, die Saint-Simonisten … Wie hat mich das einst erregt! Was ist aus ihnen geworden, wissen Sie das zufällig?«

»Ich habe verschiedenes gehört. Vater Enfantin entdeckte eines Tages, daß der Sekte eine Mutter fehle, zu ihm gehöre also eine Frau. Aus irgendwelchen geheimnisvollen Zeichen hatte er sich errechnet, daß man diese Frau im Orient suchen müsse. Der Vorstand machte sich also auf die Reise nach Ägypten, um dort die Frau für Vater Enfantin zu suchen. Ob sie sie gefunden haben, weiß ich nicht. Ich erinnere mich auch noch, daß, als die Bewegung immer verworrener wurde, ihre Mitglieder eine Halskette tragen mußten, an der jedes einzelne Glied eine andere Form haben und aus einem anderen Metall angefertigt sein mußte. Denn jedes Glied der Kette hatte seine eigene geheimnisvolle Bedeutung. Ich habe auch auf der Straße einmal so eine Kette gesehen, aber da verkehrte ich schon nicht mehr bei den Leuten. Aber lassen wir dieses Thema. Wie weit sind Sie denn mit Ihrem Sklavenkrieg?«

George Sand tat einen tiefen Zug an ihrer Zigarre. Dann begann sie einen langen Vortrag über die natürlichen Rechte der unterdrückten Frauen. Franzi fiel ihr mehrmals ins Wort, es entspann sich ein reger Gedankenaustausch. Sie stritten zwar lange, waren aber in vielem doch gleicher Meinung. Dann trennten sie sich wie zwei Menschen, die sich noch sehr oft begegnen sollen.

Auf der Straße schritt Musset, der unglückliche Liebhaber, stumm neben seinem Freunde einher. Dann griff er in die Tasche und suchte unter vielen Papieren ein Gedicht heraus. Wortlos reichte er das Blatt Franzi, der es überflog:

»Die du mein Leben warst, beginn' ein neues Leben!
Was einst mein Reichtum war, sei andern hingegeben.
Vor der ich einst gekniet, die meine Gottheit war,
Anbetend wirst du knien vor einem neuen Altar.
O holde Blume du! Erglänz' im Sonnenschein
Und denk' auch einmal des, der fern ist und allein.«

Franzi nickte mitfühlend. Musset versenkte das Gedicht wieder in seine Tasche, und ohne Gruß, ohne Handschlag, trennte er sich von ihm, um seine Tränen zu verbergen. Er ließ Franzi mit seinen Gedanken allein. Diese Gedanken umschwirrten die Worte George Sands: Knechtschaft … Gesellschaft … Unterdrückung … Auflehnung … Solche Worte machten ihn immer unruhig. Er hatte schon lange darüber nachgedacht, wie er einmal irgendwo die schiefe Lage des Künstlers in der Gesellschaft zur Sprache bringen könnte. Diese unreife Absicht nahm jetzt eine klare, feste Form an. Er wartete nicht einmal, bis er zu Hause angelangt war, sondern kehrte in einem Kaffeehaus ein und schrieb in aller Eile den Entwurf einer Abhandlung dieses Inhalts nieder.

Von nun an waren seine Gedanken fast unausgesetzt bei dieser Arbeit. Er bereitete sie sehr sorgfältig vor, machte sich Notizen, blätterte in allerlei Fachschriften und grübelte beständig über die einzelnen Abschnitte nach. Er beabsichtigte, die ganze Studie in sechs Kapitel zu teilen. Das erste Kapitel sollte einen allgemeinen Überblick geben. Damit wurde er schnell fertig. Er deutete hier nur erst an, worüber er ausführlich zu reden gedachte.

»Ich halte es für überflüssig« – schrieb er unter anderem – »besonders zu betonen, daß ich als zuletzt Arrivierter unter viel besseren Künstlern, wenn sie mich auch ihrer Freundschaft für würdig erachten, diese stolz als meine Meister bezeichne, und bestrebt bin, mich von jeder Großtuerei, von eitler und dogmatischer Prahlerei fernzuhalten. Ich bin mir wohl bewußt, daß meine Worte sowohl der Fähigkeit als auch des Gewichtes der Erfahrung entbehren und daß es nur die Worte der Natur und eines bescheidenen Schülers der Wahrheit sind. Nicht um andere zu belehren, schreibe ich. Aber ich leide und deshalb stelle ich Fragen.«

Im zweiten Kapitel stellte er dann diese Fragen, nachdem er durch Aufzählung von Tatsachen, deren Kenntnis seine erstaunliche Belesenheit bewies, die Bedeutung der Musik in der altklassischen Zeit beleuchtet hatte.

