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Der Haushalt verschlang ungeheuer viel Geld. Sie teilten sich zwar in die Ausgaben, aber Marie gab wesentlich mehr aus, als ihre finanzielle Lage gestattete. Sie kleidete sich prunkvoll, ein- bis zweimal getragene Kleider verschenkte sie launenhaft; sie hatte fast einen ganzen Speicher voller Schuhe, Strümpfe und Hüte und beklagte sich trotzdem andauernd, daß sie nichts anzuziehen habe. Überdies verstand sie so gut wie nichts von der Hauswirtschaft, man bestahl sie vorn und hinten. Das Geld zerrann ihr zwischen den Fingern.
Bei den immer häufiger werdenden Streitigkeiten kam mancherlei zur Sprache, diese eine Frage berührte Franzi aber nie. Er sprach niemals über Geld mit seiner Geliebten. Wenn noch mehr Geld gebraucht wurde, so sorgte er eben für noch mehr Geld. Das kostete ihn auch keine besondere Mühe, seine Konzerte füllten sich trotz der hohen Preise immer, die Musikverleger bestürmten ihn dauernd wegen volkstümlicher Opernphantasien, und die Leipziger Firma Breitkopf & Härtel, mit der er neuerlich einen Vertrag einging, stand ihm jederzeit mit reichlichen Vorschüssen zur Verfügung. Man brauchte aber noch mehr Geld und immer wieder viel, viel mehr Geld.
Eine Zeitlang befaßte er sich deshalb mit dem Plan, sich um die Führung des Weimarer Musiklebens zu bemühen, denn Hummel war vor kurzem verstorben und seine Stelle frei geworden. Das klassische Städtchen Goethes und Schillers übte eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Marie, die jetzt sah, daß sie sich in der Befriedigung ihrer wahnwitzigen Ansprüche buchstäblich alles erlauben konnte, warf das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Und er selbst, obwohl er ziemlich anspruchslos war, hatte kein Talent zur Sparsamkeit. Dieses Leben hätte man in Weimar kaum fortsetzen können. Darüber hinaus quälte ihn aber unerträglich die Sehnsucht nach Freiheit und Alleinsein.
Den Sommer verbrachten sie noch gemeinsam. Sie waren in Lucca, in dem kleinen San Rossore bei Pisa hielten sie sich ebenfalls ein paar Wochen auf, dann fuhren sie weiter. Ihre täglichen Zusammenstöße wurden zu einer entsetzlichen seelischen Marter. Franzi faßte endlich einen Entschluß. Er brach zwar nicht mit Marie, aber er dachte sich eine Lebensform aus, die ihm eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit sichern sollte. Marie war des Herumreisens müde und sehnte sich nach Paris zurück. Sie einigten sich also dahin, daß Marie mit den Kindern nach Paris übersiedeln und die Last der Erziehung und Pflege der Kinder Mutter Liszt überlassen, während sich Franzi auf eine Konzertreise begeben und nur seine freie Zeit in Paris, im Kreise der Seinigen zubringen sollte. Als sie sich auch über die Einzelheiten dieser Lösung ausgesprochen hatten, wurde Franzi mit einem Male froh, leichten Herzens und liebenswürdig. Maries Bedrücktheit war jedoch schwer zu bannen. Sie fühlte, daß ihre Beziehungen sich mit diesem Schritt endgültig lockerten. In Florenz trennten sie sich. Marie fuhr mit den Kindern nach Genua. Der Abschied versöhnte sie beide, ihre Küsse trugen den Hauch vergangener Liebe.
»Du hast es leicht«, seufzte Marie, »du gehst jetzt fort, wer weiß wie lange, und wirst in Frauen schwelgen, wie ich dich kenne. Ich freilich soll ein Nonnenleben führen. Das ist die größte Ungerechtigkeit.«
»Ich habe dir doch schon hundertmal erklärt«, erwiderte Franzi leichthin, »die physische Treue ist nicht so wichtig.«
»So? Nicht wichtig? Und was würdest du dazu sagen, wenn ich dich betröge?«
»Wenn du in deinem Herzen weiter zu mir gehörtest, würde ich gar nichts sagen. Das heißt, es hängt natürlich sehr viel davon ab, mit wem du dich abgibst. Wen du mit deinem Vertrauen beschenkst. Wir können uns jetzt unter Umständen monatelang nicht sehen. Du bist noch jung und schön. Ich bin kein selbstsüchtiger Rohling und sehe ein, daß du eine so lange Zeit nicht ohne Liebe sein kannst. Darunter verstehe ich selbstverständlich eine bedeutungslose, kleine Belustigung, die mit deiner Zugehörigkeit zu mir nichts gemein hat. Wenn du jemanden findest, mit dem du dir die Zeit vertreiben willst, so schreibe es mir getrost. Ich kann dann schon beurteilen, ob du dich in diese Sache einlassen darfst oder ob es nicht empfehlenswert ist.«
»Du willst mir also, mit einem Wort, schriftlich Erlaubnis erteilen, daß ich dich betrügen darf?«
»So ist es.«
»Ach, Franzi, findest du es nicht furchtbar, daß wir da angelangt sind?«
»Ich würde es nur dann ungeheuerlich finden, wenn du empört wärst. Deine Augen blitzten aber soeben ganz verräterisch auf. Diese Lösung gefällt dir sehr gut. Es hat keinen Zweck, einander Komödie vorzuspielen, wir können nicht einmal mehr aufeinander eifersüchtig sein. Schon gut, ich weiß, daß du es kannst, weil du eine Frau bist. Frauen können auch dann eifersüchtig sein, wenn sie nicht lieben. Ich kann nicht mehr eifersüchtig sein.«
»Weil du mich nicht mehr liebst.«
»Ich fühle mich zu dir gehörig, das ist viel mehr als das.«
Dann fuhr Franzi nach Wien. Diese Stadt wählte er zum Mittelpunkt seiner Reisen. Aber er nahm sich Zeit. Für ein paar Tage machte er in Venedig und dann in Triest Halt. Dort trat zur Zeit Carlotta Ungher, nein: Karoline Unger auf.
Die schöne Karoline war die Freundin von Thalbergs Onkel. Fürst Dietrichstein, Thalbergs Vater, hatte nämlich einen jüngeren Bruder, der der schönen Karoline schon seit langem den Hof machte und sogar in Italien den Posten eines Gouverneurs übernahm, nur um in der Nähe der Sängerin sein zu können. Franzi hatte bei seinem Wiener Konzert anläßlich der Überschwemmungskatastrophe den Fürsten kennengelernt, und jetzt begrüßten sie sich deshalb als alte Bekannte. Sie verbrachten den ganzen Tag miteinander. Sie waren jeden Abend im Theater, da Karoline fast jeden Abend auftrat. Nach der Vorstellung gingen sie zu dritt in Karolines Wohnung und unterhielten sich bis spät in die Nacht hinein. Tags darauf trafen sie sich dann zum Mittagessen wieder zu dritt. Der alte Fürst freute sich seines Daseins.
