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Mit übermenschlicher Anstrengung mußte das rätselhafte Klavier erobert werden. Es grinste schadenfroh mit seiner schwarzweißen Zahnreihe und stützte sich unbeweglich auf seine drei Beine, als ob es ganz von oben herab sagten wollte: »Nun, wir wollen mal sehen, ob du meine Geheimnisse erforschen kannst.« Und er stürzte sich mit einer wütenden Entschlossenheit, die der fixen Idee eines Nervenkranken gleichkam, auf diese Geheimnisse. Einmal übte er achtundzwanzig Stunden hintereinander, einen vollen Tag und noch vier Stunden.
Unterrichtsstunden erteilte er nur noch, um notdürftig leben zu können, und nur, wenn seine Finger die unbarmherzige Anstrengung nicht mehr aushalten konnten, las er zur Entspannung, – wahllos, alles durcheinander. Den gesellschaftlichen Verkehr gab er wieder auf. Seine Freunde sah er kaum. Balzac war immer sehr beschäftigt, Victor Hugo arbeitete an einem großen Roman, der die Kathedrale Notre Dame zum Thema hatte, Berlioz war nicht in Paris und Musset lief andauernd hinter Weiberröcken her. Franzi saß stundenlang vor seinem Klavier und rang mit ihm wie mit einem Dämon. Es war ein furchtbarer Kampf.
»Ich werde entweder irrsinnig«, sagte er einmal bei Erards, »oder ich bringe auf dem Klavier dasselbe fertig, wie Paganini auf seiner Geige.«
Ein anderes Mal sagte er:
»Ich stelle fest, daß bis jetzt noch niemand Klavier gespielt hat. Ich auch nicht. Wir haben bis jetzt nur eine Spieluhr betrieben. Das Klavier hat gespielt, nicht der Künstler. Ich werde der erste sein, der wirklich Klavier spielt.«
Er befand sich auf einer Entdeckungsreise durch unbekannte, unbetretene Urwälder. Er war einzig und allein auf sich angewiesen. Der Anschlag, die Pedalarbeit, die Dynamik, die unterschiedliche Färbung der gleichzeitig angeschlagenen Töne und deren größere oder geringere Kraft verhundertfachten die Möglichkeiten, die versucht werden mußten. Und wenn er etwas entdeckt hatte, wenn er durch tage- und wochenlange Arbeit endlich Klarheit gewonnen hatte, mußte er das neu Erfaßte ausgestalten. Jetzt segnete er zum ersten Male in seinem Leben den alten Czerny, der mit seinen verhaßten, eintönigen Übungen und mit der erbarmungslosen Überwachung durch das Metronom in ihm den Grund zum systematischen Lernen gelegt hatte. Jetzt konnte er eine und dieselbe Notenzeile bis zur Bewußtlosigkeit wiederholen. Und er konnte noch mehr: wenn er durch sein neues Forschungssystem drei verschiedene Klangfarben entdeckt hatte, dann übte er in dreierlei verschiedenen Auffassungen stundenlang dieselbe Tonfolge, die er bis vor kurzem noch nur in einer Weise zu üben fähig gewesen.
Eine heiße, wahnwitzige Sehnsucht vorwärtszukommen hatte ihm über die ersten schweren Wochen hinweg geholfen. Dann gesellte sich zu dieser Kraft ein neuer Auftrieb: der sichtbare Erfolg. Verwundert sah er, wieviel er lerne. Jeden gesegneten Tag konnte er feststellen, daß seine Technik sich sichtlich verbessert hatte. Er staunte über sich selber. Jetzt ritt ihn auch schon der Teufel wie Paganini. Am liebsten hätte er vor wilder Freude laut geschrien. Das Klavier, das bis jetzt nur seinen Fingern gehorcht hatte, begann sich langsam seinem Geiste zu fügen. Bisher war es Ziel gewesen, jetzt war es nur noch Mittel zum Zweck. Und der anfangs nur dunkel geahnte Weg lag auf einmal klar vor ihm: es mußte erreicht werden, daß der Zuhörer nicht das Klavier, sondern den Künstler hörte …
Im Sommer wurde er bettlägerig. Der Arzt konnte wiederum nichts anderes feststellen, als einst in London: den Organen des jungen Mannes fehle nichts, im Gegenteil, sie seien auffallend gesund, er treibe aber mit seinen Kräften einen unbeherrschten Raubbau, dem seine Nerven nicht mehr lange standhalten würden, wenn er sich nicht binnen kürzester Frist eine Erholung gönne. Tatsächlich war er schon nahe daran, den Verstand zu verlieren. Vom Klavier wollte er sich unter keinen Umständen trennen, wie ein stürmischer Liebhaber, der erst jetzt beginnt, die geheimnisvolle Seele seiner Geliebten zu erkennen. Er erklärte sich nur bereit, irgendwohin aufs Land zu ziehen, wo er Sonnenschein und frische Luft haben würde und wo sich vielleicht auch sein Appetit bessern könnte. Durch die Vermittlung eines seiner Schüler kam er als Gast der Familie d'Hainville nach Carentonne. Anfangs mußte er auch dort noch ein paar Tage lang zu Bett liegen, dann aber kam er bald zu Kräften und saß wieder Tag und Nacht am Klavier. Trotzdem erholte er sich sehr gut, war von der Sonne braun gebrannt und hatte sogar ein wenig an Gewicht zugenommen, als er gestärkt wieder nach Paris zurückkehrte, um dort seine frühere Lebensweise wieder aufzunehmen.