»Wie ist es möglich, daß die Musik und die Musiker ihr ganzes Ansehen und das Selbstbewußtsein ihres Berufes verloren haben, während sich die Musik als Kunst dank der selbstlosen Aufopferung der Künstler so weit entwickelt hat? Wie ist es möglich, daß die soziale Stellung der Künstler so unhaltbar wurde, während sie gleichzeitig großartige Meisterwerke schufen, denen sie unter unendlichen Schmerzen Leben gaben? Wie ist es endlich möglich, daß so viele bedeutende Menschen das Joch jammervoller Erniedrigung trotz größter Anstrengung nicht zu überwinden vermochten? Durch welches Mißgeschick wurden aus den Ersten die Letzten?«

Im dritten Kapitel kam er auf das eigentliche Übel zu sprechen. Auf seine eigene Not, die ihn zu alledem veranlaßt hatte. Er hob hervor, daß in der letzten Zeit die Aristokratie und die Hochfinanz die Musiker einigermaßen gelten ließen, aber wie stände es um die Opernsänger, die die offizielle Kirche immer noch aus ihrer Gemeinschaft ausschließe? Und was für eine Schmach sei das »Treppenhaus für Bediente«, durch das allein große, bedeutende Künstler die Häuser englischer und französischer Aristokraten betreten dürften? Gewiß, ab und zu gäbe es auch lindernden Balsam für diese Wunden: so hätten erst neulich die Zeitungen in großer Aufmachung berichtet, daß der König Louis Philippe und die Königin den Opernkomponisten Donizetti in einer allergnädigsten Audienz empfangen hätten …

»Aber noch ist nicht alles verloren! Einige stehen fest auf ihren Füßen und kämpfen, andere kommen zur Besinnung, greifen zu den Waffen, viele sind bestrebt, sich dieser heiligen Schar anzuschließen. Mut! Glauben! Es kommt eine neue Generation. Die ständige Erfahrung hat ihr Selbstbewußtsein und ihre Kraft gestärkt. Platz für diese Kämpfer! Hört ihre Worte, hört die Prophezeiung ihrer Taten!«

Als er mit diesen drei Aufsätzen fertig geworden war, setzte er sich mit seinem Freund D'Ortigue in Verbindung, dem einzigen, den er neben Fétis unter den Musikkritikern schätzte. D'Ortigue war eine Vertrauensperson der » Gazette Musicale«, in der Franzi die ganze Arbeit veröffentlichen wollte. D'Ortigue las die drei Kapitel durch und hörte sich auch den Entwurf der folgenden an. Er nickte.

»In Ordnung, Alter. Alles andere überlasse mir. Es wird zwar ein kleiner Lärm um die Sache entstehen, aber es wird schon gehen.«

Kaum war eine Woche vergangen, ließ er ihn auch schon wissen, daß die » Gazette Musicale« die Arbeit bringen wolle. Man müsse aber noch etwas warten, der erste Abschnitt könne wegen der aufgehäuften Arbeit nicht vor Ende April erscheinen. Diese Verzögerung war nicht ganz nach Franzis Geschmack. Im Grunde genommen war er aber froh, daß die Aufsätze überhaupt erscheinen würden. Sofort wollte er nun an die Ausarbeitung der Schlußabschnitte gehen.

Dazu kam er aber nicht, denn die Gräfin überraschte ihn an einem der letzten Wintertage in ihrem geheimen Versteck mit einer Mitteilung, die ihn außerordentlich erregte.

»Franzi«, sagte sie, »Franzi, ich will meinen Mann verlassen. Ja, ja, Sie haben richtig gehört. Ich will mein Heim aufgeben.«

»Und … und was wird dann werden?«

»Nichts. Ich habe mein Vermögen. Ich liebe Sie. Weiter gibt es nichts.«

»Und was wird mit Ihrer gesellschaftlichen Stellung? Wie werden Sie es ertragen, wenn man Sie wie eine Aussätzige ausstößt? An Ihre kleine Tochter denken Sie gar nicht?«

Die Gräfin schwieg. Dann fing sie an zu weinen.