Nicht immer waren sie aber zu dritt, sondern mitunter auch zu zweit: Franzi und Karoline. Die Sängerin verliebte sich Hals über Kopf in Franzi und leugnete es auch nicht. Franzi griff neugierig nach der sich ihm zuneigenden Blume, um sie zu pflücken. Jetzt wollte er die Sehnsucht stillen, auf die er als kleiner Knabe in Wien hatte verzichten müssen. Aber die Umarmung gab ihm nicht das überwältigende Glück, das er von ihr erwartete. Die er in seinen Armen hielt, war eine wildfremde Frau. Sie glich nicht einmal dem Traumgebilde, das sich einst in seiner Kinderseele einnistete und das heute noch ganz klar und rein in seiner Erinnerung lebte. Die sich ihm geschenkt hatte, war eine andere Karoline, ein aus einer anderen Welt stammendes Wesen. Diese Karoline konnte den schwärmerischen Hunger nicht stillen, den sie einst in ihm erweckt hatte. Ein bitterer Nachgeschmack verblieb ihm nach diesem flüchtigen Abenteuer. Und eine Liebeserfahrung: ein erwachsener Mensch muß lernen, daß die Ideale der Kindheit für die Seele zugleich mit der Jugend sterben …
Hier in Triest bekam er auch eine Zeitung in die Hand, die über die Erfolge des Ausschusses zu einem in Bonn aufzustellenden Beethoven-Denkmals berichtete. Für dieses Denkmal hatte man in ganz Europa eine Sammlung eingeleitet, die Spenden waren jedoch überall beschämend gering. Ganz Frankreich brachte insgesamt vierhundertzwanzig Franken! Franzi hatte das Empfinden, als ob ihn diese Nachricht irgendwie persönlich treffen müßte. Das also waren die Früchte der jahrelangen zähen Kämpfe, die er gemeinsam mit Habeneck in Paris um das Verständnis und die Würdigung von Beethoven geführt hatte? Er schrieb sofort einen Brief nach Bonn an den Denkmals-Ausschuß und teilte mit, daß er den noch fehlenden großen Betrag für die Errichtung des Denkmals in vollem Umfange selbst übernehme. Man möge lediglich seinen Wunsch berücksichtigen, das Marmor-Denkmal dem berühmten Bildhauer in Florenz, Bartolini, in Auftrag zu geben. Bartolini war ein guter Freund von ihm, mit dem er viel über Kunstprobleme gestritten und bei dem seine Forderung, die Kunst das Leben lang hochzuhalten, aufrichtigen Widerhall gefunden hatte.
Die Antwort des Denkmals-Ausschusses erreichte ihn in Wien. Die Unterzeichneten bedankten sich wärmstens und bemerkten, daß sie nicht eine Marmor-, sondern eine Bronzestatue aufzustellen gedächten. Trotzdem mußte er also jetzt zu seinem Wort stehen. Und er stand auch dazu. Es fiel ihm leicht, ein wahrer Goldstrom floß ihm zu. In zwei Wochen gab er sechs Konzerte, und alle waren überfüllt. Er verdiente soviel Geld, wie er nur wollte. Seine Einnahmen übertrafen die Höchstleistungen Paganinis. Dem materiellen Erfolg ebenbürtig war auch der künstlerische. Er spielte den »Erlkönig« von Schubert in seiner eigenen Überarbeitung. Nach vorne geneigt, sich an die Lehne des Stuhles anklammernd, verfolgten die Zuhörer mit Herzklopfen den dramatischen Verlauf, als ob sie einer spannenden Erzählung lauschten. Dann trug er auch Beethovens »Fünfte« vor. Er gab sich restlos der Musik hin, er spielte in nicht zu beschreibender künstlerischer Ekstase, bis er nach sechs Konzerten vor Erschöpfung krank wurde.
Vom Krankenlager aus schrieb er dem Grafen Leo Festetics nach Ungarn: »Ein wenig älter werde ich ankommen und, wenn ich diesen Ausdruck benutzen darf, als reiferer Künstler gegenüber dem vorigen Jahr, wo wir uns kennengelernt haben; denn seit dieser Zeit habe ich in Italien sehr viel gearbeitet. Ach, welche Freude und welches Glück, wieder in meinem Vaterlande verweilen zu dürfen und diese edlen und starken Sympathien entgegennehmen zu dürfen, deren ich mich während meines Wanderlebens im Auslande nicht unwürdig gezeigt habe … Meine Gefühle zu meiner Heimat und meinem ritterlichen und herrlichen Vaterland sind im Innersten meines Herzens immer lebendig geblieben. Und wenn ich in meinem bisherigen Leben meinem Vaterlande auch nur wenig habe beweisen können, wie sehr ich es liebe und achte, so haben sich diese Gefühle trotzdem nie verändert.«
Er war auch noch krank, als die schöne Camilla Pleyel in Wien ankam und im selben Hotel Wohnung nahm. Fünf Minuten nach ihrer Ankunft saß sie bereits an Franzis Bett. Sie kehrte aus Rußland zurück, wo sie mit ihren Klavierkonzerten fünfzigtausend Rubel verdient hatte. Sie war schön und strahlend.
»Seien Sie vorsichtig, ich habe Fieber, Sie stecken sich an«, warnte Franzi, als sich der schöne blonde Kopf zu ihm neigte.
»Ach, was kümmert mich dein Fieber«, flüsterte lächelnd die schöne Madame Pleyel.
Nach einigen Tagen durfte Franzi das Bett wieder verlassen, und nun konnte er Camillas Bitte nicht mehr ausweichen. Nach dem unbeschreiblichen Erfolg der Liszt-Konzerte hatte sie Angst, ihr viel geringeres Können in die Wagschale zu werfen. Wenn Franzi sie dagegen Arm in Arm auf das Podium begleiten würde, würde sicherlich niemand auf den Gedanken kommen, als wolle sie sich mit dem Klavier-Titanen messen. Die Geste des Titanen würde sie vielmehr den Zuhörern empfehlen. Das hatte sie sich ausgedacht. Franzi willigte ein. Er hatte gar nichts dagegen, mit einer so auffallenden Schönheit Arm in Arm vor das Publikum zu treten. So geschah es dann auch, und die kluge Frau behielt Recht. Ein stürmischer Beifall empfing sie und die Stimmung des Saales wurde augenblicklich warm. Camilla Pleyel erzielte einen außerordentlichen Erfolg. Zwei Tage lang durften sie sich des unerwarteten Wiedersehens erfreuen, mit dem sie der Zufall auf ihrem Wanderleben beschenkte, dann mußten sie weiter, eines in diese, das andere in jene Richtung. Franzi reiste nicht allein. Graf Leo Festetics war nach Wien gekommen, ihn abzuholen.
»Ich glaube kaum«, freute sich der Graf, »daß ein Künstler bei uns jemals mit so großer Begeisterung erwartet worden wäre.«
»Das höre ich gerne, aber vielleicht habe ich es gar nicht verdient?«
»Aber selbstverständlich. Es genügte vollkommen, Ihren Brief an mich in den Zeitungen zu veröffentlichen. Bis zum vorigen Jahr dachte unser Publikum an Sie wie an einen verlorenen Sohn. Dann kam Ihr Wohltätigkeitskonzert anläßlich der Überschwemmungskatastrophe. Das hat bei uns natürlich eine unbeschreibliche Freude hervorgerufen. Wenn Sie mir den Vergleich nicht verübeln, möchte ich sagen: es war die Heimkehr des verlorenen Sohnes.«
»Ich habe meine Heimat nie vergessen.«
»Das haben wir zu Hause aber nicht gewußt. Wissen Sie, lieber Meister, für uns ist es vor allen anderen Nationen wichtig, daß wir Europa große Männer vorweisen können; denn für uns ist es unsagbar schwer, im großen Österreich nicht verloren zu gehen. Unser guter Vater, der Kaiser, behandelt das ungarische Volk wie ein zweitrangiges, nicht ganz wohlgeratenes Kind. Das heißt natürlich nicht er selbst, der arme, Sie haben ja auch in Wien gehört, daß die Leitung der Dinge nicht in seiner Hand liegt. Wir sind also gezwungen, immer wieder von neuem zu beweisen, daß wir mindestens ebensoviel wert sind wie die Tschechen, die Kroaten oder die Dalmatier Seiner Majestät. Sie, Meister, sind weltberühmt geworden und somit ein großes Beweismittel für die Nation. Ein hundertfacher Schmerz wäre es gewesen, wenn Sie Ihre Heimat vergessen hätten, und eine tausendfache Freude ist es, daß dem nicht so ist. Wissen Sie, was man in Pest von Ihnen erzählt? In Italien, in Mailand oder Venedig haben ungarische Reisende Sie aufgesucht, weil sie sich in Schwierigkeiten befanden. Allen haben Sie ritterlich zur Seite gestanden.«
»Mein Gott, nicht der Rede wert … ich gebe jedem gern, der darum bittet. Und wenn mir jemand sagt, er kommt aus meiner Heimat, so gebe ich ihm doppelt soviel als einem anderen. Komisch, daß man darüber überhaupt spricht. Aber wissen Sie, lieber Graf, daß ich Lampenfieber habe?«
»Nein, was Sie nicht sagen. Warum denn?«
»Das will ich Ihnen gleich erklären. Ich habe eine sonderbare Natur. Wenn ich irgendwo Aufgeblasenheit oder Hochmut befürchte, kann ich mich nicht beherrschen und bin von vornherein verletzend grob. Ich habe deswegen schon viel Unannehmlichkeiten gehabt. Wenn ich aber fühle, daß man mich gern hat, dann kenne ich nichts anderes, als mich voll und ganz zu geben. Und jetzt habe ich Angst, daß ich nicht genügend Zuneigung finde.«
Der Graf lachte und beruhigte ihn. Die Postkutsche kam an einem Dezembermorgen um fünf Uhr in Preßburg an. Franzi schlief ein wenig, dann besichtigte er in Begleitung des Grafen die Stadt. Er erkannte sie kaum wieder. Sie war eine bewegte Großstadt geworden mit prächtigen Schlitten und schneidigen Vierspännern, mit einem regen Straßenverkehr und auffallend zahlreichen wohlhabenden Einwohnern.