Zu seinem alltäglichen Leben gehörte auch der Kampf gegen die Wühlarbeit seiner Mutter, die ihn durchaus verheiraten wollte. Zäh und unbeirrt drängte sie ihn der Ehe zu. Sie arbeitete jetzt nicht mehr im geheimen, sondern brachte diese Angelegenheit offen zur Sprache. Trotz des ungeduldigen Widerspruches ihres Sohnes kam sie immer und immer wieder darauf zurück.
»Auch der Arzt sagt, mein Sohn, daß es gegen die maßlose Verschwendung deiner Kräfte nur eine einzige wirksame Arznei gibt, nämlich, daß du heiratest. Und wenn meine Worte dich noch so sehr aufreizen – ich kann es einfach nicht mit ansehen, wie du dich in deinen jungen Jahren gewaltsam zugrunde richtest, bis du in einer Irrenanstalt endest.«
»Aber wenn ich doch niemanden liebe! Ich hätte nur diese eine Einzige geheiratet, aber das ist ja nun aus. Ich werde jahrelang an keine andere Heirat denken, damit müssen Sie sich abfinden, liebe Mutter.«
»Ich finde mich aber nicht damit ab. Erst recht finde ich mich nicht damit ab. Wenn du morgen wieder nicht zum Mittagessen nach Hause kommst, spreche ich kein einziges Wort mehr mit dir, das kann ich dir versichern. Frau Delarue kommt mit ihrer Tochter.«
»Gut, wenn Sie mich zwingen, esse ich zu Hause, aber Freude wird keiner daran haben.«
Er blieb wirklich zum Essen daheim. Die drei Frauen rissen sich förmlich um ihn, umsorgten ihn in rührender Weise und suchten nach besten Kräften, ihm zu Gefallen zu sein. Das junge Mädchen war sehr hübsch, sehr liebenswürdig, sehr gut. Das war nicht zu bestreiten. Sie hatte auch ein kleines Vermögen zu erwarten und für jeden anderen wäre es eine sehr vernünftige und zweckmäßige Heirat gewesen.
Langsam, langsam, wie zwischen Ziegelsteinen rinnendes Wasser, begann die hartnäckige, zielbewußte Arbeit seiner Mutter in seinen Widerstand eine Bresche zu schlagen. Seine Kraft und Ausdauer konnte er nicht für die Gegenwehr aufwenden, sie waren zu etwas anderem erforderlich, er brauchte sie für das Klavier. Als einige Wochen vergangen waren, fand er den Gedanken zu heiraten gar nicht mehr so unbegreiflich. Er liebte seine Mutter von ganzem Herzen und bemerkte bestürzt, daß die vielen Sorgen um ihn die emsig arbeitende, grübelnde und sich ewig um ihn ängstigende Frau von Tag zu Tag älter machten. Wenn sich Mutter Liszt sehr aufgeregt hatte, bekam sie Gallenkrämpfe. Sie litt herzzerreißend, schluchzte und rang die Hände vor Schmerzen. Ihr Sohn stand erschüttert an ihrem Bett und mußte untätig ihren Qualen zusehen. In solchen Augenblicken überkamen ihn Gewissensbisse, und um der leidenden Mutter einen Gefallen zu tun, bemühte er sich, liebenswürdig zu Fräulein Delarue zu sein. Er ging mit ihr spazieren, und gab ihr ab und zu ein Buch zu lesen. Als der Herbst kam, war er nahe daran, sich zu ergeben. Als Ehemann würde er ein ruhiges, zurückgezogenes Leben führen, könnte sich vollständig dem Klavier widmen. Der Pomp der aristokratischen Salons würde nur als blasse Erinnerung in seiner schlummernden Seele fortleben und den unaustilgbaren Schmerz um den Verlust der Gräfin Saint-Cricq umrahmen. Mit sich selbst war er schon einig, daß er die kleine Delarue heiraten würde, wenn es sein müßte. Dann wäre wenigstens seine Mutter glücklich, wenn schon sein Glück auf ewig verloren war … Zu einem endgültigen Entschluß konnte er sich aber noch nicht durchringen. Er wartete und wußte selbst nicht worauf.