»Sie sind an allem schuld«, klagte sie schluchzend. »Warum haben Sie die Liebe in mir geweckt, wenn ich sie vor allen verbergen muß? Warum haben Sie mich mit geistvollen und begabten Menschen zusammengebracht, wenn ich aus ihrer Welt ewig ausgeschlossen sein soll? Sie haben mich mit Ihrer Liebe, mit dem Traum von einem menschenwürdigen Leben vergiftet, und jetzt leide ich unsagbar!«

Er vermochte sie kaum zu trösten. Der Trost, den seine Küste und Umarmungen ihr spendeten, verflog jedesmal sehr schnell. Bei jeder neuen Zusammenkunft klagte die schöne Frau immer leidenschaftlicher, immer stürmischer: sie könne dieses Leben nicht länger ertragen. Bei einem solchen Gespräch kam sie mit dem Wunsch heraus, sie wolle George Sand kennenlernen. Franzi solle sie zu der Schriftstellerin hinführen. Franzi sträubte sich erst ein Weilchen, irgend etwas an der Sache gefiel ihm nicht, aber schließlich willigte er ein. Zunächst besprach er die Zusammenkunft mit der Schriftstellerin, die natürlich die Absicht der Gräfin als Beweis für ihre schriftstellerische Bedeutung bewertete und freudig »ja« sagte. Eines Tages um die Dämmerstunde führte Franzi die Gräfin D'Agoult in einem Wagen zu George Sand.

Die beiden Frauen fanden sich schnell zueinander. Nach fünf Minuten sprachen sie schon von der Knechtschaft der Frauen. Sie schieden als aufrichtige Freundinnen. Und von da ab kamen sie auch ohne Franzi zusammen. Es war allerdings unmöglich, die in Hosen einhergehende Frau in das Palais D'Agoult einzuladen, aber die Gräfin schlich sich heimlich und verschleiert zu ihr wie zu einem Stelldichein. Und die Wirkung des Gedankenaustausches der beiden Frauen sollte Franzi alsbald zu spüren bekommen. Maries Ansichten über Ehe, Gesellschaft und Gemeinschaft wurden immer freier. Jetzt behauptete sie auch schon mit ernsthafter Entschlossenheit, daß sie ihren Mann verlassen wolle. Ihrem Beichtvater habe sie diese Absicht schon mitgeteilt. Der sei begreiflicherweise entsetzt und erschrocken gewesen und rate ihr dauernd ab, aber sie sei fest entschlossen.

Solche und ähnliche Äußerungen der Gräfin hatten ihn bisher nicht allzu sehr beunruhigt. Wer immer davon spricht, daß er sich das Leben nehmen wolle, verübt meistens keinen Selbstmord. Dieser Schritt wäre aber in ihren Kreisen einem gesellschaftlichen Selbstmord gleichgekommen. Man konnte die ganze Angelegenheit auch so betrachten, daß die Gräfin, deren Natur an sich schon zu romantischen Posen neigte, in ihrer Phantasie, wie mit harmlosem Spielzeug, mit solchen lebensentscheidenden Schritten spielte, die sie in Wirklichkeit nie unternehmen würde, da sie nur den prickelnden Reiz im Spiel der Worte erleben wollte. Aber die neue Marie war ganz anders als die alte. Sie hatte ihre bisherigen gesellschaftlichen Ansichten von sich abgestreift wie ein lästig gewordenes Kleid, um neue, reizvollere Gewänder anzulegen. Den Stoff dieses neuen seelischen Gewandes zu erkennen, war nicht schwer: er war aus einzelnen Teilen der Romane George Sands, aus »Indiana« und »Leone Leoni« zusammengewebt. Das Recht der Natur gegen die Abwege der Zivilisation … Das Recht des Menschen auf seine Gefühle … Die Pflicht der Frau sich selbst gegenüber, ihr eigenes Leben zu leben … Dieser neuen Marie konnte man schon zutrauen, daß sie eines schönen Tages ihren Mann, ihr Palais und das ganze Faubourg Saint-Germain auf Nimmerwiedersehen verlassen würde …