»Das macht der Reichstag«, erklärte Festetics, »während der Sitzungen übersiedeln die Mitglieder des Ober- und Unterhauses samt ihren Familien nach Preßburg. Zu dieser Zeit ist das Leben hier abwechslungsreicher als in Pest. Eine Abendgesellschaft jagt dann die andere. Besonders wenn auch der Palatin hier ist, wie gerade jetzt. Ach, da fällt mir übrigens ein, daß Sie bereits einen so großen Erfolg erzielt haben wie niemand bisher: der Palatin hatte schon vor längerer Zeit für morgen Vormittag eine wichtige politische Besprechung anberaumt, also zufällig zu gleicher Zeit, wo Ihr Konzert stattfinden soll. Gestern haben sich nun so viele Magnaten, die alle zu Ihrem Konzert kommen wollen, von dieser Besprechung beurlauben lassen, daß der Palatin die Sitzung verschoben hat. Was bewundern Sie denn, Meister?«
»Ich staune, um wieviel kleiner die Häuser geworden sind, seit ich das letzte Mal hier war. Ist das nicht ein eigenartiges Gefühl? Jedes Gebäude kommt mir viel niedriger vor …«
»Kein Wunder. Sie sind seit dieser Zeit ja auch etwas größer geworden.«
Der Tag verging mit Vorbereitungen zum Konzert und dem Anknüpfen neuer Bekanntschaften. Am Abend mußte er sogar zwei Einladungen Folge leisten. Zuerst war er zum Diner bei dem Grafen Ludwig Batthyány, dem Führer der Opposition des Reichstags, eingeladen, dann ging die ganze Gesellschaft zum großen Gala-Abend des Gouverneurs von Fiume, Paul Kiß von Nemeskér.
Am Diner des Grafen Batthyány nahmen nur Männer teil, dafür jedoch um so bedeutendere Persönlichkeiten. Der Hausherr selbst fesselte ihn sofort. Er war ein Mann in den dreißiger Jahren und trug nach der damaligen Mode einen runden Bart. Mit seinen schönen und gleichmäßigen Gesichtszügen, mit seiner angeborenen Vornehmheit, Eleganz und Verbindlichkeit erweckte er den Eindruck eines gütigen Herrschers. Ein Herr sagte auch während der Unterhaltung:
»Mein Freund Ludwig hat einen sardanapalischen Zug …«
Der diese Bemerkung aussprach, war ein älterer Herr nahe an fünfzig. Seine Erscheinung war furchterregend und anziehend zugleich. Man fühlte sofort, daß er ein bedeutender Mann war. Zwischen den breiten, ungeheure Kraft verratenden Schultern saß ein bärtiger Kopf. Dem Gesicht verliehen die auffallend dichten, zusammengewachsenen Augenbrauen einen besonders achtunggebietenden und kraftvollen Ausdruck. Er begleitete seine Worte mit heftigen, aufgeregten Gesten, und was er sagte, war überraschend und geistreich. Franzi erkundigte sich, wer das sei. Das sei Graf Stefan Széchenyi, der Brückenbauer, erwiderte sein Tischnachbar. Diese Auskunft sagte ihm zwar wenig, aber später erklärte man ihm, daß dieser Mann das schaffende Gehirn des Landes sei, ein unermüdlicher Arbeiter und Anreger, der dem gesamten Stadtbild von Pest ein neues Gesicht gegeben habe. Bis jetzt habe er eine Pferderennbahn, die Akademie der Wissenschaft und das Nationale Casino gebaut und daneben die Seidenraupenzucht eingeführt und noch vieles, vieles andere. Zur Zeit baue er nach den Plänen eines englischen Ingenieurs eine auf Ketten hängende Brücke, die als erste Brücke Ofen mit Pest verbinden solle, den Vertrag habe man erst in diesem Jahre abgeschlossen.
Nachdem die Tafel aufgehoben war, kamen der Komponist und der Brückenbauer zusammen. Széchenyi war ausnehmend liebenswürdig zu ihm.
»Außerordentlich peinlich berührt mich der Mangel«, sagte Franzi unter anderem, »daß ich nicht ungarisch sprechen kann. Im persönlichen Verkehr bereitet mir das zwar keinerlei Schwierigkeiten, ich erhalte jedoch unzählige ungarische Briefe, die ich nicht lesen kann.«
»Das werden Sie schon noch lernen, nicht wahr? Auch ich bin deutsch erzogen worden, die ungarische Sprache erlernte ich erst später. Denken tue ich heute noch deutsch. Aber die Sprache muß man beherrschen! Das Leben eines Volkes bestimmt seine Sprache. Gibt es zum Beispiel ein Schweizer Volk oder gibt es ein österreichisches Volk? Nein. Aber ein deutsches, ein französisches, ein spanisches Volk gibt es. Es ist ein großes Glück in unserer Geschichte, daß das Bauerntum unsere Sprache erhalten hat. Die lebenspendende Kraft unseres Volkes haben also jene bewahrt, die von der Nation unterdrückt und in Sklaverei gehalten wurden.«
Franzi blickte den Aristokraten verwundert an. Was für ein Feudalherr war das, der in so prächtiger Umgebung von den unterdrückten Bauern sprach und zugleich als Stütze der bestehenden politischen Ordnung galt? Im Laufe des Abendessens hatte er nämlich erfahren, daß Batthyány und Széchenyi eigentlich politische Gegner, wenn auch gute Freunde waren.
Schon in dieser Gesellschaft konnte er die Namen der vielen neuen Bekannten kaum behalten, und beim Empfang des Gouverneurs von Fiume ließ ihn sein Erinnerungsvermögen vollends im Stich. Zahllose Gäste waren hier anwesend. Märchenhafte Toiletten der Damen, österreichische Uniformen, Roben des hohen Clerus, ungarische Gala-Uniformen, Fracks. Die ungarische Sprache vernahm er aber nur selten. Die um ihn her flutende Gesellschaft sprach entweder deutsch oder lateinisch. Insbesondere die lateinische Sprache erregte seine Aufmerksamkeit. Das wirkte eigentümlich historisch. Es erinnerte an vergangene Jahrhunderte, an die altehrwürdigen Überlieferungen großer Zeiten, wie das Latein, das er im Vatikan gehört hatte.
Auch der Palatin Josef, dem man ihn vorgestellt hatte, sprach lateinisch. Der Sohn Kaiser Ludwigs, der Bruder Kaiser Franz', der Onkel Kaiser Ferdinands, der prächtige alte General erfreute sich offensichtlich einer außerordentlichen Beliebtheit im ungarischen Kreise. Ihnen zuliebe sprach er lateinisch, denn wie Franzi von seinen Landsleuten verwundert feststellte, sprachen sie untereinander sehr gerne deutsch.