Im Oktober brachte die Post ganz unerwartet einen Brief von der Gräfin Laprunarède. Sie teilte ihm in wenigen nichtssagenden, höflichen Zeilen mit, daß sie für acht bis vierzehn Tage nach Paris komme und sich freuen würde, den hervorragenden Künstler wieder zu sehen; gleichzeitig übermittelte sie ihm eine Einladung der Herzogin Dauzat für Freitag abend.
Er ging hin. Lange schon war er nicht mehr im Salon der Herzogin gewesen. Er wurde mit großer Freude empfangen, alle seine alten Bekannten waren versammelt. Die Gräfin Laprunarède war seit dem Frühling noch schöner geworden, als hätte sie die wohltuende Frische ihres Alpenschlosses mit in die Großstadt, in die Welt der flackernden Wachskerzen, gebracht. Dem jungen Mann sprang das Herz bis an die Kehle. Eine wilde Begierde ergriff ihn, diese strahlende Frau an sich zu reißen. Da fiel ihm der liebenswürdige Graf ein, und schnell erstickte er dieses Verlangen.
»Der Graf ist nicht mit in Paris?« fragte er, nachdem sie sich begrüßt hatten.
»Nein, er läßt Sie aber wärmstens grüßen. Welche Fortschritte haben Sie inzwischen am Klavier gemacht? Erinnern Sie sich noch, worüber wir nach dem Paganini-Konzert gesprochen haben?«
»Natürlich erinnere ich mich. Ein halbes Jahr lang habe ich nichts anderes im Kopf gehabt.«
»Werden Sie mir heute abend etwas vorspielen?«
»Sehr gern.«
Er setzte sich auch ans Klavier. Ein bißchen benommen und mit angespannten Nerven. Es war die erste Gelegenheit, vor einer großen Gesellschaft zu erproben, was er in monatelangen erbitterten und verzweifelten Kämpfen erreicht hatte. Kühn begann er ein Violin-Capriccio Paganinis zu spielen.
»Was ist das?« unterbrach ihn die Herzogin, die neben der Gräfin am Klavier lehnte.
»Eine Violin-Komposition von Paganini. Aber ich will sie auf dem Klavier spielen. Ich habe sie bearbeitet. Als ob ich sie aus dem Deutschen ins Französische übersetzt hätte.«
Er begann von neuem. Es war das Capriccio, das die Militärkapelle nachahmte. Man hörte die Blechinstrumente schmettern, die Flöten schreien, die Becken klirren. Er spielte mit unheimlicher Sicherheit, und ihm schoß der seltsame Gedanke durch den Kopf, daß sein Gesichtsausdruck jetzt höchstwahrscheinlich dem Paganinis ähnlich sei und zugleich an den Hexentanz von Berlioz erinnerte und auch an das Wort, mit dem Rossini neuerdings Paganini zu bezeichnen pflegte: la terribiltà.
»Unerhört«, flüsterte zuerst die Herzogin, als er geendet hatte. Ihre Stimme bebte vor Erschütterung.
»Das ist nicht der Litz, den wir bisher gehört haben«, sagte eine andere Dame, »das ist ein ganz neuer Litz. Mir läuft es kalt über den Rücken.«
Alle waren hingerissen. Es entstand eine große Aufregung. Viele schlugen ihre Hände vor Erstaunen über dem Kopf zusammen. Franzi blickte mit glücklich strahlenden Augen um sich. Auch er sah völlig veränderte Gesichter. Auf seiner ganzen bisherigen Laufbahn war ihm solch ein Staunen noch nicht begegnet. Mit einem Male überfiel ihn aber eine lähmende Erschöpfung, wie einen, der sich nach einer endlosen Wanderung am Ziele niederläßt. Ein drängendes, fieberndes Gefühl in ihm widersetzte sich jedoch sofort dieser Schlaffheit. Noch war Unendliches zu leisten, Wochen, Monate und Jahre waren noch auszufüllen. Nur immer weiter hinauf, – bis zu den Sternen.