Franzi verbrachte viele Nächte in aufregendem Grübeln. Jetzt sah er, daß sein Schicksal an das Schicksal dieser Frau gebunden war. Wenn Marie ihre Familie verließ, stellte sie sich außerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft, und er mußte sich dann zu seiner Geliebten bekennen. Wenn er es nicht schon aus Ritterlichkeit täte, so würde ihn die unerbittliche Ordnung der Kasten dazu zwingen: die Salons könnten auch ihn als den wahren Urheber des Skandals nicht mehr empfangen. Es war selbstverständlich, daß im Falle eines entscheidenden Schrittes seitens der Gräfin keiner von ihnen beiden in Paris würde verbleiben können. Und er überlegte, wohin er sich wenden sollte, wenn er Paris verlassen müßte. Zuerst dachte er an London. Aber diese Erwägung verwarf er sofort, denn dort war ja die Gesellschaft noch strenger. Und dann schwebte ihm auch vor, daß er irgendwo an einem ganz einsamen, stillen Ort komponieren könnte. Solche Gedanken beschäftigten ihn immer wieder, aber er war längst noch nicht überzeugt, daß das Wirklichkeit werden könnte. Er wußte nur, daß er das Schicksal seiner Geliebten teilen mußte. Sie waren schon so fest aneinander gekettet, daß er ohne Marie nicht mehr hätte leben können.

Zu den geheimnisvollen, unerklärlichen, aber unbeirrbaren Kräften, die sie mit verhängnisvoller Sicherheit in das unbekannte Schicksal trieben, gesellte sich jetzt auch noch der Klatsch. Ihr offenkundiges Verhältnis war ständiger Gesprächsstoff der Pariser Gesellschaft. Sie wurden zusammen eingeladen, und jede Hausfrau nahm bei der Tischordnung Rücksicht auf ihre Zusammengehörigkeit. Es verging kein Tag, wo sie beide nicht unmißverständlichen Anspielungen ausgesetzt waren. Maries Mutter sogar, die auf dem Lande wohnte, ermahnte ihre Tochter, mehr auf sich achtzugeben, denn das Gerede sei schon bis zu ihr gelangt. Ihr Bruder, Attaché bei der französischen Gesandtschaft in London, schrieb aus England, daß man die Freundschaft Maries zu dem berühmten Künstler nur allzu oft, mehr als ihm lieb sei, erwähne. Es schien unmöglich, daß der Graf D'Agoult, der Gatte, von alledem nichts erfahren sollte, und dann hätte er eingreifen müssen, nicht aus Eifersucht, sondern aus Rücksicht auf den Ruf seines Hauses und den seiner Tochter.

So reifte ihr Schicksal heran, ohne daß sie beide irgend etwas dagegen hätten tun können, und Franzi gewöhnte sich langsam an den Gedanken, daß er Paris verlassen würde. Und auch der Tag kam heran, an dem er seine Mutter in diese Möglichkeit einweihen mußte. Mutter Liszt, der die Sorge für den Sohn das ganze Leben bedeutete, hörte die verworrenen Pläne Franzis mit schmerzlicher Betroffenheit an. Sie erwiderte nichts, aber eine ganze Woche lang lief sie mit verweinten Augen umher. Aber auch ihm widerfuhr es, daß sich sein Herz zusammenkrampfte und er sein Gesicht in die Kisten vergraben mußte, daß er in seinem Kummer zu weinen anfing, wie in der Knabenzeit, wenn in der schlaflosen Stille der Nacht aus dem Nebenzimmer das kummervolle Weinen seiner gleichfalls wachliegenden Mutter herüberklang.

Er wußte nun auch schon, wohin er reisen würde: nach der Schweiz. Die Schönheit und die Freiheit dieses Landes zogen ihn an. Von seinen zahlreichen Konzertreisen her hatte sein Gedächtnis viele entzückende Bilder von dort aufbewahrt. Und manche liebe Bekannte hatte er auch dort, besonders in Genf lebten viele frühere Schüler von ihm, und so konnte er getrost hoffen, daß er Gelegenheit genug finden würde, Unterricht zu erteilen. An den malerischen Ufern des Genfer Sees würde er ruhig und mit Lust arbeiten und sich mit der Gräfin, für die man sicherlich einen geeigneten Aufenthalt ausfindig machen könnte, oft treffen. Es schien nicht leicht, diesen Plan finanziell zu verwirklichen, aber als er sich mit seiner Mutter darüber beriet, stellte sich heraus, daß Mutter Liszt über reichlich erspartes Geld verfügte. Sie würde solange versorgt sein, bis der Sohn imstande sein würde, ihr vom Auslande regelmäßig jeden Monat Geld zu schicken. Und schließlich und endlich, irgendwie müßte es sich schon machen lassen …