Mit ihm unterhielt sich der erlauchte Herr jedoch französisch und später italienisch. Der Palatin war in Florenz geboren und freute sich, in dem vielgereisten Künstler jemand gefunden zu haben, der ihm von seiner Geburtsstadt erzählen konnte. Dann erkundigte er sich nach den weiteren Plänen des Künstlers.
»Ich fahre von hier aus nach Pest, Hoheit, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr war.«
»Ach, Sie werden unser schönes Pest gar nicht wiedererkennen. Es entwickelt sich ganz großartig. Ich wünsche viel Erfolg!«
»Unser schönes Pest!« Wie wunderbar das klang, wie innig und vertraut. Er beneidete den Palatin fast, daß er so von Pest sprechen konnte. Aber dann besann er sich, daß Pest ja auch ihm gehörte, ein Stück seiner Heimat war. Sonderbare Gefühle bestürmten ihn, als müßte er sich an vieles wieder gewöhnen, was er sich abgewöhnt hatte. Er war darauf gefaßt gewesen, im Kreise seiner Landsleute manchen Vorwurf zu hören. Aber keine Spur davon. Wo er nur hinsah, flammende Liebe. Jeder war sichtlich stolz auf ihn. Und als eine Seele, die für Liebe und Abneigung besonders empfindlich war, trat er zuversichtlich in den beseligenden Zauberkreis dieser Wärme wie eine Schnecke, deren ausgestreckte Hörner keinen drohenden Widerstand finden.
In Wien hatte er geglaubt, daß der Erfolg seiner Konzerte nicht mehr zu steigern sei. Aber in Preßburg war der Erfolg noch größer. Das Publikum spendete stehend Beifall. Alle hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Er stand auf dem Podium und verbeugte sich unzählige Male. Mit der gewohnten Bewegung, die an ein Fohlen erinnerte, riß er jedesmal seinen Kopf nach hinten, damit ihm sein langes Haar nicht ins Gesicht falle. Er war der verkörperte Sieg selbst, wie er dort oben auf dem Podium stand, das Genie, das die Heimat mit tobender Huldigung belohnte, weil er in seiner Kunst der Erste und Einzige in der Welt geworden war.
Am darauffolgenden Vormittag spielte er zugunsten der Preßburger Armen im Theater. Die Konzertleitung hatte eine gemischte Spielfolge zusammengestellt, ihn hatte man nur um den Vortrag eines einzigen Stückes gebeten. Aus diesem einen Vortragsstück aber wurden zwei, weil man dem stürmisch fordernden Beifall nicht widerstehen konnte. Er ging zurück auf die Bühne und schlug die ersten Takte des Rákóczi-Marsches an. Noch in Wien hatte er die Überarbeitung dieses Marsches fertiggestellt und für Pest aufgehoben. Schon beim Klang der ersten Töne unterbrach ihn tosender Beifall. Minutenlang dröhnte das Theater von »Eljen«-Rufen. Er war gezwungen, das Spiel zu unterbrechen und von neuem zu beginnen. Das, was diesem zündenden, mitreißenden und unwiderstehlich aufwühlenden Vortrag folgte, war schon kein Beifall mehr, sondern ein leidenschaftlicher Aufruhr. Endlich verließ er die Bühne, um dem Grafen Batthyáy in seiner Loge einen Besuch abzustatten. Bei seinem Eintreten applaudierten ihm die in der Loge sitzenden Damen zu, die Gräfin hieß ihn neben sich Platz zu nehmen, das Publikum horchte auf und stimmte in den Beifall der Loge ein. Auf der Bühne mußte die Fortsetzung des Konzerts unterbrochen werden, und das ganze Theater schrie einmal übers andere dröhnend: » Eljen Liszt Ferenc!«
Der Palatin empfing ihn in einer besonderen Audienz. Sie unterhielten sich sehr lange, und ein Satz klang ihm noch in den Ohren, als die Galakutsche mit ihm nach Pest fuhr:
»Ich freue mich, daß ich Ihnen als Palatin Ungarns den Stolz und die Liebe Ihres Vaterlandes aussprechen darf.«
Nach Pest beförderte ihn keine Postkutsche mehr, sondern ein prächtiger herrschaftlicher Wagen. Die verzierte große Barke auf Rädern, in der man auch schlafen konnte, hatte dem alten Grafen Kasimir Esterházy, dem Gutsherrn von Darda, gehört, der zu den Mitgliedern der Preßburger Opposition gehörte. Noch drei herrschaftliche Wagen schlossen sich dem seinen an, eine regelrechte Magnaten-Karawane fuhr nach Pest: Baron Wenckheim, die beiden Grafen Zichy, Leo Festetics und andere. Nachmittags um vier Uhr fuhren sie ab und am anderen Tage um vier Uhr kamen sie in Pest an. Man ließ ihn nicht in einem Hotel absteigen, sondern die Familie Festetics hieß ihn als Gast willkommen.
Es war der Christabend, der 24. Dezember. Im Hause Festetics' empfing die Ankommenden die zauberhafte Stimmung des Weihnachtsfestes. Die Kinder, zwei kleine Mädchen und ein kleiner Junge, stürzten sich jubelnd und jauchzend auf die aus Preßburg mitgebrachten Geschenkpakete. Der Gast erfrischte sich ein wenig, kleidete sich um und setzte sich im Kreise der Familie an den Kamin, in dem die Holzscheite knackten. Zum Tee kam Besuch: Ritter von Schober, Graf Franz Brunswick und andere. Im Nebenzimmer rumorte es geheimnisvoll; es werden Weihnachtsvorbereitungen sein, dachte Franzi. Auf einmal ging aber die Türe auf, und in der Öffnung standen die Mitglieder eines Gesangvereins, der ihn begrüßte. Die Teegesellschaft erhob sich und stand den Singenden gegenüber, Franzi in ihrer Mitte. Deutsche Begrüßungsworte klangen ihm entgegen:
»Dich faßte, noch ein zarter Knabe,
Schon des Geschickes kalte Hand,
Und sprach, dich reißend in die Ferne:
›Geh' hin, du hast kein Vaterland.‹
Dann führten die verklärten Schwingen
Der Kunst dich in ihr Zauberreich:
›Hier ist die Heimat großer Geister,
Auch deine ist's, der ihnen gleich.‹
Und schmeichelnd lockte dich das Leben
Dann in sein glänzendes Revier,
Es schmückte dich mit seinen Gaben
Und bat: ›Nun weile, herrsche hier.‹
Dann wurdest du vom Ruhm getragen,
Auf seine Gipfel hingestellt:
›Hörst du‹, sprach er, ›die Völker jubeln?
Liszt, dein Heimat ist die Welt!‹
Doch was das Schicksal auch gesprochen,
Die Kunst, der Ruhm, Genuß und Glück:
Du dachtest doch mit treuer Seele
Ans Land, das dich gebar, zurück.