»Fehlt Ihnen etwas?« fragte die Gräfin erschrocken. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne.
»Nein, nichts. Danke vielmals. Ich werde in der letzten Zeit manchmal für einen Augenblick schwindelig: dizzy, wie man in London sagt. Ich kann jetzt nicht mehr spielen.«
Man fügte sich seinem Wunsche, die Unterhaltung ging auf die Literatur über. Dann sprach man von der polnischen Revolution, von den polnischen Adeligen, die jetzt nacheinander in Paris auftauchten, seit die Russen vor einigen Monaten Warschau erobert hatten. Franzi und die Gräfin suchten einander mit den Augen und saßen bald gemeinsam in einer Ecke.
»Ich bin unsagbar stolz auf Sie, denn ich war es, die Ihnen voraussagte, daß es so kommen werde.«
»Sagen Sie jetzt bitte noch nichts, Gräfin. Ich bleibe hier noch nicht stehen. Ich bin auf einem Wege, der zu unerhörten Dingen führen muß.«
Sie unterhielten sich über Musik und beschworen dann ihre Frühlings-Erinnerungen herauf. Die Gräfin schlug die Augen nieder und fragte leise, beinahe flüsternd:
»Haben Sie seit der Zeit an mich gedacht?«
»Ich habe nicht an Sie gedacht, weil ich es nicht darf.«
»Wer verbietet es Ihnen? Haben Sie eine Geliebte? Ich kann mir vorstellen, wie vielen Frauen Sie seither den Kopf verdreht haben. Ich habe sehr viel an Sie gedacht, aber es war keine Freude für mich. Sie hielten immer eine andere Frau im Arm, wenn ich an Sie dachte. Vielleicht war es auch jedesmal so? Oder war es nicht so, Herr Blaubart?«
Franzi konnte in seiner Verlegenheit nur mit der Achsel zucken. Seine Eitelkeit und seine Zurückhaltung ließen es nicht zu, dieser Frau zu gestehen, daß er noch unberührt sei. Er schwieg und errötete, als hätte er gelogen.
»Oh, wie reizend. Jetzt werden Sie auch noch rot. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Sie von den Frauen verwöhnt werden. Aber lassen wir das. Ich will Sie nicht noch eingebildeter machen. Wollen wir uns morgen wieder im Louvre treffen?«
»Sehr gerne.«
Er bereute die Zusage sofort wieder, doch nun war es schon zu spät. Am nächsten Vormittag besuchten sie zusammen den Louvre und gingen nachmittags eine Stunde lang im Bois spazieren. Und von da an trafen sie sich jeden Tag. Franzi berauschte sich an der dauernden Nähe dieser begehrenswerten Frau. Es war ihm, als ob er aus einer unendlichen Höhe hinabstürze, aber dieser Sturz war so wonnig, daß er nur in Verzückung die Augen schließen konnte. Stundenlang unterhielten sie sich. Er erzählte von seiner Kindheit, von seinen inneren Kämpfen, seinen Erinnerungen und seinem jetzigen, seltsamen Kampf mit dem Klavier. Und er erzählte ihr auch von Liline Saint-Cricq. Als die Gräfin ein ehrliches, herzliches Mitleid für ihn bezeugte, füllte sich sein Herz plötzlich mit einer wohligen Wärme und tiefen Dankbarkeit.
Er lebte in einem eigentümlichen Halbschlaf, er wollte nicht nachdenken. Wenn er allein war, schloß er die Augen und hielt sein Gesicht vorgeneigt, um es von einer unsichtbaren Sonne bescheinen zu lassen. Seine Nächte verwandelten sich wieder in wilde, tobende Träume. Auch diesen ergab er sich jetzt widerstandslos. Wie konnte er auch anders? Seit einem Jahr hatte er nicht mehr gebeichtet, seit der Juli-Revolution den Pater Bardin nicht wieder gesehen. Er fühlte, daß er mit geschlossenen Augen seinem Schicksal entgegengehe, das dunkel vor ihm lag, verlockend, geheimnisvoll, furchterregend.
Am zehnten Tage ihres Zusammenseins sagte die Gräfin:
»Ich habe mir den Wagen des Grafen Montesquiou für den ganzen Nachmittag ausgeliehen. Wollen Sie mit mir einen Ausflug machen? Dann holen Sie mich in meiner Wohnung ab.«
Franzi wußte schon, wo die Gräfin wohnte. Er hatte sie ja oft genug nach Hause begleitet. Sie bewohnte die leerstehende Wohnung ihrer Cousine, die in irgendeiner Erbangelegenheit nach Bordeaux gereist war.