Der Seelenzustand, in dem er sich jetzt schon seit Wochen befand, glich einem erregenden und schwindelnden Rausch. In seinen Unterrichtsstunden war er zerstreut und nervös. Seine Augen glänzten unnatürlich, er gab sonderbare Antworten auf die an ihn gerichteten Fragen und hatte oft Fieber. Wenn er mit Marie zusammen war – und jetzt verbrachten sie die meiste Zeit gemeinsam –, sprachen sie in dieser fieberhaften Erregung fast nur noch von ihrer Zukunft. Seine von Schlaflosigkeit gepeinigten Nerven, seine ganze Überreiztheit wirkten sich auch in seinem Gefühlsleben aus. Auf einmal wurde er grundlos eifersüchtig. Er quälte die Geliebte andauernd damit, daß sie ihn nicht genügend liebe. Wenn er sie drei Tage nicht hatte sehen können, schrieb er Briefe wie diesen:

»Marie! Marie! Ach, lassen Sie mich diesen Namen hundertmal, tausendmal wiederholen; jetzt sind es drei Tage, daß er in mir lebt, mich bedrängt und in mir brennt. Ich schreibe Ihnen nicht, nein, ich bin bei Ihnen. Ich sehe Sie, ich höre Sie … Die Ewigkeit in Ihren Armen … Himmel, Hölle, alles, alles in Ihnen und abermals in Ihnen … Ach, lassen Sie mich verrückt, wahnsinnig sein … Die kleinliche, vernünftige, enge Wirklichkeit genügt mir nicht mehr, wir müssen unser ganzes Leben, unsere ganze Liebe, unser ganzes Unglück erleben! … Ach, nicht wahr, Sie trauen mir Opfermut, Tugend, Mäßigung, Religion zu? Also reden wir nicht mehr davon … Ihre Sache ist es, zu fragen, zu erraten, zu retten. Lassen Sie mich verrückt und wahnsinnig sein, da Sie nichts, nichts für mich tun können. Meine Sache war es wohl, Ihnen das jetzt zu sagen. This is to be! to be!!!«

Im April gab er ein Konzert, um keine Geldschwierigkeiten zu haben, wenn der große Schritt gewagt würde. Seit langer Zeit war das sein erstes eigenes Konzert. Wenn er in der Zwischenzeit aufgetreten war, hatte er es nur aus Freundschaft für Berlioz getan, an dessen Konzerten er immer nur in sehr bescheidenem Maße beteiligt war. Aber jetzt war er der Mittelpunkt, und eigentlich war es die erste Gelegenheit, zu zeigen, wie weit er sich inzwischen am Klavier vervollkommnet hatte. In musikverständigen Kreisen sah man deshalb seinem Konzert auch mit hochgespannten Erwartungen entgegen, und die Gesellschaft war nicht minder neugierig auf das » profil d'ivoire«, den berühmten, schönen Künstler und Freund der berühmten und schönen Gräfin.