Und kommst zu uns, wo arm das Leben,
Die Kunst noch in der Wiege ist;
Doch unser Herz ist reich und bieder,
Es ruft dir zu: ›Sei uns gegrüßt!‹
Sei uns gegrüßt im Lorbeerschmucke,
Den du verdient so ritterlich, –
Du großer Künstler, Edler, Treuer,
Franz Liszt, dein Land ist stolz auf dich!«
Die nette, kleine Komposition verklang. Der Dirigent wandte sich zu dem Gefeierten um, der fühlte, daß es jetzt schicklich wäre, ein paar Worte des Dankes zu sagen. Das war nichts Ungewohntes für ihn, denn auf den zahlreichen Banketts nach seinen Konzerten von Marseille bis Padua hatte er oft »ein paar unverbindliche Worte« erwidern müssen. Jetzt aber würgte eine heiße Ergriffenheit seine Kehle. Er murmelte einige Sätze, was für ein Glück es wäre, wieder einmal in der Heimat zu sein. Seine Worte wurden mit »Eljen«-Rufen entgegengenommen. Dann stellte man ihm Herrn Grill vor, einen Dirigenten des Pester Nationaltheaters, der die Musik zu dem Begrüßungschor geschaffen hatte, während der Text von Ritter von Schober stammte, der aus Liebhaberei schriftstellerte. Kaum hatte Franzi jedoch mit ihnen ein paar Dankesworte gewechselt, als schon neue Musik erklang. Sofort standen auch die Kammerdiener mit Pelzen bereit und die Gesellschaft trat in der Dezemberkälte auf den offenen Balkon: im Park flackernder Fackelschein und schmetternde ungarische Lieder. Die Musiker brachten ein regelrechtes Programm zum Vortrage, das in dieser frostigen Kälte keine reine Freude war. Dann begab sich die ganze Gesellschaft wieder an den Kamin. Nach einigen Minuten öffnete man abermals die Tür zu dem benachbarten Zimmer, das sich jetzt in einen Konzertsaal verwandelt hatte. Sieben Herren nahmen mit ihren Instrumenten Platz. Unter ihnen, am Cello, Graf Brunswick. Beethovens Septett. Sie spielten es vorzüglich. Als es beendet war, öffneten sich abermals die Türen eines angrenzenden Raumes. Strahlendes Kerzenlicht, funkelndes Kristall, schweres, gleißendes Silber, unsichtbare Zigeunermusik.
Franzi war außer sich vor Freude. Er mußte sich zusammennehmen, um in diesem Rausch des Glücks nicht in Tränen auszubrechen. Zigeunermusik ließ abermals die so unendlich lange reglos gebliebenen geheimen Saiten seines Herzens erklingen. Aller Augen hingen an ihm, alle zeigten ganz offen, daß sie ihn lieb hatten, alles war nur für ihn da, in diesem Überschwang der Freude wäre er am liebsten aufgesprungen und hätte jeden umarmt. Sein volles Sektglas leerte er in einem Zuge. Die Rubato-Sätze der feurigen, leidenschaftlichen Musik mit ihren elektrisierenden, erregenden Harmonien versetzten ihn in einen Rausch ohnegleichen.
Dieser Rausch kam nicht vom Sekt, der kam von Pest, den Landsleuten, dem Ungartum … Wie ein Märchentraum aus Tausend und einer Nacht schien ihm jede Stunde der in dieser verzauberten Stadt verbrachten Tage. Als ihn die Gesellschaft der Magnaten ins Nationaltheater zur Erstaufführung von »Fidelio« mitnahm, betraten sie während der Ouvertüre die Loge. Die Zuhörer erkannten den langhaarigen, jungen Mann sofort, ein gewaltiger Beifallssturm setzte ein, dröhnende »Eljen«-Rufe brachen aus, so daß Franz Erkel, der Dirigent, gezwungen war, das Vorspiel abzuklopfen. Erst nach Minuten konnte man abermals beginnen.
Seinem Konzert war ein ganz unbeschreiblicher Erfolg beschieden. Das Publikum gestaltete den Abend zu einem wahren Volksfest, und die Preste huldigte rückhaltlos dem Genie. Der »Honmüvesz« schrieb: »Sein Spiel kann keine Feder beschreiben, ihn muß man hören. Er ist der Riese unter den derzeitigen Pianisten.« Jede Kleinigkeit wurde mit jauchzender Freude zur Kenntnis genommen, daß er zum Beispiel die Eintrittskarten zu seinen Konzerten in ungarischer Sprache drucken und um die Blumensträuße für die vornehmen Damen Bänder in den Nationalfarben winden ließ, daß er selbstlos ein Wohltätigkeitskonzert nach dem anderen übernahm, daß er sich einen ungarischen Gala-Anzug anfertigen und seine offiziellen Briefe erst ins Ungarische übersetzen ließ, um sie dann selbst abzuschreiben. Nach kaum drei Tagen hatte sich seine Beliebtheit zur allgemeinen Anbetung gesteigert. Den täglichen Briefeinlauf konnte er überhaupt nicht mehr lesen, weil die Briefe korbweise ankamen. Die Zeitungen brachten Erzählungen und Begebenheiten aus seinem Leben. Anekdoten gingen von Mund zu Mund weiter von Schwärmern, die ihr letztes Bettzeug verkauften, nur um ihm zuhören zu können. Die Stadtverwaltung von Pest hielt eine außerordentliche Festsitzung ab und ernannte ihn zum Ehrenbürger, der Regierungsbezirk Pest verfaßte einen Aufruf an den Palatin in dem er gebeten wurde, als Obergespan des Komitats bei dem Herrscher die Erhebung Liszts in den Adelsstand zu befürworten. Das National-Casino veranstaltete ihm zu Ehren ein Bankett und einen Ball. Die Franziskaner luden ihn zum Mittagessen ins Kloster ein, um den weltberühmt gewordenen Sohn Adam Liszts zu feiern. Befangen sah er sich in demselben weißen, mit Steinfliesen ausgelegten Gang um, den er einst an der Hand seines Vaters entlang geschritten war. Der Abt, einst der Novizengefährte seines Vaters, umarmte ihn unter Tränen, und auch ihm war das Weinen näher als das Lachen. Er mußte überhaupt während dieser feenhaften Tage ständig mit den Tränen kämpfen, nur abends, wenn er allein war und betete, konnte er sich dem seligen Weinen hingeben. Am ersten Morgen des Jahres 1840 schlug er die Augen mit der Frage auf, was noch schöner sein könnte als alles das, und was noch kommen könnte? Vielleicht wäre es das Schönste, jetzt plötzlich zu sterben …
Am 4. Januar gab er im Nationaltheater ein Konzert zugunsten des Fonds für die Aufrechterhaltung des Theaters. Er bereitete sich für dieses Konzert sorgfältig vor, denn man hatte ihm verraten, daß allerhand Überraschungen für ihn bereit seien. Langsam und bedächtig zog er seinen nagelneuen ungarischen Gala-Anzug an: einen kirschrotfarbigen Zriny-Dolman, eine eng anliegende blaue Hose und Sporenstiefel. Er konnte sich kaum vom Standspiegel trennen, so gut gefiel ihm dieser prächtige, blonde junge Mann, der ihm aus dem Spiegel entgegenlachte. Nur einen Säbel konnte er sich nicht umgürten, denn man hatte ihm erklärt, daß in Ungarn außer den Soldaten nur die Adligen einen Säbel tragen dürften und einzelne Personen, die die Nation dadurch ausgezeichnet hätte. Er sollte seinen Säbel jetzt erhalten: ein prunkvolles, mit Edelsteinen geschmücktes Stück, das einst dem Stefan Bathory gehört hatte.
Zum Konzert wurde das Theater so voll, daß man sogar auf der Bühne vier Reihen Stühle aufstellen mußte. Als er auf der Bühne erschien, applaudierte man ihm eine geschlagene Viertelstunde lang. Niemand war bisher in diesem Theater oder in irgendeinem anderen Saale der Stadt durch derartigen Beifall ausgezeichnet worden. Als der Beifall abebbte, blieb er in der Mitte der Bühne stehen, wie man ihm das geraten hatte. Im Auftrage des ungarischen Publikums traten sechs Herren in ungarischem Gala-Anzug mit klirrendem Säbel vor ihn hin: Graf Leo Festetics, Baron Paul Banffy, Baron Anton Augusz, Graf Domokos Teleki, Paul von Nyari, der Direktor des Nationaltheaters, und Rudolf von Eckstein, der Stuhlrichter des Pester Komitats. Der Stuhlrichter hielt in seinen Händen auf einem purpurnen Samtkissen den mit Edelsteinen ausgelegten Ehrensäbel.