»Gern, ich erwarte Sie unten«, sagte Franzi erfreut.
»Sie können auch heraufkommen. Ich möchte Ihnen sowieso mein Bildnis zeigen, das voriges Jahr gemalt worden ist. Ich habe es aber jetzt erst erworben. Hören Sie nun einmal gut zu: wenn Sie im ersten Stock angelangt sind, wenden Sie sich nach links. Gleich linker Hand ist der Eingang zur Wohnung. Die Fenster blicken nach der Straße.«
»Ich komme herauf«, sagte er mit ungestüm pochendem Herzen.
Am anderen Tage beim Mittagessen bemerkte seine Mutter, daß er in einigen Tagen zwanzig Jahre alt werde. Da müsse er sich doch endlich wegen seiner Zukunft entscheiden. Er nickte. Ja, er werde sich schon entscheiden … Dann kleidete er sich sorgfältig um und ging glattrasiert von Hause weg. Er legte den Weg fast besinnungslos zurück, zweimal wäre er fast überfahren worden. Als er endlich angelangt war, sah er verwundert, daß die Türe der Wohnung offenstand. Zögernd trat er ein. In einem halbdunklen Vorzimmer tappte er sich vorwärts, schritt durch eine Tür. Nirgends ein Lakai, nirgends eine Zofe. Er ging durch den Speisesaal und bemerkte rechter Hand eine offene Tür. Er trat ein und befand sich in einem Boudoir. In der elfenbeinfarbenen Spitzenpracht eines blauseidenen Himmelbettes lag die Gräfin. Betroffen blieb er an der Schwelle stehen und verneigte sich.
»Denken Sie, aus der Ausfahrt kann nichts werden. Ich bin sehr erkältet. Nun, wollen Sie mich nicht wenigstens begrüßen?«
Von dem aus dem Bett herausreichenden weißen Arm fiel der mit Spitzen besetzte Ärmel des Negligés bis zu den Schultern zurück. Er küßte ihr die Hand.
»Ich habe meine Zofe zur Familie Montesquiou geschickt mit dem Bescheid, daß ich den Wagen nun leider nicht benutzen könne. Haben Sie die Türe offen gefunden?«
»Ja.«
»Haben Sie sie auch wieder hinter sich geschlossen?«
»Ja.«
»Dann ist es gut. Ich bedaure, daß ich Ihnen den Nachmittag verdorben habe, ich kann aber nichts dafür. Auf alle Fälle müssen Sie mir versprechen, daß Sie von diesem … von diesem … ungewöhnlichen Empfang niemandem etwas sagen werden. Sie wissen ja, wie gern man im Faubourg Saint-Germain klatscht. Ich habe erst gestern gehört …«
Sie brach den Satz ab. Der junge Mann fiel unbeholfen auf seine Knie neben das Bett und preßte die Stirn an den Bettrand. Er hielt noch immer die Hand der Frau in der seinen.
»Was ist dir, mein Liebling?« fragte sie mit unbeschreiblich zarter Stimme.
Die andere Hand der Gräfin griff unter sein Kinn und drehte das vor Erregung blasse, von dem langen Haar umwallte Gesicht zu sich. Er hielt die Augen fest geschlossen. In seiner grenzenlosen Verlegenheit wäre es ihm unmöglich gewesen, ihr in die Augen zu sehen. So verblieben sie eine Weile. Dann – er wußte selbst nicht wie – schob sich sein Gesicht nach vorn und seine Augen öffneten sich. Ganz nahe lockte der Mund der Frau. Er neigte sich über diesen Mund und küßte ihn ungeschickt und hastig. Dann errötete er tief und erwartete, daß die ganze Welt einstürzt.
»Sie können nicht küssen, mein Liebling, nennen Sie das einen Kuß?«
»Ich habe … ich habe …« stammelte er in seiner maßlosen Verschämtheit, »noch nie in meinem Leben eine Frau geküßt.«
»O du Lieber!«
Überraschung, Anbetung, Triumph, mütterliche Zärtlichkeit und gutmütiger Spott lagen in diesem Ausruf. Ihre beiden Arme umschlangen leidenschaftlich den Nacken des jungen Mannes, und dann gehorchte sie halb ohnmächtig der Kraft der Umarmung.
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