Die tausenderlei Schicksalsprüfungen durch Liebe, Sorgen, Schlaflosigkeit, unsichere Zukunftsaussichten hatten seinen Nerven zuviel zugemutet, die schon vor dem Konzert, überspannten Saiten gleich, zerspringen wollten. Er war totenblaß, als er auf das Podium trat; vor Erregung war ihm übel geworden; seine Kehle war wie zusammengeschnürt. Der Beifall, der ihn empfing, war eher höflich und neugierig als begeistert. Nach den ersten Tönen plagten ihn seine Nerven nicht mehr, die Spannung des Spieles riß ihn vollkommen mit sich fort. Er wußte: was du jetzt auf dem Klavier zustande bringst, ist unerhört, das hat noch keiner vor dir vermocht, und in den Reihen der Zuschauer ist kaum ein einziger zu finden, der auch nur ahnte, welche Bedeutung in der Geschichte des Klavierspieles dieser Stunde zukommt. Seinem ersten Vortrag folgte ein starker Beifall, ein wuchtiges Dröhnen, wahre Begeisterung als Bestätigung eines vollkommenen Erfolges. Und nun gab er sich restlos aus: er behandelte das Klavier mit sieghaftem Hochmut und triumphierender Überlegenheit. Die in ein gefügiges Lamm verwandelte Bestie mit den weißen und schwarzen Zähne verriet jetzt zum ersten Male, seit die Welt besteht, den Menschen ihre wahren abgründigen Geheimnisse. Er spielte seine unter dem Eindruck von Berlioz' Symphonie entstandene Phantasie. Während des Spieles hatte er sich in eine kühne, unermeßliche schöpferische Ekstase hineingetrieben, bis mit einem Male seine Hände von den Tasten glitten, der Saal vor ihm dunkel wurde und er das Bewußtsein verlor. Er kam erst wieder zu sich, als man im Künstlerzimmer seine Stirn mit kaltem Wasser näßte und erschrockene Gesichter sich über ihn neigten. Er war ohnmächtig geworden. Neugierige drängten sich stoßend und übereinander stolpernd in das Künstlerzimmer. Ein Diener versuchte umsonst, in dem verwirrenden Lärm Ordnung zu schaffen. Mutter Liszt stand in Todesängsten händeringend da.

Franzi kam jedoch schnell wieder zu sich, erhob sich, reckte und streckte sich und glättete seinen Frack. Dann ging er wieder hinaus ans Klavier. Da wurde ihm ein Beifall zuteil, wie selten in seinem Leben.

»Man liebt mich«, sagte er zu sich mit der oberflächlichen Genugtuung eines verwöhnten Kindes.

Er schonte sich nicht, in einigen Sekunden schon hatte er wieder die höchste Stufe der Ekstase erreicht. Und jetzt gelang ihm auch alles. Sein Sieg über das Publikum war vollkommen und des ersten Pianisten der Welt würdig, der heute den größten Meister aller Zeiten vielfach übertroffen hatte: nämlich sein ehemaliges Selbst.

Aber dann kamen die Kritiken. Ein einziger Kritiker nur war da, der ihn verstanden hatte. Alle anderen äußerten sich erschrocken, entsetzt, geradezu beleidigt. »Was ist das für eine neue Art des Klavierspielens?« fragten sie. »Wo sind die klassischen Überlieferungen des Klavierspieles, die der Künstler mit seiner eigenartigen und willkürlichen Technik einfach zur Seite schiebt?« Der eine warf ihm Sensationshascherei, der andere Komödiantentum vor. Wenn man sein beispielloses Können im allgemeinen auch anerkannte, so sprach doch eine gewisse Ratlosigkeit, ein befremdendes Nichtverstehenwollen aus allen Berichten, auch denjenigen, die einzelne Teile seines Spieles würdigten. Der einzige, der wußte, daß dieses Konzert einen Markstein in der Geschichte der musikalischen Vortragskunst bedeutete, war D'Ortigue, der verständnisvolle Freund. Er gab rückhaltslos seiner Bewunderung und Verehrung Ausdruck und beglückwünschte den Genius, der das reproduzierende Klavierspiel zu einer selbständigen, schöpferischen Kunst erhoben habe.

Diese eine Besprechung bereitete ihm nicht soviel Freude, wie ihm die Verständnislosigkeit der anderen empfindliche Schmerzen zufügte. Die Lektüre der Zeitungsartikel verstärkte nur seine Sehnsucht, diese Stadt samt ihren Salons, Konzerten, Kritikern, mit ihrem pulsierenden Leben, mit den Erinnerungen seiner Jugend, zu verlassen.

Unter seinen Schülern war ein Junge, dem er besonders zugetan war. Nicht nur weil er, verglichen mit den anderen, wirklich hochbegabt war, sondern auch weil ihm die Anhänglichkeit des Kindes ans Herz rührte. Als er ihm nach seinem Konzert Unterricht erteilte, machte er ihn auf einen Fehler aufmerksam:

»Darauf mußt du sehr genau achten, denn ein anderer wird dir das schwerlich abgewöhnen können. Ich aber werde dich vielleicht nicht mehr lange unterrichten.«

Der Junge, ein vierzehnjähriger aufgeweckter Bursche, starrte ihn zu Tode erschrocken an.