Leo Festetics trat vor und hielt eine kurze ungarische Ansprache, von der der Gefeierte kein Wort verstand, deren Sinn ihm aber bekannt war. Er benutzte die Zeit dazu, seine vorbereitete Rede schnell nochmals zu durchdenken. Plötzlich trat der Stuhlrichter unter orkanartigen »Eljen«-Rufen auf ihn zu und gürtete ihm den Säbel um. Er legte seine Hand sofort auf den Griff, als ob er schon immer einen Säbel getragen hätte. Nur zitterte seine Hand ein wenig. Und auch die Stimme des von Lampenfieber todblassen Künstlers bebte, als er nun seine Rede begann. Die Befangenheit dauerte jedoch nur zwei Sätze lang an, dann flossen die französischen Worte leicht von seinen Lippen:
»Meine lieben Landsleute – denn hier ist es mir nicht möglich, nur ein Publikum zu sehen –! Den Säbel, den mir soeben die Vertreter eines wegen seines Heldenmutes und seiner Ritterlichkeit allgemein bewunderten Volkes überreicht haben, werde ich mein ganzes Leben lang bewahren als ein meinem Herzen kostbares und teures Gut.
Ihnen aber in diesem Augenblick, da ich aufs tiefste ergriffen bin, in Worten auszudrücken, wie gerührt und wie dankbar ich Ihnen für diesen Beweis Ihrer wohltuenden Achtung und warmen Zuneigung bin, wahrlich, das vermag ich nicht. Verzeihen Sie mir also, wenn ich darüber schweige, und glauben Sie mir, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, Ihnen hoffentlich bald meine tiefe Dankbarkeit durch Werke und Taten zu beweisen, wie es einem Manne ziemt, der sich rühmen darf, aus Ihrer Mitte hervorgegangen zu sein.
Nur einige Worte heute noch zu sagen, möge mir erlaubt sein …«
Diejenigen Zuhörer, die der französischen Sprache mächtig waren, riefen: »Weiter, weiter!« Diesen Ruf übernahm das ganze Publikum. Er war überrascht, sammelte sich aber sofort und fuhr fort:
»Dieser Säbel, der einst kraftvoll zur Verteidigung des Vaterlandes geschwungen worden ist, wurde zu dieser Stunde in schwache, friedliche Hände gelegt. Ist das nicht ein Sinnbild? Heißt das nicht soviel, meine Herren, als daß Ungarn, nachdem es auf so vielen Schlachtfeldern sich mit Ruhm bedeckt hat, nun die Künste und Wissenschaften, diese Freunde des Friedens, aufruft zu neuen Ruhmestaten? Heißt das nicht, meine Herren, daß heute auch die Geistesarbeiter eine edle Aufgabe zu lösen, eine hohe Stellung in Ihrer Mitte zu erfüllen haben? Dem Ungarland, meine Herren, darf keine Art des Ruhmes fremd bleiben – es ist dazu ausersehen, an der Spitze der Völker zu schreiten, kraft seines Heldentumes und seines friedlichen Genius.
Auch uns Künstlern ist dieser Säbel ein edles Vorbild, ein leuchtendes Symbol.
Edelsteine, Rubine und Diamanten zieren seine Scheide, aber sie sind doch nur Beiwerk, nur glänzende Nebensachen.
Die Klinge ist im Innern. Möge so stets in unseren Werken, auch wenn unsere Gedanken sich in tausend seltsame Formen kleiden, wie der Stahl in dieser Scheide, Menschenliebe und Hingebung an das Vaterland wohnen, an das Vaterland, das unser Leben selber ist.
Ja, mein Herren, lassen Sie uns mit allen rechtlichen und friedlichen Mitteln das Werk fortsetzen, an dem wir alle mithelfen müssen, ein jeder nach Kraft und Vermögen.
Und sollte man es je ungerechter- oder gewaltsamerweise wagen, uns am Vollbringen unserer Arbeit zu hindern, nun, meine Herren, wenn es sein muß, so mögen unsere Säbel aus der Scheide fliegen, sie sind noch nicht verrostet, ihre Streiche werden furchtbar sein wie ehemals, und unser Blut ströme dahin – bis zum letzten Tropfen für unser Recht, für den König und das Vaterland!«
Schwacher Beifall, die Mehrzahl der Zuhörer hatte der französischen Rede nicht folgen können. »Ungarisch!« rief man ihm zu. Da trat von den sechs Herren in ungarischer Galatracht Baron Augusz vor. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand, auf dem der französische Text der Rede verzeichnet war. Mit erstaunlicher Gewandtheit übertrug er die Rede aus dem Stegreif ins Ungarische. Das verfehlte dann auch seine Wirkung nicht. Fast hätte man das ganze Theater auseinandergerissen.
Als das Konzert zu Ende war, sah sich der aus dem Theater heraustretende Künstler einer dicht gedrängten Menschenmenge gegenüber, aus der hie und da Fackelträger hervorleuchteten. Eine Kapelle spielte einen Marsch. »Eljen«-Rufe. Er bestieg seinen Wagen. Gleichzeitig spannten ihm aber auch schon einige junge Leute die Pferde aus.
»Nein«, wehrte sich Franzi, »ich will vor meinen Landsleuten nichts voraushaben. Ich gehe zu Fuß, wie sie alle«
Und er stieg wieder aus. Die ungarischen Magnaten folgten seinem Beispiel. In der grimmigen Januarkälte setzte sich der Fackelzug in Bewegung. Die Szell-Straße, wo Festetics wohnte und Franzi zu Gaste war, war recht weit vom Nationaltheater entfernt. Unentwegt marschierte der Fackelzug die lange Wegstrecke. Die Menschenmenge wurde immer größer, an der Ecke der Gyapju-Straße strömte das Publikum gerade aus dem Deutschen Theater und schloß sich ebenfalls an. Der Zug wurde so lang, daß eine Musikkapelle am Anfang und eine am Ende des Zuges zu gleicher Zeit spielen konnten, ohne einander zu stören. Dabei war die Luft ununterbrochen von »Eljen«-Rufen angefüllt. Zweimal stockte der Zug sogar, weil man ihn reden hören wollte. Er hielt also eine Rede in französischer Sprache, obwohl das gar keinen Sinn hatte, denn einmal konnten ihn nur die unmittelbar neben ihm Stehenden hören, und auch die verstanden ihn nicht ganz; zum anderen drängten die hinter ihnen Kommenden den Redner weiter. Es war ein sinnloser, berauschter, unwahrscheinlicher Marsch durch die verschneiten Straßen mit unentwegten »Eljen«-Rufen inmitten schmetternder Musik! Flackernder Fackelschein beleuchtete von Begeisterung verzerrte Gesichter. Er selbst schritt in der Menschenmenge, mit dem Ehrensäbel an der Seite, einher wie ein Traumwandler. Auf der breiten Marmortreppe des Schlosses Festetics hatten sich zu beiden Seiten Fackelträger aufgestellt, als sie dort endlich ankamen. Die Gruppe der Magnaten in ungarischer Galatracht, zwischen ihnen der Gefeierte, schritt sporenklirrend die Treppe empor. Aber noch immer wollte die Begeisterung kein Ende nehmen, die Ovationen schwollen zu einem Orkan an, er mußte abermals eine Rede halten.
Auf Bitten der Gräfin Keglevich gab er auch zum Besten der Ofner Blindenanstalt ein Konzert. Die Gräfin war hocherfreut, sie hatte eine Zusage gar nicht ernstlich erwartet. Zwischen Pest und Ofen gab es nämlich noch keine Brücke. Die Schiffsbrücke wurde im Winter stets abgebrochen, und die eistreibende Donau mit einem Boot zu überqueren, war ein keineswegs gefahrloses Unternehmen. Aber Franzi nahm es auf sich. Als sich das Unternehmen herumsprach, schloß sich ihm eine ganze Anzahl Aristokraten an, sogar einige unternehmungslustige Damen. Die Überquerung der Donau war eine eigenartige und umständliche Angelegenheit. Auf dem Eise lagen Kähne bereit, man nahm Platz und mummte sich vollständig in Pelze und Fußsäcke ein, so daß nur die Nasenspitzen hervorlugten. Dann setzten sich die Schlepper auf der holprigen Eisfläche in Bewegung und zogen die Kähne ruckweise nach der Mitte des Stromes zu. Die Mitte der Donau war nicht zugefroren. Als sie den Rand des Eises erreicht hatten, mußte man die Kähne vom Eis ins Wasser schieben. Das war wieder eine langwierige und heikle Arbeit, die Frauen kreischten meistens dabei. Mit einem Male riß dann der Strom die Kähne glatt und schnell mit sich, die bis dahin wie Schlitten auf dem Eise dahingeholpert waren. Die bisher untätig gewesenen Ruderer mußten sich kräftig in die Riemen legen. In stark schräger Richtung überquerten sie den offenen Teil der Donau und gelangten so bis an die Ofener Eisfläche. Dort begann dann das Schleppen von neuem, die Stricke spannten sich und die Kähne knirschten auf das Eis. Endlich hatten sie das Ufer erreicht und konnten aussteigen, die Bootsleute riefen die bereitstehenden geschlossenen Kutschen heran.
Über diese Umständlichkeit war er maßlos verwundert. Er erinnerte sich der vielen und bequemen Brücken über die Seine. Wie war so etwas bloß möglich? Konnte denn nicht schon seit tausend Jahren eine Brücke über die Donau geschlagen sein?
»Ach«, erwiderte Baron Augusz halb ernst, halb lachend, »das ist nur ein tausendster Teil dessen, was wir seit tausend Jahren versäumt haben. Aber jetzt wird es anders. Hier wird jetzt ungeheure Arbeit geleistet, das Land ist erwacht! Dieser Széchenyi ist ein ganz fabelhafter Mensch. Einzig und allein ihm ist es zu verdanken, daß nunmehr eine Brücke über die Donau geschlagen wird, und zwar ein Weltwunder von Brücke, eine Brücke, wie es sie auf der ganzen Welt noch nicht gibt. Wissen Sie, welche Bedeutung so eine Brücke haben kann? Mangels einer Brücke wäre in der Zeit der Tatareneinfälle fast das ganze Volk zugrunde gegangen. Die Tataren trieben damals die besiegten Ungarn von Sajò her bis unmittelbar an das Pester Ufer. Wenn nun dort eine Brücke vorhanden gewesen wäre, hätten sich die Ungarn über die Donau flüchten und die Brücke hinter sich abbrennen können. So aber sind sie elend zugrunde gegangen.«
Franzi hörte gespannt zu, verstand aber nicht sehr viel davon. Er konnte sich nur ganz blaß erinnern, daß sich einst irgendwo ein Tatarenkrieg abgespielt hatte. Ob das jedoch im zwölften oder fünfzehnten Jahrhundert gewesen war, das wußte er nicht, – er, der Vielbelesene mit dem wunderbaren Gedächtnis, der selbst die unbedeutendsten Einzelheiten der französischen Geschichte gut kannte … Bei solchen Gesprächen schämte er sich und nahm sich streng vor, die Geographie und Geschichte seiner Heimat gründlich zu studieren. Von früh bis abends fühlte er sich schuldbeladen und undankbar, dabei wurde die Rechnung mit jeder Stunde eines jeden Tages größer, denn die Zeichen der Begeisterung und Verherrlichung wuchsen ins Unfaßbare. Sogar öffentlich bekränzt wurde er! Aus den Reihen der Zuhörer trat meistens eine ungarische Dame hervor und legte einen Lorbeerkranz auf das Haupt des Künstlers. Geschmückt mit diesem Lorbeerkranz saß er dann unter den anderen.
Er gab noch ein Konzert zugunsten einer zu gründenden Musik-Akademie in Pest, ein zweites zur Unterstützung des in Not geratenen Violinkünstlers Taborsky, dann veranstaltete er noch ein Abschiedskonzert und überquerte abermals die eistreibende Donau, um von der Ofener Seite aus nach Preßburg zu gelangen. Auf vierundzwanzig Stunden machte er in Györ halt, gab dort ein Konzert, und dann begleitete ihn Graf Esterházy nach Preßburg. Hier war er bei dem Grafen zu Gaste und verschob seine Abreise von einem Tag auf den anderen. Der tägliche reizvolle gesellschaftliche Verkehr, die Liebenswürdigkeit, die ostentative Freundschaft von Stefan Széchenyi, Ludwig Batthyány, Stephan Bezerédj und vielen anderen hatte ihn so mitgerissen und ergriffen, daß er sich am liebsten hier, inmitten des begeisterten Taumels des in der Galatracht prunkenden ungarischen Reichstages, für ewig niedergelassen hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Doch er mußte weiter, die Vernachlässigung seiner bereits abgeschlossenen Verträge hätte zuviel Geld gekostet.
Abermals schlug er sein Hauptquartier in Wien auf und gab auch dort ein Konzert. Dann fuhr er für einen Tag nach Brünn und kam auch gern einer Einladung der Ödenburger nach. Gerührt sah er sich in der kleinen Stadt seines ersten Konzertes um. Seine Seele war übervoll von Erinnerungen seiner Kindheit. Mitten aus der Ödenburger Begeisterung heraus fuhr er in sein Geburtsdorf Raiding. Das kleine Dorf erwartete seinen weltberühmten Sprößling in vollem Festschmuck. Liebenswürdige, eifrige ungarische Herren hatten diesen Besuch vorbereitet, um ihn so feierlich wie nur möglich zu gestalten. Graf Leo Festetics und Baron Anton Augusz begleiteten ihn auf dieser Reise. Schon auf halbem Wege setzte der Empfang ein. Eine Schar Raidinger Burschen ritten ihm entgegen, nahmen den Wagen in ihre Mitte und geleiteten ihn so als berittene Leibwache ins Dorf. Am Rande des Dorfes erwartete ihn eine Abordnung. Und wer stand in ihrer Mitte, vor Aufregung ungeduldig von einem Fuß auf den anderen stampfend? Wahrhaftig und allerhöchstpersönlich Herr Kaplan Rohrer, der einstige Onkel Rohrer, inzwischen Plebanus geworden, wohlbeleibt und mit ergrautem Haar, aber unverkennbar der alte. Neben ihm Unbekannte, der jetzige Richter und die Mitglieder des Gemeinderates. Franzi stieg in seiner nagelneuen ungarischen Galatracht, mit dem Ehrensäbel umgürtet, aus der Kutsche, zögerte nicht einen Augenblick und fiel dem guten alten Onkel Rohrer um den Hals. Sie küßten sich auf beide Wangen. Dann schob ihn Hochwürden mit ernstem Gesicht von sich, um eine Ansprache an ihn richten zu können. Zum Glück war sie kurz. Auch Franzi antwortete kurz. Hinter der Abordnung drängten sich Hundert und Aberhundert, Männer und Frauen, junge und alte, das ganze Dorf. Nach den Ansprachen begaben sich alle in die Kirche und wohnten einer Messe bei. Der größte Teil der Menge mußte außerhalb des Gotteshauses bleiben, das während der zwanzig Jahre auffallend zusammengeschrumpft zu sein schien. Nach der Andacht gingen sie ins Gemeindehaus. Franzi streute das Geld mit vollen Händen aus. Er schenkte einen großen Betrag für die Armen und ließ für alle Dorfbewohner ein Fest bereiten. Er bewirtete ganz Raiding. Die braven Dörfler kamen nacheinander zu ihm hin, nannten ihre ihm längst entfallenen Namen, erinnerten ihn an alte Begebenheiten, streichelten staunend sein Kleid und betasteten neugierig die Edelsteine des Säbels. Er stand gerührt unter den zum Spiel der Blechmusikanten Tanzenden und dachte mit unbeschreiblicher Wehmut an den weiten, weiten Weg, den er zurückgelegt hatte, seit der Leiterwagen damals mit ihm von hier in die Welt fuhr … Sie suchten auch sein Geburtshaus auf.