»Warum? Wodurch habe ich Sie erzürnt?«

»Du hast mich nicht erzürnt. Ich habe dich sehr gern. Aber es ist möglich, daß ich Paris verlasse.«

»Und könnten Sie mich nicht mitnehmen?« entgegnete der Junge schon halb weinend vor Furcht, daß er eine Absage bekommen könnte.

»Du hast nicht ganz Unrecht. Warum könnte ich dich nicht mitnehmen? Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Gut, du kommst mit.«

Nun fing der Junge wirklich an zu weinen, aber jetzt vor lauter Seligkeit. Er sprang seinem Meister um den Hals, umarmte und küßte ihn und war vor Freude außer sich wie ein über die Heimkehr seines Herrn erfreuter Hund. Unverständliches, wirres Zeug schreiend tanzte er im Zimmer herum wie ein Verrückter.

»Komm nur wieder zu dir«, lachte Franzi, »marsch ans Klavier, jetzt wird gearbeitet!«

Voller Liebe sah er den Jungen an, dem während des Klavierspieles die Freudentränen noch immer über die Wangen kollerten. Wirklich, wie ein anhänglicher, treuer Hund war dieser Knabe, er sah seinen Meister auch immer mit so einem hingebungsvollen Blick an, als wolle er ihm sagen, daß er stets bereit sei, für ihn zu sterben.

Als Franzi wieder mit Marie zusammenkam, sagte er zu ihr:

»Wenn es sich so fügen sollte, daß ich Paris verlasse, nehme ich einen kleinen Schüler von mir mit. Andere haben einen Mops, um mich wird dieses Kind herum sein.«

»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte Marie, »mich wird es nicht stören. Nur die Wohnung wird man entsprechend einteilen müssen.«

Franzi erblaßte vor Überraschung. Er fand zunächst keine Worte, dann stotterte er:

»Die Wohnung? Wie haben Sie … ich verstehe nicht ganz …«

»Was verstehen Sie nicht? Ich begreife nicht, daß Sie sich wundern. Wir waren doch übereingekommen, daß wir zusammen nach dem Auslande gehen, sobald ich meinen Mann verlasse, nicht wahr? Nun, und wie stellen Sie sich diesen Aufenthalt im Auslande anders vor?«

»Zusammen wohnen? Könnten Sie denn das? Ohne Heirat? …«

»Selbstverständlich. Wie könnte ich es mir auch anders vorstellen? Zwei freie Menschen lieben sich. Das ist doch ganz einfach, nicht? Wir werden unser eigenes Leben leben, wie wir es schon so oft besprochen haben. Und unser beider Leben.«

»Marie, wissen Sie denn, wie schwerwiegend alles das ist, was Sie jetzt sagen? Wenn Sie entschlossen sind, mit mir zusammen zu leben, gibt es keine Rücksicht mehr. Ich hoffe, das ist Ihnen klar. Für mich wäre es ja eine unbeschreibliche Freude, aber ich trage andererseits auch eine außerordentliche Verantwortung. Sie setzen jetzt Ihr ganzes Leben aufs Spiel. Und wenn ich dieses Opfer annehme, bin ich dafür verantwortlich. In das alles können wir beide aber nur einwilligen, wenn wir unserer selbst ganz sicher sind. Ich bin meiner sicher, Sie sind mein Schicksal bis zum Tode. Sind Sie sich aber Ihrer selbst sicher? Antworten Sie jetzt nicht. Nein, ich lasse es einfach nicht zu, daß Sie jetzt etwas sagen. Was soll geschehen, wenn in einem Jahre, in zwei Jahren, Ihre Gefühle lauer werden und Sie sich in die Welt zurücksehnen, der Sie jetzt den Rücken kehren? Und dann wird es schon zu spät sein. Nein, nein, antworten Sie nicht. Ich habe mich lange geprüft und kann ruhig zugeben, daß ich Sie früher belogen, betrogen und vor mir selbst herabgesetzt habe; jetzt aber bin ich so weit, daß ich Sie über alles und wahrhaft liebe. Auch Sie sollen so mit sich zu Rate gehen und erst dann antworten. Und unbarmherzig streng muß dieses Insichgehen sein. Versprechen Sie mir das?«

»Ich verspreche es«, entgegnete die Frau ernst.

Dann sprachen sie nicht mehr davon. Franzi schickte am anderen Tage noch einen Brief ins Palais:

»Marie! An dem Tage, an dem Sie mir mit voller Überlegung, aus vollem Herzen, aus voller Brust und voller Seele sagen können: ›Franz, wir wollen alles, was vielleicht Unvollkommenes, Betrübendes und Kleinliches in der Vergangenheit war, auslöschen, vergessen, für immer verzeihen; wir wollen einander alles sein, denn in dieser Stunde verstehe ich Sie und verzeihe Ihnen ebenso, wie ich Sie liebe –‹ an jenem Tage (möge er bald kommen), werden wir weit weg sein von der Welt und allein leben, lieben und sterben!«

Noch am gleichen Tage erhielt er den Satz, den er in seinem Brief mit Anführungsstrichen versehen hatte, zurück. Die Frau hatte ihn Wort für Wort abgeschrieben und nur ihren Namen darunter gesetzt: Marie.

Damit war ihr Schicksal besiegelt. Die Einzelheiten der »Entführung« besprachen sie miteinander wie zwei lustige Spießgesellen einen aufregenden Streich: Franzi fährt voraus nach der Schweiz. Marie lockt unter dem Vorwande, Bekannte besuchen zu wollen, ihre Mutter nach Basel und teilt ihr dort mit, daß sie nicht mehr gewillt sei, nach Hause zurückzukehren. Dann eilt sie geradewegs in die Arme ihres Geliebten, um dort für ewig zu bleiben. Der Graf erfährt von ihrer Mutter dann alles Nähere.

Franzi trat vorher noch in einem Konzert zugunsten von Berlioz auf. Dann besuchte er der Reihe nach seine Freunde, um von ihnen Abschied zu nehmen. Er verabschiedete sich leichthin, wie es vor einer Sommerreise üblich ist. Chopin war der einzige, von dem er schweren Herzens schied. Diesem allein teilte er auch mit, daß er Paris für immer verlasse. Er hätte ihn gerne kräftig umarmt, aber ein Gefühl wie Scham hielt ihn davor zurück. So sah er ihm nur ergriffen in die Augen. Dann war es aber Chopin, der ihm um den Hals fiel, ihn umarmte und immer wieder an sich drückte. Ganz mit der alten Innigkeit. In ihrer Umarmung war eine tiefe Liebe und Verbundenheit. In ihren Augen glänzten Tränen.

»Zwei Feuergeister weinen«, spöttelte Franzi und wollte seine Ergriffenheit mit einem Scherz abtun.

»Obwohl sie heute noch gar keine Kritiken gelesen haben«, ergänzte Chopin schnell mit derselben Absicht.

So schieden sie voneinander. Das Allerschwerste war aber noch zu überstehen: der Abschied von seiner Mutter. Mutter Liszt hatte bis dahin den Plan ihres Sohnes nicht allzu ernst genommen. Jetzt aber, wo sie sah, daß von einem Scherz gar keine Rede mehr sein konnte, erklärte sie verzweifelt rund heraus, daß sie die Trennung von ihrem Sohne nicht überleben würde. Franzi konnte sich nur durch eine Notlüge behelfen. Er schilderte die ganze Angelegenheit so, als wäre alles noch gar nicht endgültig entschieden. Auch die Sache mit der Gräfin sei noch unbestimmt, man könne noch gar nicht wissen, wie sich das alles gestalten würde. Jedenfalls würde er bestrebt sein, alles so einzurichten, daß er bald zu seiner Mutter zurückkehren könnte, damit sie zu zweit in Frieden weiterleben könnten … Die Mutter glaubte an den Wortschwall und auch nicht. Einigermaßen beruhigte sie sich aber.

Auf dem Trittbrett der Postkutsche umarmten sie sich schluchzend. Endlich setzte sich der Wagen in Bewegung. Die geliebte Gestalt der schwarzgekleideten, rundlichen Frau verschwand. Franzi trocknete seine Tränen und sah zum Fenster hinaus. Langsam verschwamm Paris hinter ihm. Ein herrlicher Maienmorgen erglänzte über der Gegend. Und dieses Lächeln der Landschaft erwiderte er. Vor seiner Seele tauchte ein unbekanntes, kleines Kindergesichtchen auf, das ihn mit ergriffener, neugieriger Seligkeit erfüllte.

Erst vor kurzem hatte ihm Marie mitgeteilt, daß sie in der Schweiz bald zu dritt sein würden. Das Kleine könne man um Neujahr erwarten …


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