»Man müßte es kaufen«, sagte Augusz, »damit es der Nation gehört.«
»Ausgezeichneter Gedanke«, pflichtete Festetics bei, »man brauchte bloß mit den Esterházys einmal zu sprechen.«
Franzi hörte nicht zu. Er beachtete auch sein Geburtshaus nicht. Versunken schloß er die Augen und beschwor das Zimmer herauf, an dessen Wand Beethovens Bild gehangen hatte. In seiner Kindheit hatte er einmal gesagt, daß er »so einer« werden möchte, wenn er groß sei. Jetzt war er erwachsen, war nicht mehr weit vom dreißigsten Lebensjahre entfernt – und doch noch so weit von Beethoven! Ob er ihn je erreichen würde?
Als er nach Wien zurückkehrte, erwartete ihn dort unter anderem die Nachricht, daß die Zensur die Veröffentlichung seiner Rákóczi-Marsch-Bearbeitung verboten hatte. Von ungarischer Geschichte wußte er wenig. Von den derzeitigen politischen Strömungen verstand er noch weniger. Den Sinn dieses Verbotes begriff er jedoch. Die Dynastien schätzen im allgemeinen die übermäßige Freiheit ihrer Untertanen nicht allzu sehr. Die Dynastien der gemischt bevölkerten Länder lieben die Betonung des nationalen Bewußtseins ihrer einzelnen Völker erst recht nicht. Sein Rákóczi-Marsch, wenn ihm auch kein Text zugrunde lag, bedeutete eben Freiheit und Ungartum … Die Zensur löste in ihm, wie jeder gewaltsame Druck, einen heftigen Gegendruck aus. Das in seinem Herzen gerade wiedergefundene Ungartum loderte dadurch noch höher auf. Und steigerte sich noch mehr durch ein weiteres Erlebnis. Anläßlich seines letzten Konzertes in Pest hatte sich ein gutgelaunter Mann auf einem der einzusammelnden Wunschzettel einen Spaß erlaubt, als der Künstler programmgemäß am Klavier nach dem vom Publikum gewählten Themen improvisieren mußte. Franzi lächelte über den Scherz und hielt das Zettelchen über die Flamme eines Kerzenleuchters. Da erschien aus irgendeiner unbekannten Quelle in tschechischen, ja sogar auch in deutschen Blättern, die Behauptung, »daß Liszt in seinem fanatischen Ungartum alle Zettel, auf die die Zuhörer ein deutsches oder slawisches Motiv geschrieben hatten, ostentativ verbrannt habe.« Von einem blutdürstigen tschechischen Patrioten, dessen Name unleserlich geschrieben war, bekam er sogar einen Brief: der Tscheche zog ihn in strengem Tone wegen der dem tschechischen Volke zugefügten Beleidigung zur Verantwortung und drohte mit einer Duellforderung. Dieses kleine Presseabenteuer aber rief nun auch seinen Trotz wach. Er fühlte sich nun erst recht als draufgängerischer Ungar, wilder als irgendein fanatischer Ungar der Preßburger Opposition.
Unter seiner unzähligen Post tauchte oft auch Maries Handschrift auf. Marie berichtete ihm von dem Leben in Paris. Über die Kinder schrieb sie nicht allzu viel, weil sie ja von der Großmutter gepflegt und erzogen wurden und die Mutter sich nur wenig um sie kümmerte. Um so mehr schrieb Marie aber von den alten Bekannten. Vor allem über George Sand. Ihre Freundschaft hatte sehr nachgelassen. Die Äußerungen, die die eine über die andere machte, hatten einen häßlichen, unangenehmen Klatsch zur Folge. Sie trennten sich zwar nicht vollständig, aber in Maries Briefen stand zwischen den Zeilen, daß das früher oder später doch erfolgen würde. Sie kam jetzt schon nur noch selten mit George zusammen. Ihr Umgang war ein anderer geworden. Zur Zeit machte ihr Sainte-Beuve den Hof im Wettkampf mit einem englischen Diplomaten namens Bulwer, und eines schönen Tages bat Marie in einem oberflächlich hingeworfenen Nebensatz ihren Geliebten um Erlaubnis, ihm untreu werden zu dürfen.
»Sie bitten mich um die Erlaubnis zu einer Untreue!« erwiderte er ihr. »Liebe Marie, Sie sagen mir aber keinen Namen, ich vermute, daß es Bulwer ist. Doch kommt es darauf nicht an. Sie kennen meine Art, derartige Ereignisse zu betrachten. Sie wissen, daß mir Tatsachen, Gesten und Handlungen nichts bedeuten, Gefühle, Gedanken, Schattierungen, besonders Schattierungen, alles. Ich will und liebe es, daß Sie immer Ihre ganze Freiheit haben, denn ich bin überzeugt, daß Sie sie immer vornehm, behutsam gebrauchen werden, bis zu dem Tage, wo Sie mir sagen werden: dieser oder jener Mann hat kraftvoller gefühlt, inniger verstanden als Sie, was ich bin und sein kann; bis zu diesem Tage wird von Untreue nicht die Rede sein und nichts, absolut nichts, wird sich zwischen uns ändern. Dieser Tag aber, erlauben Sie mir, das zu sagen, wird nicht kommen und kann nicht kommen, ich bin davon zuinnerst und zutiefst überzeugt. Wenn es Ihnen ein Bedürfnis oder ein Vergnügen oder einfach eine Zerstreuung ist, mir von Bulwer zu erzählen, so tun Sie es, es wird mir eine schmeichelhafte Freude sein, wenn nicht, werde ich nie mehr ein Wort darüber verlieren.«
Marie schrieb: »Was Sie mir über die Erlaubnis zur Untreue sagen, zeigt viel Herz und erfüllt mich mit Achtung für Sie, obgleich diese Art zu fühlen mir immer unbegreiflich bleiben wird … Sie haben richtig geraten, daß es sich um Bulwer handelt. Ich glaube, daß weder Sie noch ich über ihn zu klagen haben werden. Er ist ein Mann und kein Kind.«
Die Antwort Franzis: »Wenn Bulwer der Mann ist, solche Dinge zu verstehen … werde ich nur Ihr Bruder sein. Dieser Gedanke widerstrebt mir nicht … aber Sie müßten seiner sehr sicher sein, sonst wäre es eine absurde Albernheit.«
Die Frage der Untreue spielte in ihren Briefen eine vollkommen nebensächliche Rolle. Viel ausführlicher schrieben sie sich über ihre täglichen Erlebnisse, über Bekannte und Klatsch. Franzi wußte nunmehr, daß Marie ein Liebesverhältnis mit Bulwer eingegangen war. Der Gedanke, daß ein anderer Mann die schöne Frau in seinen Armen hielt, erregte ihn gar nicht. Mehr als sechs Jahre waren seit dem ersten Kuß im Park des Schlosses von Croissy vergangen. Er erinnerte sich flüchtig dieses Kusses und verweilte einen Augenblick bei diesem unwiederbringlichen Erlebnis. Er zuckte die Achseln und dachte schon nicht mehr an das Ganze. Ihn nahm die Namensliste außerordentlich in Anspruch, die er jetzt zusammenstellte; denn er gab zu Ehren seiner Wiener Freunde ein großes Diner. Die Einladungen versah er eigenhändig mit der Anschrift: Graf Stefan Széchenyi, Fürst Hermann von Pückler-Muskau, Fürst Friedrich von Schwarzenberg, Graf Rudolf Apponyi jr., Graf Georg Apponyi, Graf Franz Hartig, Baron Karl Reisach, Graf Nikolaus Esterházy, Graf Paul Esterházy … Bei diesen Namen hielt er inne, schloß die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ihm fiel ein, wie sein Vater einst vor der durch Raiding fahrenden Esterházyschen Kutsche barhäuptig gedienert hatte …